„Hochleistung am Arbeitsplatz ist nicht gesund“
Wie können deutsche Automobilhersteller den Vorsprung der Japaner aufholen? Der Unternehmensberater Roland Springer setzt auf eine stärkere Standardisierung der Arbeitsabläufe, der Arbeitswissenschaftler Ekkehart Frieling auf eine größere Beteiligung der Mitarbeiter.
VDI nachrichten: Herr Springer, in Ihrem neuen Buch „Survival of the fittest“ sprechen Sie von einer Hochleistungsstrategie in der Industrie, vor allem in der Autoindustrie. Woran machen Sie das fest?
Springer: Wir haben 20 Jahre Produktivitäts- und Effizienzsteigerung hinter uns, und auf diesem Weg geht es weiter. In der Automobilindustrie gibt es weltweit mehr Wettbewerber mit niedrigeren Arbeitskosten. Pro Jahr werden Effizienzsteigerungen von 5 % bis 10 % verlangt. Um es in einem Bild auszudrücken: Die Automobilunternehmen bewegen sich inzwischen oberhalb der 6000 m im Himalaja, wo die Luft schon ziemlich dünn ist. Da sind andere Vorgehensweisen gefordert als in den Dolomiten.
Frieling: Hochleistung ist nicht gesund, das weiß jeder, der Hochleistungssport betreibt. Jedes Unternehmen, das seine Mitarbeiter zur Hochleistung auffordert, schafft Frührentner und ist auch schnell vom Markt. Gebraucht wird eine gute durchschnittliche Leistungsfähigkeit. Die Frage ist doch: Welche Produkte können mit welchen Techniken, mit welcher Organisation hergestellt werden? Das bringt Produktivitätsfortschritte und nicht, ob jemand eine Sekunde schneller arbeitet oder nicht. In vielen Montagearbeiten kommt es nicht auf die Sekunden an, sondern auf die Material- und Entwicklungskosten.
Die Belegschaften werden im Schnitt älter. Sehen die Verantwortlichen in den Unternehmen dieses Problem nicht?
Frieling: Wenn Manager und Betriebsräte überzeugt sind, dass man bei der aktuellen Taktung der Bänder von rund 60 Sekunden in der Autoindustrie nicht bis 65, geschweige bis 67 arbeiten kann, muss man sich fragen, wie man die Arbeit anders organisiert. Die Planer in den Unternehmen stehen unter dem Druck, die Effizienz zu erhöhen, aber sie realisieren keine Alternativen zu den herkömmlichen Arbeitsorganisationen.
Springer: Man kann Hochleistung zwar kritisieren und für sich ablehnen, aber Tatsache ist: Viele Unternehmen bewegen sich in diesem Bereich und müssen sich dort bewegen. Hochleistung heißt auch nicht einfach nur schnelle Arbeit. Zur Hochleistung gehört das intelligente, verschwendungsfreie und akribische Arbeiten, das Arbeiten auf hohen, auch ergonomischen Standards. Die arbeitswissenschaftlichen Kriterien für eine in diesem ganzheitlichen Sinne gute Arbeit sind noch nicht gefunden und müssen erst noch definiert werden.
Welche sind das?
Springer: Höchste Qualität und Effizienz, Bewältigung der Komplexität von Produkten und Prozessen durch permanente Prozessinstandhaltung, um das ewige Troubleshooting zu vermeiden. Wichtig ist, die Prozesse zu beherrschen und nicht von ihnen beherrscht zu werden. Die Arbeitswissenschaften, die an den Hochschulen gelehrt werden, nehmen aber von solchen Erfordernissen bedauerlicherweise zu wenig Kenntnis und lehnen Lean Management über weite Strecken ab.
Frieling: Das ist falsch. Arbeitswissenschaftler sind gezwungen, sich mit den Bedingungen in den Unternehmen auseinanderzusetzen, dazu gehört auch die Wettbewerbssituation. Aber: Wir können die Probleme nicht auf dem Rücken der Leute lösen, die an den Bändern stehen. Man muss die Produkte anders machen, die Arbeitsorganisation variieren. Dann können auch ältere Belegschaften unter normalen Bedingungen arbeiten und wettbewerbsfähige Produkte erzeugen, und das auch kostengünstig.
Herr Springer, Sie fordern, dass die Arbeitsformen sich den Realitäten anpassen müssten. Welche Realitäten sind das?
Springer: Es geht um Rückstände bei der Produktivität, teilweise auch der Qualität, nicht nur gegenüber Japan. In Deutschland haben Gruppenarbeit und kontinuierliche Verbesserungsprozesse die Produktivität wachsen lassen. Das ging, bis man Mitte der 90er-Jahre festgestellt hat, dass sich bei Produktivität und auch bei der Qualität nicht ausreichend viel bewegt hat. Die Lücken zu Toyota und anderen Herstellern sind, wie einschlägige Studien belegen, trotz erheblicher Fortschritte bis heute noch nicht geschlossen.
