Digitalisierung trifft Geschichte: Wie KI den Wandel des Arbeitsmarktes sichtbar macht
Stellenanzeigen aus vergangenen Jahrhunderten bieten überraschende Einblicke in den Wandel der Arbeitswelt – und künstliche Intelligenz ermöglicht es, diese historischen Daten in nie dagewesener Präzision zu entschlüsseln. Was können uns die alten Jobangebote über die Entwicklung von Berufen und Arbeitsmarktstrukturen verraten?

Neue Fähigkeiten, neue Berufe: Wie sich der Arbeitsmarkt im Laufe der Zeit entwickelt hat.
Foto: PantherMedia / doomu
Inhaltsverzeichnis
Der Arbeitsmarkt befindet sich in einem ständigen Wandel. Berufe, die heute selbstverständlich sind, gab es vor 10 oder 15 Jahren noch nicht – insbesondere im Bereich der künstlichen Intelligenz, der Informationstechnologie oder der erneuerbaren Energien. Doch wie sah der Arbeitsmarkt vor 150 Jahren aus?
In den 1870er Jahren befand sich die Welt mitten in der industriellen Revolution. Viele Menschen arbeiteten in Fabriken, oft unter harten Bedingungen mit langen Arbeitszeiten. Die Landwirtschaft war nach wie vor einer der größten Wirtschaftszweige, doch durch neue Maschinen wie den mechanischen Pflug oder die Dreschmaschine begann sich auch hier die Arbeit zu verändern.
KI erkennt Stellenanzeigen in alten Zeitungen
Moderne Technologien ermöglichen es, den Wandel der Arbeit genauer zu untersuchen. Ein Forschungsteam der Universität Graz entwickelt eine KI, die in alten Zeitungen Stellenanzeigen erkennt und als Text ausgibt. So lassen sich Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt besser analysieren.
Um 1850 gab es etwa 100 Berufe, heute sind es dreißigmal so viele. Die KI soll in 8 Millionen Zeitungsseiten Stellenanzeigen finden und als Text ausgeben. Damit lassen sich Veränderungen in der Arbeitswelt besser erforschen.
Ein 1870er Inserat als Schlüssel zur Vergangenheit
Ein Zeitungsinserat von 1870 zeigt, wie sich der Arbeitsmarkt damals entwickelte: Eine englische Dame sucht eine Mitfahrgelegenheit nach Baden oder Ischl. Als Gegenleistung bietet sie morgens zwei Stunden Englischunterricht für ein Familienmitglied an. Dieses Inserat ist ein kleines Beispiel aus dem Forschungsprojekt der Universität Graz zur Geschichte des Arbeitsmarktes.
„In der Essenz ist ein Arbeitsmarkt das Matching, also die erfolgreiche Verknüpfung von offenen Stellen mit Arbeitssuchenden. Wir versuchen, mittels maschinengestützter optischer Zeichenerkennung seine Entwicklung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts anhand von Stellenanzeigen in deutschsprachigen österreichischen Zeitungen zu verfolgen“, sagt der Projektleiter Jörn Kleinert. Der Wissenschaftsfonds FWF fördert das Forschungsprojekt und die Entwicklung der „digitalen Augen“ in Zusammenarbeit mit der historischen Zeitungsdatenbank ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek.
Mit KI durch 8 Millionen Seiten
Im ANNO-Archiv sind acht Millionen digitalisierte Zeitungsseiten – von der „Arbeiterwille“ bis zur „Wiener Zeitung“ – mit zahlreichen Jobangeboten und -gesuchen zu finden. Um diese Anzeigen automatisch zu erkennen und in Text umzuwandeln, war die erste Herausforderung für das Forscherteam, geeignetes Übungsmaterial für einen lernenden OCR-Algorithmus zu erstellen. Dieser soll die unterschiedlich gestalteten Stellenanzeigen zuverlässig erkennen und in maschinenlesbare Texte umwandeln.
Auf dem Weg dorthin gab es viele Herausforderungen, um sicherzustellen, dass die Texte korrekt wiedergegeben werden. Stellenanzeigen sind oft kurz, manchmal stichwortartig und wurden im Laufe der Jahre sowie in verschiedenen Medien immer wieder anders gestaltet, um auffällig zu sein. Die Größe, Schriftarten wie Fraktur, aber auch Initialen oder Großbuchstaben und Zahlen können stark variieren. Für den Trainingsdatensatz wurden 35 verschiedene digitalisierte Zeitungen und Zeitschriften aus dem ANNO-Archiv der ÖNB ausgewählt.
Die Herausforderung der genauen Texterkennung
„Das OCR-Programm und die künstliche Intelligenz dahinter müssen an ganz unterschiedlichen Bildern lernen, um entsprechend genau und robust zu arbeiten. Der finale Trainingsdatensatz muss korrekt sein – daher haben wir uns im Team alle mehrfach und viele Stunden an der Prüfung beteiligt. Nur so können wir sichergehen, dass wir mit dem gleichen Prozedere das Archiv scannen und verarbeiten können“, erklärt der Volkswirt.
