Die Folgen der Beschleunigung
Der „Stressreport“ aus dem Haus der Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) scheint es zu belegen: Depressionen, Burn-out und Stress bestimmen den Alltag der Deutschen. Die „Müdigkeitsgesellschaft“ fragt nach dem Sinn des Veränderungstempos in Arbeit, Freizeit und Konsum.
Tempo, Tempo, Tempo – so lautete lange Zeit das Motto der modernen Welt. Alles sollte immer schneller werden: Unsere Arbeit, unsere Freizeit, unsere Kommunikation. Die Autos bekamen immer mehr PS unter die Haube, das Tempo der Bildschnitte in den Kinofilmen halbierte sich innerhalb von zwei Jahrzehnten und in neuen mobilen Kommunikationsgeräten schien der vertraute Zeitverlauf aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf das pure Jetzt, die Echtzeit zusammenzuschnurren. Auch unser Konsum beschleunigte sich weiter, was die Hersteller der Waren dadurch befeuerten, dass sie immer neue Waren oder Warenvarianten konzipierten und deren „Time-to-Market“ immer knapper bemaßen.
Doch plötzlich scheinen alle auf die Bremse treten zu wollen. Plötzlich reden alle vom Stress, den die immer schnelleren Abläufe bei Arbeit und Freizeit bereiten würden. Die Folgen der Beschleunigung sind sicht- und spürbar geworden. Depressionen und Burn-out-Syndrom machen sich als Langzeiterkrankungen im Krankenstand von öffentlichen und privaten Arbeitgebern bemerkbar. Philosophen reflektieren über die „Müdigkeitsgesellschaft“ und der Wirtschaftsteil der „Zeit“ rehabilitiert den Feierabend, also das bewusste Beenden des Arbeitstags (ohne den letzten E-Mail-Check kurz vorm Zubettgehen). Und nun hat das Thema auch die Politik erreicht – vergangene Woche hat Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) einen „Stressreport“ vorgelegt. Kurzum: Das Wort Entschleunigung scheint der erste Anwärter für das „Wort des Jahres“ 2013 zu sein.
Der Zeitpunkt ist bemerkenswert. Im Jahr fünf der Finanz- und Wirtschaftskrise scheint die Bereitschaft der Gesellschaft zu fortwährender Flexibilität aufgebraucht. Gerade zeigen die Wirtschaftsdaten wieder aufwärts, da blocken immer mehr Menschen ab und stellen die alten Mechanismen grundsätzlich infrage. Sie scheinen zunehmend am Sinn zu zweifeln, den nächsten Konjunkturzyklus durch einen neuerlichen Konsumrausch oder einen weiteren Rationalisierungsschub in der Arbeitswelt anzutreiben.
Dabei verweisen die harten Zahlen, die die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin im „Stressreport 2012“ gerade vorgelegt hat, auf den ersten Blick nicht auf eine akute Verschlechterung der Lage. Der Report, der auf einer Befragung von etwa 18 000 abhängig Beschäftigten beruht, beschreibt die psychischen Belastungen, die von den Befragten bei ihrer Arbeit empfunden werden – und die haben sich nach Aussage der Forscher seit 2006 nicht wesentlich verändert. Danach sehen sich die Beschäftigten nach wie vor häufig Multitasking (58 %), starkem Termin- und Leistungsdruck (52 %) oder ständig wiederholenden Arbeitsvorgängen (50 %) ausgesetzt.
Ingenieure: Trotz höchster psychischer Belastungen am wenigsten krank
Wobei eine „positiv herausfordernde“ Arbeit das Wohlempfinden und die Gesundheit der Arbeitnehmer weniger beeinträchtigt als Arbeiten, bei denen ein Mangel an Handlungsspielräumen, Ressourcen oder sozialer Unterstützung zu verzeichnen seien. Darum würden Ingenieure und Naturwissenschaftler trotz höchster psychischer Belastungen die wenigsten gesundheitlichen Beschwerden angeben.
