Heiko Mell 01.01.2016, 09:33 Uhr

Fachkraft oder Führungkraft?

Ich bin 26, habe vor zwei Jahren mein TU-Studium nach acht Semestern mit 1,3 beendet. Seitdem arbeite ich im F+E-Bereich einer Konzerntochter. Meine Arbeit dort ist sehr anspruchsvoll und macht mir größten Spaß. Aufgrund des hohen wissenschaftlichen Niveaus kann ich die erzielten Ergebnisse für eine Dissertation verwenden, an der ich parallel arbeite.

Mein Problem: In Ihren bisherigen Beiträgen zu den Spielregeln unseres Arbeitssystems wurde deutlich dargestellt, dass der „normale“ Weg für einen entsprechend qualifizierten Mitarbeiter darin besteht, im Laufe seines Arbeitslebens ein zunehmendes Maß an Verantwortung zu übernehmen. Dies äußert sich durch das Aufsteigen in den Hierarchieebenen und der damit ansteigenden Zahl der unterstellten Mitarbeiter. Ebenso haben Sie dargestellt, dass genau dies auch der Wunsch eines solchen Mitarbeiters sein sollte.

Nun konnte ich beobachten, wie sich der Arbeitsalltag von Kollegen, die in ihre erste Führungsposition mit Verantwortung für kleine Teams befördert wurden, verändert hat. Ich würde mir zwar durchaus zutrauen, auch diesen veränderten Anforderungen mit einem Schwergewicht auf Organisation und Management gerecht zu werden. Aber diese neue Tätigkeit würde mir deutlich weniger liegen als meine bisherige Aufgabe.

Des weiteren bin ich mir sicher, dass ich als Führungskraft leichter zu ersetzen wäre als in meinem Fachbereich. Meine Fragen:

1. Da jeder Vorgesetzte auch Mitarbeiter braucht, kann rein statistisch nicht jeder im Laufe seines Berufslebens zu Führungsverantwortung aufsteigen. Sind die anderen alle nur die, „die es zu nichts gebracht haben“?

2. Können Firmen es sich eigentlich leisten, gerade diejenigen aus ihrer Facharbeit herauszureißen, die diese bisher am besten erledigt haben und deren Know-how über Jahre aufgebaut wurde?

3. Welche Entwicklungsmöglichkeiten ergeben sich dann für jemand, der seine Stärken in der effizienten Lösung fachlicher Probleme sieht?

4. Spielt Freude an der Arbeit einfach keine Rolle? Wobei doch ein motivierter Mitarbeiter deutlich produktiver für die Firma ist als ein unmotivierter.

Antwort:

Sie sind in einem Industrieunternehmen tätig – und Ihre Aussagen zielen darauf ab, dass Sie diesen Weg auch weiterhin beschreiten wollen. Es ist immer empfehlenswert, sich die Frage zu stellen, was Ihre arbeitgebende Institution eigentlich will, was deren zentrale Zielsetzung ist.

Nun, ein Industrieunternehmen wird in erster Linie gegründet und später fortgeführt, um für das eingesetzte Kapital der Gesellschafter eine Rendite zu erwirtschaften, die möglichst höher ist als die einer üblichen Bankeinlage. Auf dem Weg zu diesem Ziel entwickelt, produziert und verkauft das Unternehmen – als Mittel zum Zweck – Produkte, auf die es dann weitgehend festgelegt ist.

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Alle diese Funktionen im Unternehmen werden von angestellten Mitarbeiter ausgeführt. Diese entlohnt die Firma – wobei sie sehr bestrebt ist, die Kosten so niedrig wie irgend möglich zu halten (weil sie die Rendite reduzieren). Wenn sie also für irgendetwas viel Geld ausgibt, dann ist ihr das wichtiger als etwas, für das sie weniger zahlt. Das klingt wie Wirtschaftswissenschaft für Anfänger, ist aber die innerbetriebliche Plattform für meine Zentralaussage:

Unternehmen zahlen Inhabern von Führungspositionen deutlich höhere Gehälter als Mitarbeitern mit reinen Fachaufgaben. Es ist erlaubt, daraus auf die Wichtigkeit/Bedeutung der entsprechenden Positionsinhaber in den Augen der maßgeblichen Institutionen der Firmen zu schließen. Anders ausgedrückt: Fachleute sind sehr wichtig, Führungskräfte sind noch wichtiger – denn sie steuern und kontrollieren ja die Arbeit mehrerer wichtiger Fachleute, setzen ihnen Ziele, werben sie an, stellen sie ein.

