Beratung 19.10.2016, 00:00 Uhr

Digitalisierung: Ingenieur-Arbeitswelt im Wandel

Sie ist Netzaktivistin, Autorin und seit Kurzem Unternehmensgründerin: Anke Domscheit-Berg gehört zu den Frontfrauen der digitalen Szene hierzulande. Im Interview spricht sie darüber, was Ingenieure in der Arbeitswelt der Zukunft erwartet.

ingenieurkarriere: Ein Drittel der unter 30-Jährigen fürchtet durch die Digitalisierung den Job zu verlieren, sagt eine neue Studie. Panik oder Weitsicht?

Domscheit-Berg: Für Leute, die voraussichtlich noch 40 Jahre arbeiten werden, ist das eine realistische Aussage. Das heißt aber nicht, dass sie nach dem Jobverlust nie mehr eine Stelle finden. Sie müssen sich aber vielleicht neu qualifizieren.

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Zum Beispiel weiterstudieren.

Ja, wer heute 30 ist, eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen hat, sollte sich nicht der Illusion hingeben, damit ausgelernt zu haben. Es wird künftig immer wieder Phasen im Leben geben, wo Lernen oberste Priorität hat. Wo Leute für ein halbes oder ganzes Jahr aus der Arbeit aussteigen, um sich neue Kompetenzen anzueignen. Es gibt Studien, nach denen zwei Drittel aller heutigen Grundschüler später in Berufen arbeiten werden, die es heute noch gar nicht gibt. Künftig sind also auch andere Qualifikationen gefragt.

Andere Berufe werden dafür verschwinden.

Zum Beispiel der Kraftfahrer. 700 000 sind in Deutschland in dem Beruf tätig. In autonomen Fahrzeugen wird er nicht benötigt. Und diese Entwicklung erleben wir nicht nur auf der Straße sondern auch auf der Schiene, wo Lokomotivführer ausrangiert werden. Allein im Verkehrssektor werden direkt und indirekt etwa eine Million Stellen auf Sicht wegfallen.

Was heißt auf Sicht?

Wir befinden uns zu Beginn einer industriellen Revolution, die wie eine Gaußsche Kurve verläuft. Sie steigt erst sehr langsam, dann exponentiell an. An diesem Punkt stehen wir gerade. Das Tempo und das Ausmaß der Veränderung, die uns bevorsteht, wird dramatisch unterschätzt. Das Internet gibt es auch erst seit etwa 30 Jahren. Und trotzdem hat sich dadurch die Art wie wir privat kommunizieren und arbeiten bereits fundamental verändert.

Was bedeutet das für den Arbeitsmarkt?

Digitalisierung und Automatisierung werden die Arbeitsmärkte auf den Kopf stellen, die Anforderungen an unsere Bildungssysteme revolutionieren. Es wird mehr denn je darauf ankommen, dass sich Menschen andere Kompetenzen aneignen als nacktes Wissen anzuhäufen. Entscheidend wird sein immer wieder neue Fähigkeiten zu erwerben, flexibel zu reagieren, Informationen zu validieren, Dinge in ihren Kontexten zu sehen und vor allem interdisziplinär zu denken.

Warum das?

Weil es immer mehr berufliche Aufgaben gibt, die nur noch interdisziplinär gelöst werden können. Denken Sie an Roboter im Gesundheitswesen, im Labor, OP, bei Pflege und Assistenz, das ist die Zukunft. Dafür braucht es dann Menschen, die sich in medizinischen und sozialwissenschaftlichen Fragen auskennen aber auch etwas von Robotertechnik verstehen. Für diese Schnittstelle gibt es noch viel zu wenig Fachleute.
Wir haben in Deutschland zurzeit 43 Mio. Beschäftigte. Wie viele Jobs fallen weg – zum Beispiel durch 3D-Druck, Robotereinsatz, autonome Fahrzeuge?
Das kann niemand seriös beantworten. Alle Studien dazu blicken letztlich in die Glaskugel.

Aber Tendenzen zeichnen sich ab.

Ja, natürlich, es gibt auch Studien dazu. AT-Kearney spricht von 17 Mio. gefährdeten Arbeitsplätzen in Deutschland in den nächsten 20 Jahren. Ganz oben auf der Liste stehen Büroarbeiten im weitesten Sinne. Also Daten erfassen, Texte schreiben, übersetzen, Buchhaltung. Jobs im Verkauf, der Gastronomie oder in Zustelldiensten gehören auch dazu. Aber auch viele Juristen und Bankkaufleute können durch künstliche Intelligenz ersetzt werden.

