Ernten die dümmsten Bauern die dicksten Kartoffeln?
Stellen sie sich vor, Sie besuchen ein Weiterbildungsseminar, sitzen gespannt in der ersten Reihe und freuen sich auf neues Wissen und Anregungen, um nach dem Vortrag mit dem guten Gefühl nach Hause zu gehen, das Erlernte im beruflichen Alltag umsetzen zu können.
Der Referent ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet und Ihre Erwartungen sind entsprechend groß. Doch schon bald haben Sie das Gefühl, am falschen Ort zu sein, denn Sie verstehen nichts oder zumindest fast nichts von dem, was der Referent sagt. Einerseits sind Sie total beeindruckt von seinem Vokabular und seinen rhetorischen Fähigkeiten, andererseits werden Sie immer zorniger, weil Sie viel Geld fürs Nichtverstehen bezahlt haben. Sie ärgern sich über sich selbst, stellen sich vielleicht sogar in Frage: Bin ich zu schlicht gestrickt, um an dieser Weiterbildung teilnehmen zu können? Sie schauen sich unter den anderen Teilnehmern um, die mit interessierten, ernsten Gesichtern dem Referenten an den Lippen zu hängen scheinen. Manche nicken zustimmend mit dem Kopf, alle scheinen dem Vortragenden folgen zu können, alle – nur Sie eben nicht. Ein nervöses Hüsteln hier und ein unruhiges Verändern der Sitzposition dort lassen jedoch darauf schließen, dass nicht nur Sie allein mit einer gewissen Anspannung zuhören.
„Die Qualität und Quantität subterraner Agrarprodukte steht in reziproker Relation zur geistigen Kompetenz der Produzenten“, sagt der Referent in diesem Moment. Alles klar? Sie müssen sich den Satz erst mühsam zerlegen, um darauf zu kommen, dass der kluge Mann nichts anderes gesagt hat als: Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln. Aha, und warum sagt er das nicht gleich? Wenn er der Meinung ist, dass die schlichtesten Menschen die erfolgreichsten sind, warum tut er dann alles, um den Eindruck eines hochintelligenten Menschen zu vermitteln? Passen da inhaltliche Botschaft und die Art, wie sie vermittelt wird, überhaupt zusammen?
Mit einem Mal sind Sie nicht mehr ganz so beeindruckt von diesem Herrn, der da ein Fremdwort an das andere reiht und Sie entspannen sich. Ihre eigenen Gedanken schieben sich vor die des Referenten: Warum schließen sich viele dem Trend an, alles möglichst hochgestochen und künstlich aufgebläht auszudrücken? Haben Sie verlernt, sich einfach ausdrücken? Ist es die Sorge, ansonsten nicht die gewünschte Wirkung zu erzielen? Aber, wie wirkt der Referent denn? Klug, ohne Frage, aber auch abgehoben und distanziert, nicht offen, nicht sympathisch. Will er tatsächlich informieren und motivieren oder will er sich selbst darstellen?
Die Unruhe im Raum nimmt zu und Sie kehren von Ihrem Gedankenausflug zum Referenten zurück. Rhetorisch brillant redet er ohne Punkt und Komma weiter und munter an seinen Zuhörern vorbei. Seine Botschaft, dass die dümmsten Bauern die dicksten Kartoffeln ernten, hieße ja verallgemeinert, dass die dümmsten Menschen am erfolgreichsten sind, kommt Ihnen in den Sinn. Sie gehen Ihren Bekanntenkreis durch, in dem viele Menschen einen hohen Bildungsgrad haben, und Ihnen fallen Erfolgreiche und weniger Erfolgreiche ein. Dann denken Sie an Ihren Nachbarn, der einen Lamborghini im Carport neben seiner Villa stehen hat und von dem es heißt, er hätte nur einen Hauptschulabschluß. Sie wissen nicht genau, was der Mann beruflich macht, denn er sagt nur, er sei im Handel tätig. Sehr gebildet wirkt er tatsächlich nicht, aber er versteht es, einen netten Smalltalk zu führen, und wenn er Ihnen eine Frage stellt, dann schaut er Sie an und hört Ihnen interessiert zu. Aber trotzdem, so pauschal lässt sich nicht sagen, dass die dümmsten Bauern die dicksten Kartoffeln ernten, auch wenn es tatsächlich Beispiele für diese kühne These gibt, geht es Ihnen durch den Kopf. Intelligenz allein bringt andererseits aber auch nicht den Erfolg, wenn nicht Sozialkompetenz und Intuition hinzukommen. Gab es da nicht ein Buch über die Bedeutung der emotionalen Intelligenz?