Das bedeutet: Wenn ein Akademiker tatsächlich lieber 40 Jahre lang anspruchsvoll fachlich arbeiten und nicht führen will, dann muss die Industrie für ihn nicht das einzig richtige berufliche Umfeld sein. Dort ist ein System installiert, das nach Prinzipien funktioniert, die ihm vermutlich weniger liegen.

Nun zu Ihrer Situation: Sie sind noch sehr jung, stecken derzeit „bis zum Hals“ in Ihrer Dissertation. Dort geht es nur um fachliche Probleme. Auch im gerade erst absolvierten Studium ging es nur darum, Ihre Professoren denken fast nur in diesen Kategorien. Ihr Umfeld wird sich jedoch wandeln, bisherige Einflussfaktoren entschwinden, neue treten hinzu. Und Ihre Persönlichkeit verändert sich laufend, damit auch Ihre Ansprüche. Bedenken Sie, dass Sie jene erwähnten Berufsjahrzehnte vor sich haben. Das ist so lange wie vom Friedensjahr im Kaiserreich 1912 über zwei Weltkriege bis 1952. Wer wollte sagen, er könnte eine solche Umwälzung überleben und mit seinen Zielen, Wünschen und Hoffnungen derselbe bleiben? Wobei 40 Jahre auch ohne zwei Weltkriege eine sehr lange Zeit sind.

Daher lautet mein zentraler Rat an Sie: Warten Sie ab, beobachten Sie sich und die allgemeine Entwicklung, aber schlagen Sie jetzt keine Tür zu, durch die Sie eines Tages vielleicht gehen möchten.

Denn es ist etwas anderes, in Ihrem heutigen Alter nicht führen zu wollen als etwa mit 43! Dann nämlich haben Sie vielleicht einen 10 Jahre jüngeren Chef – der viel weniger Erfahrung hat als Sie, von Ihrem Fachgebiet viel weniger versteht, dafür aber Ihre Entwicklungsziele vorgibt, deren Erreichung kontrolliert, Ihr Gehalt entscheidend bestimmt und dessen Unterschrift Sie zwingend brauchen, um handeln zu können.

Hervorragend ausgebildete (Einser-Leute, wie Sie) Nur-Fachleute im fortgeschrittenen Alter können der Schrecken ihrer (zwangsläufig) jüngeren Vorgesetzten sein. Und sie (diese Fachleute) müssen immer nur Weisungen und Vorgaben von in ihren Augen immer unfähigeren Chefs ausführen. Aber an den zentralen Weichenstellungen wie den Führungskonferenzen, auf denen Entscheidungen fallen, sind sie nicht beteiligt. Das ist ein sehr guter Nährboden für Frustrationen – seien Sie zumindest gewarnt.

Die Unternehmen wissen das natürlich alles auch. Kleinere haben kaum die Möglichkeit, etwas dagegen zu tun – die Forderungen des Tagesgeschäfts und die insgesamt geringe „Manövriermasse“ stehen dagegen. Aber manches Großunternehmen hat sich Gedanken gemacht und die „Fachlaufbahn“ geboren. Mit „Beförderungen ohne Führungsaufgaben“. Man wird z. B. Spezialist, bei Bewährung und wachsendem Fachwissen dann 1. Spezialist, später vielleicht Haupt- oder leitender Fachmann, stets ohne Personalführung. Aber das Gehalt, die Büroausstattung etc. wachsen mit – völlig parallel zu den ehemaligen Kollegen, die klassische Führungsaufgaben übernehmen. Damit geht das Unternehmen auf hochqualifizierte Mitarbeiter ein, die etwa so denken wie Sie es hier zum Ausdruck bringen. Und verhindert deren Abwanderung.

Die Geschichte hat einen ganz entscheidenden Nachteil: Wenn Sie dann z. B. mit 40 als Top-Spezialist das Gehalt eines Abteilungsleiters haben – sitzen Sie im „goldenen Käfig“. Wird dann ein Arbeitgeberwechsel erwünscht oder unausweichlich, gibt es kaum jemanden, der mit einem so ausgestatteten Bewerber etwas anfangen kann (für den Job zu teuer, für das Gehalt fehlt Führungserfahrung).