Geht es beim neuen Medienthema Stress also um eine Wahrnehmungsfrage? Ist alles nicht so schlimm? Ist die Zunahme der psychischen Erkrankungen gar nicht auf die Arbeit zurückzuführen, wie BDA-Präsident Dieter Hundt meint? Und was hat sich tatsächlich verändert?
Wahrscheinlich lässt sich das Problem nicht auf Veränderungen innerhalb weniger Jahre beschränken. Beschleunigung ist seit Jahrzehnten ein Megatrend bei Arbeit, Freizeit und Konsum. Diese habe heute aber eine „Wahnsinnsgeschwindigkeit“ erreicht, wie die brandenburgische Umweltministerin Anita Tack (Linke) vor Kurzem im einem Forum des RBB-Inforadios sagte. „Ständig entstehen neue Produkte und immer muss das Bedürfnis geweckt werden, diese Produkte zu haben. Wir sind in einem Hamsterrad.“
Effizienz und Wachstum geben seit einem Vierteljahrhundert den Ton an
Das Leitbild der vergangenen 25 Jahre seien die Begriffe Effizienz und Wachstum gewesen, bestätigte bei dieser Diskussion auch der Dokumentarfilmer Florian Opitz, der sich in seinem Film „Speed“ auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“ gemacht hat (so der Untertitel des Films). „Wachstum ist also kein gesellschaftliches Ziel an sich“, meint Opitz. „Wir müssen den Mensch-Bezug zurückerobern.“ Zugenommen hat in jüngerer Zeit das Wissen über die Folgen der Beschleunigung – die individuellen Folgen für die Gesundheit, Konzentrationsfähigkeit und Lebensfreude der Einzelnen und die gesellschaftlichen Folgen, etwa den rasanten Ressourcenverbrauch.
Hinzu kommt die Alterung der Gesellschaft, die eine zunehmende Sensibilisierung für die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit erzeugt. Ältere Menschen, die unter dem Innovationstempo bei den Kommunikations- und Informationsmedien leiden, sind heute keine verschwindende (und schweigende) Minderheit mehr.
Der an der Berliner Universität der Künste tätige, aus Südkorea stammende Philosoph Byung-Chul Han sieht in der „Zeit- und Aufmerksamkeitstechnik“ Multitasking des modernen arbeitenden Menschen denn auch keinen zivilisatorischen Fortschritt, sondern einen Regress. Tiere in der freien Wildbahn seien zum Multitasking gezwungen, um zu überleben – etwa indem sie die Umgebung beobachten, während sie fressen. Die kulturelle Leistung der Menschheit sei hingegen, sich zu konzentrieren, und dieser Fortschritt sei heute bedroht. Als Kehrseite der Leistungs- und Arbeitsgesellschaft würden sich heute Erschöpfung und Müdigkeit ausbreiten – Han spricht von einer sich ausbreitenden „Müdigkeitsgesellschaft“.
Die Sinnfrage stellen
Philosophen und Soziologen wie Byung-Chul Han plädieren dafür, dass die Gesellschaft den Zeitpunkt jetzt nutzt, um den Sinn der fortlaufenden Beschleunigung grundsätzlich zu hinterfragen. Ob sie diese Option jedoch wählt und umsteuert, ist eher ungewiss. Schließlich sind nicht nur viele Wirtschaftszweige, sondern unser Wirtschaftssystem, so wie es jetzt besteht, auf raschen Umsatz und schnelle Innovationsfolgen angewiesen. Daher ist heute nur eines gewiss: Das Megathema Entschleunigung eignet sich hervorragend, um seinerseits in die Verwertungskreisläufe eingespeist zu werden. Verlagen und Autoren von Ratgeberliteratur, Wellness-Anbietern, Coaches und Consultern winken hohe Umsatzsteigerungen, genauso wie der Pharmaindustrie.
Bleibt nur zu hoffen, dass die Zukunft für sie alle nicht zu stressig wird.
Literaturtipp: Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2010, 70 S., 10 €
Ein Beitrag von: