Warum Sicherheit im Betrieb ein unterschätztes Mittel gegen den Fachkräftemangel ist
Unternehmen stehen zunehmend vor dem Problem, qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen und langfristig zu binden. Neben Gehalt und Benefits rücken dabei Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz in den Fokus junger Talente. Warum Sicherheit im Betrieb ein unterschätztes Mittel gegen den Fachkräftemangel ist und wie es richtig eingesetzt wird, verrät Arbeitsschutzprofi Stefan Ganzke im Interview.
Inwieweit beeinflusst ein starkes Sicherheits- und Gesundheitsmanagement die Entscheidung junger Talente, ein Jobangebot anzunehmen oder abzulehnen?
Die Qualität des Arbeitsschutz- und Gesundheitsmanagements hat einen immer größeren Einfluss auf die Annahme von Jobs durch junge Talente. Erfahrungen von Unternehmen zeigen, dass Bewerber in den Vorstellungsgesprächen auch nach den Unfallzahlen und Krankenständen fragen. Es wird teilweise sogar konkret nach Maßnahmen im Arbeits- und Gesundheitsschutz gefragt.
Gerade in der heutigen Zeit des Arbeitnehmermarktes haben junge Talente oftmals eine große Auswahl. Das Geld ist schon länger nicht mehr das alleinige Kriterium bei der Entscheidungsfindung. Wenn ein Arbeitgeber für die Sicherheit und Gesundheit der Bewerber nur sehr wenig unternimmt oder gerade einmal das, was rechtlich als Mindeststandard formuliert ist, gibt es definitiv andere Unternehmen, die bereits heute viel mehr tun.
Warum ist Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz für junge Talente so wichtig geworden?
Das Bewusstsein für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit ist bei den jüngeren Fachkräften tendenziell stärker vorhanden als früher und sie legen mehr Wert auf langfristige gesundheitliche Vorteile. Ein Arbeitsplatz soll nicht mehr nur der Ort zum Geldverdienen sein, sondern auch ein Ort des Wohlbefindens. Weiterhin steigen die Anforderungen durch eine höhere Medienpräsenz der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz.
Safety Mindset, Wertschätzung und psychologische Sicherheit
Welche Trends und Entwicklungen im Bereich Arbeitsschutz und Mitarbeitergesundheit sind derzeit besonders relevant für Unternehmen?
Es wird immer mehr Unternehmen bewusst, dass Investitionen in Schutzzäune und Persönliche Schutzausrüstung allein nicht ausreichen, um die heutigen Arbeitsunfälle und Krankenstände zu senken. Neben den Themen zur Reduzierung von psychischen Belastungen wird auch vermehrt am Safety Mindset, der Wertschätzung sowie der psychologischen Sicherheit gearbeitet. Es ist spürbar, dass immer mehr lernende Organisationen entstehen.
Welche spezifischen Maßnahmen können Unternehmen ergreifen, um die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz zu verbessern?
Die meisten Unternehmen investierten in der Vergangenheit viel in den technischen und organisatorischen Arbeitsschutz. Leider wurden die Menschen oftmals nicht richtig mitgenommen, weshalb Arbeitsschutz auch mal als notwendiges Übel gesehen wird. Ein klassisches Beispiel ist es, wenn die Qualität der sicheren Arbeit zwischen Tag- und Nachtschicht unterschiedlich ist, weil die Aufsicht fehlt. Deshalb braucht es eine systematische Vorgehensweise, um eine intrinsische Motivation bei den Führungskräften und Mitarbeitern zu erzielen. Es braucht Arbeit an der Haltung, es braucht die Befähigung und die Beteiligung der Menschen, um eine gelebte Arbeitsschutzorganisation zu schaffen.
Wie wirkt sich die Implementierung von umfassenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen auf die Mitarbeiterbindung aus?
Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. hat sich vor ein paar Jahren an der Ermittlung eines Return on Prevention (ROP) beteiligt. Hierbei ermittelten sie in einer größeren Umfrage, dass ein Euro Investition in den Arbeitsschutz einen ROP von Faktor 2,2 mit sich bringt. Ein Bestandteil dieser positiven Auswirkungen war die steigende Motivation der Mitarbeitenden und dadurch auch eine bessere Bindung zum Unternehmen.
Unsichere Prozesse, unzureichende Schutzmaßnahmen
Was sind die häufigsten Fehler, die Unternehmen bei der Umsetzung von Arbeitsschutzmaßnahmen machen?
Einer der häufigsten Fehler ist, dass sowohl Führungskräften als auch Mitarbeitern oftmals die Befähigung zur Planung, Gestaltung und wirksamen Umsetzung von Maßnahmen im Arbeitsschutz fehlt. Dadurch entstehen entweder unsichere Prozesse, unzureichende Schutzmaßnahmen oder gar die Delegation von möglichst vielen Aufgaben an die Fachkraft für Arbeitssicherheit. Ein zweiter Fehler ist das Entwickeln und Beschließen von Maßnahmen ohne die Beteiligung der Menschen, die diese Maßnahmen umsetzen beziehungsweise damit arbeiten müssen.
Wie können Unternehmen sicherstellen, dass Sicherheitsmaßnahmen nicht nur formale Compliance, sondern tatsächlich effektiv sind?
Die meisten Unternehmen stehen vor der Herausforderung, dass die Mehrheit der Menschen im Unternehmen eine extrinsische Motivation gegenüber dem Arbeitsschutz besitzt. Sie halten Regeln also nur ein, weil sie eingehalten werden müssen. Dann tragen sie die Schutzbrille beispielsweise nur, wenn gerade die Führungskraft oder die Fachkraft für Arbeitssicherheit an einem vorbeiläuft. Verlässt die Person die Halle, dann rutscht die Schutzbrille schnell wieder auf den Kopf.
Es braucht also eine Transformation, die wir nicht allein mit Regeln schaffen können. Es braucht ein Umdenken bei den Menschen im Unternehmen. Hier gibt es nicht die einzige Maßnahme, die alles verändert. Es sind vielmehr mehrere Maßnahmen, die mit den richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort entwickelt und umgesetzt werden müssen. Deshalb ist eine Strategie mit einem Maßnahmenplan notwendig, durch den man sowohl an der Haltung, der Befähigung und der Arbeitsschutzorganisation arbeitet. Hierbei sollte man auch verhaltensorientierte Maßnahmen nutzen, wie beispielsweise Sicherheitsrundgänge oder Sicherheitskurzgespräche, bei denen man mit systemischen Methoden arbeitet.
Einbeziehung der Mitarbeitenden in den Arbeitsschutz
Welche Rolle spielt die aktive Einbeziehung der Mitarbeiter in den Arbeitsschutz und wie kann dies umgesetzt werden?
Die aktive Einbeziehung von Mitarbeitern spielt eine wesentliche Rolle für den nachhaltigen Erfolg im Arbeitsschutz. Eine gelebte Arbeitsschutzorganisation lässt sich nicht aus dem sprichwörtlichen Elfenbeinturm entwickeln. Es braucht hierfür die Beteiligung von unterschiedlichen Funktionen im Unternehmen, von Management, über Führungskräfte bis hin zu Mitarbeitern. Um diese Beteiligung zu erreichen, bieten sich Arbeitsschutzgremien an, beispielsweise bei der Auswahl von Persönlicher Schutzausrüstung oder auch der Entwicklung eines Eskalationsprogrammes. Der Aufwand ist zwar zu Beginn etwas größer, spart allerdings im Nachgang viel Zeit durch weniger Störungen, Diskussionen und Abwehrhaltungen.
Wie können Unternehmen ihre Sicherheitsbilanz verbessern und gleichzeitig als attraktive Arbeitgeber wahrgenommen werden?
Ein erster Schritt ist der Weg zu mehr Ehrlichkeit im Umgang mit Arbeitsunfällen. Sicherlich sind 1.000 Tage ohne Arbeitsunfall auf den bekannten Anzeigetafeln schön anzusehen, doch oftmals ist die Realität dahinter trauriger. Null schwere Arbeitsunfälle sind definitiv möglich, generell null Arbeitsunfälle wohl eher weniger. Wenn nicht mal der Schnitt am Papier oder Karton passiert, wird es unglaubwürdig. Genau das spüren auch Mitarbeiter und es entwickelt sich ein negatives Bild zum Arbeitsschutz, weil es in deren Wahrnehmung nur um Kennzahlen und nicht um die Menschen geht.
Deshalb beginnt eine gute Arbeitsschutzbilanz mit einer Kennzahl, die nicht auf null Arbeitsunfälle abzielt, sondern sich eher mit der Frage befasst, was Führungskräfte und auch Mitarbeiter jeweils unternehmen, um sich den null Arbeitsunfällen zu nähern. Das können beispielsweise Kennzahlen zu Sicherheitsrundgängen, Sicherheitskurzgesprächen oder Ähnliches sein.
Wenn Erfolge vorliegen, muss natürlich auch darüber gesprochen werden. Hier braucht es mehr Marketing für einen guten Arbeitsschutz.
Welche Beispiele gibt es für Unternehmen, die durch effektive Arbeitsschutzmaßnahmen ihre Attraktivität als Arbeitgeber steigern konnten?
In der Zusammenarbeit mit über 150 mittelständischen Unternehmen und Konzernen erleben wir regelmäßig, dass eine bessere Sicherheitskultur und dadurch weniger Arbeitsunfälle dazu führen, dass Arbeitgeber seitens der Bewerber als attraktiver wahrgenommen werden.
Arbeitsschutz funktioniert, wenn er wertschätzend ist
Wie können kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) trotz begrenzter Ressourcen effektive Sicherheits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen umsetzen?
Im Wesentlichen funktioniert Arbeitsschutz, wenn er wertschätzend ist. Menschen folgen nun mal Menschen. Darum ist es wichtig, dass Führungskräfte authentisch für den Arbeitsschutz einstehen. Die genannte Wertschätzung beginnt beispielsweise schon damit, dass Verantwortliche nicht nur unsichere Verhalten tadeln, sondern auch sichere Verhaltensweisen loben.
Eine gewisse Befähigung von beispielsweise Führungskräften und Mitarbeitern ist auch für kleine und mittelständische Unternehmen rechtlich vorgeschrieben. Es braucht natürlich eine Befähigung, damit die Mitarbeiter am Ende auch die Prozesse und Strukturen im Arbeitsschutz leben. Bei der Entwicklung einfach mal Mitarbeiter einzubinden, entweder durch das Einholen der Meinung zu Prozessen oder die direkte Einbindung von Beginn an, ist hier auch durch KMU möglich.
Inwieweit können externe Berater oder Dienstleister Unternehmen bei der Umsetzung von Arbeitsschutzmaßnahmen unterstützen?
Die Unterstützung von externen Beratern oder Dienstleistern ist im Arbeitsschutz durchaus üblich. Gerade wenn es um das Thema Sicherheitskultur geht, bedienen sich Unternehmen an Externen, weil „der Prophet im eigenen Land oftmals weniger angenommen wird“ und es auch oft einfach an der Zeit fehlt, sich strategisch damit auseinanderzusetzen.
Wie können Unternehmen die Wirksamkeit ihrer Arbeitsschutzmaßnahmen regelmäßig überprüfen und anpassen?
Die Wirksamkeit von Arbeitsschutzmaßnahmen lässt sich durch Begehungen und Audits regelmäßig überprüfen. Hierbei müssen Unternehmen allerdings darauf achten, dass sie nicht nur Abweichungen dokumentieren und besprechen, sondern auch positive Entwicklungen. Eine weitere Möglichkeit, die Wirksamkeit festzustellen, sind Gespräche mit Führungskräften und Mitarbeitern und die Wahrnehmung von ihren Verhaltensweisen. Ein Tracking sollte anhand einer präventiven Kennzahl erfolgen.
Stefan Ganzke ist zusammen mit Anna Ganzke Gründer und Geschäftsführer der WandelWerker Consulting GmbH. Gemeinsam mit ihrem Team unterstützen die beiden mittelständische Unternehmen und Konzerne dabei, die Arbeitsunfälle kontinuierlich und nachhaltig zu senken sowie eine gelebte Arbeitsschutzorganisation zu entwickeln.
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