Und in der Fertigung wird der 3-D-Druck Einzug halten.

Ja, wenn ein gedrucktes Auto aus 49 statt aus 5000 Teilen besteht, brauchen sie entsprechend weniger Mitarbeiter in der Montage. Beim Fahrzeugbau kommt noch hinzu, dass immer weniger Menschen ein eigenes Auto besitzen möchten. Künftig wird die Nutzung und nicht mehr das Eigentum an Fahrzeugen im Mittelpunkt stehen. 80 % aller Fahrzeuge könnten schon heute ausgemustert werden, ohne unser Mobilitätsniveau zu senken.

Gibt es unter dem Strich mehr oder weniger Jobs?

Bei den bisherigen industriellen Revolutionen war es so, dass es am Ende mindestens gleichviel, wenn nicht mehr Beschäftigung gab. Bei dem Innovationszyklus, den wir jetzt erleben, wird das anders sein. Es gibt Studien in den USA, die untersucht haben, wie viele Arbeitsplätze in den neuen Sektoren der Wirtschaft entstehen. Das waren in der 80er Jahren 8% der gesamten Beschäftigung, in den 90er Jahren 4%, in den nuller Jahren dann nur noch 0,5 %. Das heißt die Zahl der neuen Jobs nimmt deutlich ab. Zugleich fallen, wie gesagt, ganz viele traditionelle Tätigkeiten weg.

Auch für Ingenieure eine ziemlich schlechte Nachricht.

Ingenieure sitzen wie alle Mint-Berufe noch auf dem besten Platz. Allerdings gilt auch für sie, dass sich die Anforderungen rasant verändern. Ingenieure sollten also sehr wach sein, das eigene berufliche Umfeld genau beobachten. Schon im Studium sollten sie sich breit aufstellen.

Aber in der Ingenieurausbildung passiert das genaue Gegenteil. Sie wird immer spezieller, immer schmalspuriger.

Spezialisierung und interdisziplinäres Wissen sind kein Gegensatz. Beides ist wichtig. In der Softwareentwicklung etwa gibt es immer speziellere Anforderungen, auf die sich Studierende einstellen müssen. Sonst kommen sie für bestimmte Projekte nicht infrage. Langfristig ist es aber von Vorteil, sich schon im Studium breiter aufzustellen, also z.B. noch ein ganz anderes Fach dazu zu nehmen. Das verbessert die Chancen in verschiedenen Einsatzfeldern.

Wie verändern sich die Arbeitsbedingungen für Mint-Absolventen? Manche fürchten eine Armee akademischer Ich-Ags, die untereinander als Freelancer konkurrieren.

So krass dürfte es nicht kommen. Es wird aber mehr freie Mitarbeiter geben und viel mehr befristete Arbeitsverträge. Diese Tendenz zeichnet sich in vielen Unternehmen ab.

Die unbefristete Festanstellung wird zur Ausnahme?

Es spricht vieles dafür, auch bei Mint-Akademikern. Es wird einen Stamm von Festangestellten geben, die hervorragende Arbeitsbedingungen haben, tolle Kantinen, Kindergärten, betriebliche Altersvorsorge etc. Und daneben ein Heer von Beschäftigten zweiter Klasse mit Zeitverträgen. Die haben weniger Rechte und weniger Sicherheiten. Besondere Sozialleistungen und sonstige Benefits werden ihnen meist auch nicht gewährt. Dieses System findet sich heute schon bei vielen großen Unternehmen.

Hinzu kommen Freelancer, die weltweit um den Zuschlag für Projekte buhlen.

Ja, Plattformen wie freelancer.com haben schon heute 20 Mio. Mitglieder aus 250 Ländern und Regionen. Die Plattform kennt weder Mindestlohn, noch Arbeitsrecht, noch Urlaub. Für viele bietet es Chancen, für andere ist es ein Wettbewerb zu Dumpinglöhnen. Und dieses Geschäftsmodell wird sich auch im Mint-Sektor weiter verbreiten.

Sind die Staaten nicht gefordert, Mindeststandards setzen?