Ein Teil der Forschungsarbeit bestand darin, mögliche Verzerrungen in den Daten zu erkennen und verschiedene Texterkennungs- und Verarbeitungsmethoden zu vergleichen. Das bearbeitete und geprüfte Set umfasst rund 12.500 Stellenanzeigen. Zusätzlich wurden in der zweiten Aprilwoche 1870 und 1927 Stellenanzeigen aus verschiedenen Zeitungen ausgewertet. Diese beiden Datensätze mit besonders präzisen Daten werden der Forschungscommunity von der ÖNB zur Verfügung gestellt. Am Ende des Projekts erwartet das Team, etwa 1,3 Millionen Stellenanzeigen in ein maschinenlesbares Format zu überführen.
Vom „Learning by Doing“ zur Berufsdifferenzierung
Volkswirt Jörn Kleinert ist nicht nur an der technischen Entwicklung des Datensatzes interessiert, sondern auch an der Geschichte des Arbeitsmarktes in Österreich. 1870 gab es etwa 100 Berufe, und viele Menschen arbeiteten in der Landwirtschaft, wo immer es nötig war – das, was wir heute „Learning by doing“ nennen. Anfang 2022 listete die Europäische Klassifizierung für Berufe (ESCO) bereits 3.700 verschiedene Berufe auf, die durch die Kombination von rund 13.000 Fähigkeiten entstanden sind.
Kleinert erklärt, dass es vor 175 Jahren noch kein staatliches Arbeitsamt gab, diese jedoch zur Jahrhundertwende entstanden. Der Arbeitsmarkt sei auf der Mikroebene durch die Initiative vieler Akteurinnen und Akteure geschaffen worden.
Ein Teil davon waren Stellenanzeigen in Zeitungen, die oft ohne viel Planung veröffentlicht wurden. Auch Arbeitgeber und Gewerkschaften waren daran beteiligt. Zudem gab es private Vermittlungsagenturen, viele mit zweifelhaftem Ruf, sowie die sogenannte „Umschau“: Arbeitsuchende gingen montagmorgens in Fabriken, um eine Wochenstelle zu finden. Ihre Eignung zeigte sich erst vor Ort, und die Arbeitsverhältnisse waren häufig nicht von langer Dauer.
Berufsbilder im Wandel
Was Kleinert und sein Team im interdisziplinären Netzwerk „Human Factor in Digital Transformation“ begonnen haben und sie wahrscheinlich noch lange beschäftigen wird, ist die tiefere Analyse der Texte: von der Stimmung und den Verhandlungsspielräumen bis hin zu den verschiedenen Berufsbildern und Gehältern. Für einige dieser Aspekte wurden bereits kleine Auswertungsprogramme entwickelt. Ab 1880 finanzierten sich Zeitungen hauptsächlich durch Annoncen, weshalb diese besonders stark hervorgehoben wurden. Kleinert sieht die Zeitungsanzeigen daher nicht nur als einfache Datenquelle, sondern als wertvolle Grundlage für qualitative Forschung. In den geprüften Inseraten fand der Volkswirt zum einen viel Spielraum bei den Angeboten, um Interessierte anzulocken, zum anderen auch sehr spezifische Gesuche, wie zum Beispiel jemanden, der montags und mittwochnachmittags eine Tätigkeit anbietet. Berufsbilder, die es 1870 noch nicht gab, aber 1927 durchaus schon existierten, waren die Typistin mit Stenografiekenntnissen, der Bautechniker und der Elektrotechniker. Eine echte Neuerung ohne Vorläufer unter anderem Namen war 1927 der Zahntechniker.
Neue Fähigkeiten, neue Berufe
Jörn Kleinert interessiert sich dafür, wie wir von einer Welt mit wenigen Berufen zu der heutigen komplexen Situation von Arbeitsangebot und -nachfrage gekommen sind. Heute produzieren wir etwa fünfzigmal mehr als unsere Vorfahren vor 200 Jahren. Wie ist das möglich? Können wir mehr, oder liegt es eher daran, dass wir in spezialisierten Bereichen viel effizienter geworden sind?
Die verschiedenen Kenntnisse und Fähigkeiten müssen durch Job-Matching miteinander verbunden werden, und hier kommt der Arbeitsmarkt ins Spiel. Jörn Kleinert ist überzeugt, dass Volkswirt:innen, Historiker:innen und Soziolog:innen angesichts der vielen auswertbaren Informationen über den Wandel der Arbeitswelt besonders interessiert sind. Künstliche Intelligenz kann dabei technische Unterstützung leisten: „Wenn wir genau wissen, wie wir sie nutzen, kann sie uns helfen – doch ohne uns kann die Maschine gar nichts.“
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