Wieder werden Sie aus Ihren Gedanken gerissen, denn ein Teilnehmer hat eine Frage an den Referenten gerichtet. „Herr Professor, was machen die dummen Bauern denn besser als wir? Das habe ich Ihrem Vortrag bislang nicht entnehmen können?“ Gespannt warten Sie auf die Antwort, aber bei den Worten: „Lassen Sie uns diese Frage noch ein wenig zurückstellen“, sind Sie abermals enttäuscht. Er geht nicht auf seine Zielgruppe ein, redet über das, was ihm wichtig ist, nicht über das, was seinem Publikum unter den Nägeln brennt. Sie verabschieden sich gedanklich erneut von seinen Ausführungen und hängen der interessanten Frage nach, was die vermeintlich dummen Bauern denn tatsächlich von den klugen unterscheidet. Ein „dummer Bauer“ würde einfach so gut er kann die an ihn gerichtete Frage beantworten. Er würde genau das tun, was in diesem Moment von ihm erwartet wird. Gradlinigkeit scheint also eines der Unterscheidungsmerkmale zu sein, sich auf das konzentrieren zu können, was gerade getan werden muss, um dann ohne Umschweife zur Tat zu schreiten.
Selbstkritisch müssen Sie konstatieren, von diesem Ideal weit entfernt zu sein. Das gefällt Ihnen nicht, also suchen Sie nach Rechtfertigungen: Der „dumme Bauer“ hat wahrscheinlich längst nicht so viele Baustellen wie Sie, ist neben dem Job nicht im Elternbeirat, nicht 1. Vorsitzender im Leichtathletikverband, nicht permanent im Flieger quer durch Europa unterwegs und muss auch keine Seminare besuchen. In Ihrer Position ist es gar nicht möglich, alles gleich zu erledigen. Es sind so viele Eventualitäten zu berücksichtigen, so viele Wenn und Aber zu bedenken – und es steht viel auf dem Spiel. Der Gedanke, wie sehr die vielen Zweifel, Sorgen um das, was dies oder jenes für die Zukunft bedeuten könnte, Sie oft dazu verleiten, nicht zu handeln, also gar nicht erst zu säen, erwischt Sie eiskalt. Wenn der Bauer denken würde: „Was bringt es, wenn ich jetzt säe, wenn möglicherweise irgendein Unwetter kommt oder ein Schädling die Saat zerstört?“ Er würde natürlich trotzdem sein Feld bestellen, da er sich erst mit einem Problem auseinandersetzen kann, wenn es aufgetreten ist. Ganz gleich, ob die dümmsten Bauern immer die dicksten Kartoffeln ernten, schließen Sie Ihre Überlegungen ab, vielleicht kann man von Ihnen mehr lernen als von Professor Oberschlau. Während Ihres Gedankenausflugs haben Sie für sich folgende Schlüsse gezogen:
- Die „Bauern mit den dicksten Kartoffeln“ sprechen eine einfache Sprache und
verzichten darauf, auf andere eine bestimmte Wirkung erzielen zu wollen. - Sie bleiben in ihrer Schlichtheit authentisch und haben ein klares Profil.
- Sie handeln einfach und gradlinig.
- Sie leben im Hier und Jetzt und konzentrieren sich immer nur auf das, was gerade
ansteht. - Sie belasten sich nicht unnötig mit (möglicherweise unrealistischen) Befürchtungen
über das, was in der Zukunft sein könnte. - Sie befolgen konsequent das Gesetz von Saat und Ernte.
- Sie denken über Probleme und deren Lösungen erst dann nach, wenn sie akut sind.
Zufrieden mit Ihren Erkenntnissen lehnen Sie sich zurück und wenden sich wieder dem Referenten zu, dessen geistige Höhenflüge aber immer noch nicht auf Bodentiefe angelangt sind. Würden die „Bauern mit den dicken Kartoffeln“ sich diesen Vortrag wohl anhören, überlegen Sie, würden sie bis zum Ende bleiben, weil sie bereits bezahlt hätten oder weil es ihnen unhöflich dem Referenten gegenüber erschiene, wenn sie einfach gingen? Nein, sie würden solche Überlegungen nicht anstellen. Sie würden denken: Blöde Weiterbildung, bringt mir nichts, ihre Tasche nehmen und gehen. Erleichtert lächeln Sie bei diesem Gedanken in sich hinein. Warum sollten Sie Ihre wertvolle Lebenszeit mit etwas vergeuden, das Ihnen nicht gefällt? Sie haben durch einen einzigen Satz viel gelernt, mehr ist aus diesem Tag nicht herauszuholen. Sie nehmen Ihre Tasche, nicken dem Referenten noch einmal zu und gehen, um sich um das zu kümmern, was wirklich wichtig ist: Das Bestellen Ihres eigenen Feldes. Jetzt sofort. Und nicht erst, nachdem Sie einen Tag lang gehört haben, welche Bauern warum am erfolgreichsten sind. Sie wollen Ihre Ernte sichern und dazu muss unbedingt noch ein bisschen an der richtigen Stelle gesät werden. Nicht theoretisch, nicht in Gedanken, sondern ganz praktisch: Saatkörner in die Hand nehmen und aufs Feld streuen.
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