Wobei Führung aber nicht einfach eine Frage des Wollens ist, man muss auch können! Und man darf niemals jemanden zur Mitarbeiterführung überreden (das ist auch nicht mein Anliegen) oder gar zwingen, der das nicht kann. Das hätte fatale Folgen. Aber beispielsweise zunächst Angst vor oder extreme Abneigung gegen etwas zu haben, beweist nicht, dass man es nicht kann, ebenso wie starkes Wollen nicht beweist, dass man kann! Die Sache ist kompliziert – und oft kommt der Appetit beim Essen, beispielsweise bei längerer Berufstätigkeit.

Zu Ihren konkreten Fragen:

Zu 1: Das ist doch ein reines Defensiv-Argument! Sie brauchen sich nicht die Köpfe anderer Leute zu zerbrechen. Meinen Sie, jemand gibt seinen Traum, reich zu werden, nur deshalb auf, weil ihm dämmert, dass das ja nicht jeder werden kann (geht wegen der Definition von „reich“ nicht)? Oder bekommt der Sportler vor seinem Olympiasieg Gewissensbisse, weil er kurz davor steht, die anderen zu Verlierern zu stempeln? Oder hatten Sie etwa Bedenken, auf ein Einser-Examen hinzuarbeiten, obwohl man damit ja vielen 3,x-Leuten (und ihren Vätern!) so richtig zeigt, was eine Harke ist?

Sie wollen forschen. Dann wollen Sie auch publizieren. Ist Ihnen klar, dass jedes Ihrer „Ich habe etwas entdeckt“ auch gegenüber den anderen Fachleuten bedeutet „und ihr eben nicht“? Und stört Sie das etwa? Sie leben in einer Ellbogengesellschaft – wachen Sie auf. Sie führen entweder auch oder Sie werden nur geführt. Es ist grundsätzlich Ihre Entscheidung.

 

Zu 2: Wer eine Entwicklungsabteilung leitet, gilt als noch wichtiger als derjenige, der in dieser Abteilung im Detail entwickelt. Übrigens befördert man die meisten Leute als Auszeichnung, mit der man ihnen einen Herzenswunsch erfüllt und ihr Wissen und ihre Fähigkeiten gleichzeitig der Firma erhält. Viel schlimmer wäre es, sie wechselten zum Wettbewerb – eben weil sie nicht mit 56 noch tun wollen, was sie schon mit 26 taten.

 

Zu 3: Ich sehe in der Industrie nur die in einigen(!) Großbetrieben etablierte, oben umrissene Fachlaufbahn, eventuell noch reine Projektleiterfunktionen (die aber bereits viele Managementkomponenten enthalten). Natürlich bieten auch moderne (Matrix-)Strukturen oft interessante Zwischenlösungen, aber es bleibt dabei: In der Industrie spielt die „Musik“ in der Führungsebene. Aber der Hochschulprofessor könnte eine Alternative sein.

 

Zu 4: Niemand wird Sie gegen Ihren erklärten Willen befördern. Sie können berufslebenslang bleiben, wo Sie sind. Aber genau das macht ambitionierten Menschen eigentlich keine Freude. Im Normalfall ist ein frisch beförderter Mitarbeiter doppelt so motiviert wie zuvor, nicht etwa halb.

 

Fazit: Nur keine Panik, warten Sie einfach ein paar Jahre ab. Bis dahin kann Ihnen nichts geschehen. Und bedenken Sie: Ihre Frage ging an den Autor einer Karriereberatung.

Kurzantwort:

Industrieunternehmen sind grundsätzlich so aufgebaut, dass die wichtigen Weichenstellungen vom Management ausgehen – von Mitarbeitern, die es reizvoll finden, ständig mehr an Sach- und Personalverantwortung zu übernehmen.

Frage-Nr.: 1587
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 22
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2001-06-01

Ein Beitrag von:

  • Heiko Mell

    Heiko Mell ist Karriereberater, Buchautor und freier Mitarbeiter der VDI nachrichten. Er verantwortet die Serie Karriereberatung innerhalb der VDI nachrichten.  Hier auf ingenieur.de haben wir ihm eine eigene Kategorie gewidmet.

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