Frieling: Effizienzsteigerung muss man sehr kritisch sehen: Deutsche und japanische Autos unterscheiden sich. In Deutschland ist z. B. der Kabelbaum kundenspezifisch, bei Toyota gibt es Standard-Kabelbäume. Die Variabilität ist bei japanischen Autos nicht so hoch. Bei Toyota sind, zumindest nach meinen Zahlen, die Fehlerzahlen in der Türen-Vormontage vergleichbar mit den deutschen Autoherstellern. Ob die Bänder in der Autoindustrie schneller oder langsamer laufen, hat in Deutschland keine Auswirkungen auf die Fehlerzahl. Die Frage ist, ob Fehler schon in der Produktion oder erst nach Auslieferung erkannt und dann aufwendig korrigiert werden müssen.
Springer: Dass Toyota teilweise anders fertigt und dort nicht alles Gold ist, was glänzt, ist richtig. Die jüngste Rückrufaktion belegt dies ja. Toyota kommt jetzt herunter von dem Sockel, auf den es zum Teil auch zu Unrecht gestellt worden ist. Wenn man sich die vergangenen 30 Jahre ansieht, dann wird aber auch klar, dass die deutschen Autobauer von der japanischen Arbeitsphilosophie sehr viele Impulse bezogen haben – so, wie früher japanische Unternehmen zum Beispiel von deutscher Qualitätsarbeit gelernt haben.
Frieling: Es ist nicht alles toll, was bei Toyota läuft. Die Arbeitsbedingungen sind nicht alternsgerecht, es gibt keine Arbeitnehmer am Band, die älter als 40 Jahre sind. Wenn man Ältere nicht mehr effizient einsetzen kann, müssen sie weg. Ich finde es schlimm, wenn man, wie es in Deutschland oft vorkommt, sich nicht auf die eigenen Traditionen besinnt, nichts selbst entwickeln will oder kann. Heute sieht man in der Autoindustrie überall die gleichen Flipcharts und Folien von denselben Unternehmensberatern.
Warum sollen die Beschäftigten bei dieser Hochleistungsarbeit mitziehen, wenn sie zur mehr Druck führt?
Springer: Meine Erfahrung ist: Wenn es gelingt, die Prozesse beherrschbarer zu machen, hat noch kein Mitarbeiter sich gegen ihre Standardisierung gesträubt. Der Arbeitsdruck wird dadurch ja geringer und nicht höher. Die Philosophie des Lean Managements heißt: Die einfachste Arbeit ist genauso wichtig und viel wert wie jede andere. Jede Art von Arbeit verdient Respekt. Voraussetzung für Prozessbeherrschung ist unter anderem aber auch Disziplin, nicht im überkommenen Sinne von disziplinarischer Führung, sondern in der Art, wie ein professioneller Trainer seine Mannschaft dazu bringt, dass sie ihre Disziplin mit Hilfe von Standards beherrscht. Die Standards werden täglich geübt, so dass sie bei jedem Spieler sitzen und so auch ungeplante Ereignisse beherrschbar bleiben.
Frieling: Ich mache Projekte, die über mehrere Jahre laufen. Daher kann ich sagen: Durch die Standardisierung und Leistungsverdichtung haben sich die Arbeitsbedingungen über weite Strecken verschlechtert. Die körperliche Belastung ist einseitiger, es gibt keine oder weniger Spielräume, um Pausen zu machen oder Puffer zu schaffen. Damit gibt es weniger Gelegenheit, das Arbeitstempo individuell zu ändern. Das war in den alten Arbeitssystemen häufig auch schon so und ist in den neuen nicht besser geworden.
Kümmern sich Führungskräfte zu wenig um diese Probleme?
Springer: Viele mittlere und obere Führungskräfte befassen sich gar nicht mehr mit der Arbeit der Mitarbeiter. Sie wechseln oft, sind im permanenten Anlernzustand, müssen sich mit vielen anderen Dingen beschäftigen. Die einzigen, die die Prozesse kennen, sind die Mitarbeiter und Meister, meist noch die Betriebsräte. Wenn neue Prozesse zum Laufen gebracht worden sind, und die externen Prozessinstandhalter (Berater) den Betrieb wieder verlassen, fallen die Verbesserungen oft wieder in sich zusammen.
Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit neue Arbeitskonzepte erfolgreich eingeführt werden können?
Frieling: Man muss Mitarbeiter wertschätzen, sie beteiligen und gemeinsam mit ihnen Prozesse entwickeln. Es gibt immer noch die Vorstellung, man könne Organisationskonzepte monatelang in Gremien von Managern erarbeiten lassen und dann den Betriebsrat zwei Stunden damit konfrontieren und ihn auffordern, das gut zu finden. Da fragen sich die Mitarbeiter, warum Manager sechs Monate brauchen, bis sie dieses Konzept verstanden und verinnerlicht haben und die Mitarbeiter müssen das in zwei Stunden oder in einem Workshop von zwei Tagen schaffen.