Natürlich. Es ist eine Aufgabe der Politik, graue Arbeitsmärkte besser zu regulieren. Sozialstandards müssen international vereinbart werden, wie es das etwa bei Kinderarbeit gibt. Aber noch geschieht da viel zu wenig. Das liegt einerseits daran, dass es in den Parlamenten an Kompetenz in Zukunftsfragen und an Problembewusstsein fehlt aber auch daran, dass solche Vereinbarungen länderübergreifend enorm schwer zu erreichen sind. Manches macht ja auch wenig Sinn, wie ein identischer Mindestlohn für Ingenieure in Deutschland und in Sierra Leone. Die Lebensverhältnisse sind einfach zu unterschiedlich.

Was können Gewerkschaften und Betriebsräte tun, um neue Formen der Ausbeutung zu verhindern?

Ich halte ja auch Vorträge bei Gewerkschaften. Wenn ich dort die Arbeitswelt der Zukunft skizziere, schaue ich meist in entsetzte Gesichter…

Für Gewerkschafter ist das ein Schreckensszenario?

Natürlich. Wer seinen Arbeitsplatz verliert, ist meist auch kein Gewerkschaftsmitglied mehr. Und Roboter streiken nicht. Crowdworker sind auch nicht organisiert. Zumindest bisher nicht. Ich kann nur hoffen, dass Gewerkschaften aktiver werden, um für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen. Hellhörig geworden sind sie inzwischen, aber viel mehr passiert noch nicht.

Klingt nicht nach einer rosigen Zukunft für Arbeitnehmer…

Ich male gar kein dystopisches Bedrohungsszenario. Ich halte auch nicht jeden Arbeitsplatz für erhaltenswert, so lange die sozialen Herausforderungen anständig gelöst werden – was ich für möglich halte. Die Zukunft bietet aber gerade im Mint-Sektor mehr Chancen denn je. Es gab nie eine bessere Zeit, um sich selbstständig zu machen. Leute, die jetzt in der Ausbildung sind, müssen sich gar nicht unter Wert als Crowdworker verdingen. Sie können auch ein eigenes Unternehmen gründen.

Weshalb gute Zeiten für Gründer?

Schauen Sie sich die Energieproduktion an. Da gabs früher drei, vier marktbeherrschende Konzerne. Die Zeiten sind vorbei. In einigen Jahren wird jedes Haus seinen Energiebedarf selbst decken. Es wird ein ganz engmaschiges dezentrales Netz geben. Nach diesem Muster werden sich auch andere große Industriezeige entwickeln. Zum Beispiel die Automobilproduktion. Da haben wir heute VW und Daimler-Benz. Künftig wird es mehr Unternehmen wie Local Motors geben, die in vielen Minifabriken für regionale Märkte ein paar tausend Fahrzeuge im Jahr produzieren. Local Motors hat schon einen Standort in Berlin.

Warum starten Newcomer durch?

Weil der Markteintritt heute viel leichter möglich ist. Man kann heute für wenige Millionen Euro eine Fahrzeugfertigung aufbauen. Vor ein paar Jahren brauchte man mindestens eine Milliarde Euro. Die Eintrittsbarrieren werden weiter sinken. Für viele Geschäftsideen braucht es keine großen Finanzmittel mehr.

Was heißt das für Großunternehmen?

Die haben schlechte Zeiten vor sich. Sie werden nicht verschwinden, aber ihre wirtschaftliche Macht wird sinken. Wenn Sie sehen, wie die großen Automobilhersteller das Thema E-Mobilität verschlafen haben, dann kann man sich nur wundern. Viele Großkonzerne erinnern mich an die Titanic. Wie deren Kapitän sehen sie den Eisberg viel zu spät. Und ihr Schiff ist zu groß, um jetzt noch umzusteuern.

Zur Person

Anke Domscheit-Berg wurde 1968 in Premnitz (Havelland) geboren. Die Tochter eines Landarztes und einer Kunsthistorikerin hält u. a. einen Master in European Business Administration. Nach Stationen bei Accenture, McKinsey und Microsoft machte sie sich 2011 als Beraterin selbstständig.
Vor wenigen Wochen gründete sie mit ihrem Mann die ViaEuropa Deutschland GmbH. Das Unternehmen engagiert sich in Kooperation mit der schwedischen ViaEuropa Sveridge SA für die schnellere Verbreitung kommunaler Glasfasernetze.

 

Ein Beitrag von:

  • Peter Schwarz

    Ressortleiter Wirtschaft bei VDI nachrichten. Fachthemen: Wirtschaftspolitik, Konjunktur, Unternehmen.

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