Springer: Flexible Standardisierung, wie ich sie verstehe, geht nicht ohne das Know-how und die Akzeptanz der Mitarbeiter. Es kann nicht alles nur unter Effizienzaspekten gestaltet werden, sondern es muss möglich sein, dass die Mitarbeiter auch lange an solchen Arbeitsplätzen beschäftigt sein können. Aber es gibt einen Zielkonflikt zwischen der Beteiligung der Arbeitnehmer bei der Einführung neuer Arbeitsorganisationen und den Kosten dieser Beteiligung. Außerdem brauchen die Unternehmen einen kulturellen Wandel, um solche Prozesse einzuleiten. Der muss von den Führungskräften angestoßen werden, die ihre Mitarbeiter auch in dem Sinne (um-)erziehen müssen, wie ein Fußballtrainer einen einzelnen Spieler (um-)erzieht, bei dem sich falsche Standards eingeschliffen haben.
Frieling: Von Erziehung sollte man nicht sprechen. Man muss unterscheiden zwischen Erziehung, die jungen Menschen eine Weltsicht vermittelt, und der Vermittlung von Kompetenzen und Abläufen, die im Gehirn verankert werden, um bestimmte Standards einzuhalten. Was ist in den Unternehmen passiert, ist Modelllernen, aber keine Umerziehung.
Springer: Aber in jedem Unternehmen findet laufend Wertebildung und Verhaltenswandel statt, gewollt oder ungewollt, nicht nur bei Auszubildenden, sondern auch bei Erwachsenen. Der Prozess der ständigen Veränderung ist nicht nur ein Prozess des lebenslangen Lernens, sondern auch ein Prozess der lebenslangen (Um-)Erziehung, in dem die Führungskräfte als Vorgesetzte eine tragende Rolle spielen.
Frieling: In jeder Organisation werden Werte vermittelt, aber die muss man ja nicht akzeptieren. Wer Rückgrat hat, kann auch Distanz halten zu dem, was in den Unternehmen passiert. Das ist auch meine Kritik an der unkritischen Kopiererei von Produktionssystemen wie dem von Toyota: Es ist eine Ideologie, die, vom Vorstand diktiert, bis zum letzten Bandarbeiter heruntergebrochen wird. Dabei wird übersehen, dass die Belegschaft dank besserer Ausbildung intelligenter geworden ist. Qualifikationen werden aber nicht abgefragt und weiter entwickelt. Weiterbildung gibt es vor allem für das Management.
Ist selbst bestimmte Arbeit, z. B. in einer Gruppe, obsolet geworden?
Springer: Nicht nur in der Autoindustrie hat sich Gruppenarbeit, wie man sie aus den frühen 90er-Jahren kennt, überlebt. Die hatte sich stark an den Prinzipien der teilautonomen Gruppenarbeit orientiert, an den Ansätzen der Humanisierung der Arbeit wie Job-Enrichment, Job-Enlargement, Job-Rotation und den selbst gewählten Gruppensprechern. Im Vordergrund stand das Konzept der Leistungsmotivation durch Selbstorganisation bei schwacher (Selbst-)Disziplin, nicht das Konzept flexibler Standardisierung komplexer Prozesse mit starker (Selbst-)Disziplin. Beiden gemeinsam ist freilich die Beteiligung der Mitarbeiter an der Prozessgestaltung.
Frieling: Man muss unterscheiden. Bei manchen Autoherstellern ist Gruppenarbeit stärker verbreitet und lebt, bei anderen weniger. Dass sie obsolet geworden ist, sehe ich nicht. Ich vermute, dass sie in den nächsten Jahren wieder verstärkt wird, das belegt der Tarifvertrag zur Gruppenarbeit bei VW.
Springer: Seit den 90er-Jahren hat sich die Arbeitsorganisation weiterentwickelt, vor allem durch die anhaltende Verschärfung des internationalen Wettbewerbs und die zunehmende Produkt- und Prozesskomplexität. Viele Unternehmen setzen seither auf Teamarbeit. Die hat allerdings nur dann eine Perspektive, wenn sie als Grundlage flexibler Standardisierung betrieben wird.
Frieling: In den Betrieben hat Gruppenarbeit häufig eine ideologische Komponente. Bei diesem Wort schwingt oft die Angst vor Basisdemokratie mit. Heute spricht man deshalb lieber von Teamarbeit, das klingt neutraler. Die Kriterien zur Beschreibung sind aber dieselben wie bei der Gruppenarbeit, z. B. Gruppengespräche pro Woche, für die Mitarbeiter freigestellt werden müssen, oder der Einsatz eines Gruppensprechers. HARTMUT STEIGER
Roland Springer: Survival of the Fittest. So verbessern Spitzenunternehmen mit Lean Management gleichzeitig ihre Prozesse und ihre Führungskultur. Finanzbuch Verlag, München 2009. 336 S., 34,90 €
Ekkehart Frieling/Karlheinz Sonntag: Lehrbuch Arbeitspsychologie. Huber Verlag, Bern 1999. 564 S., 49,95 €. Diese mittlerweile vergriffene Auflage ist noch als e-book über den Verlag erhältlich. Eine erweiterte Neuauflage soll demnächst erscheinen.
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