Soll ich als Berufseinstieg einen großen Konzern oder einen mittelständischen Betrieb wählen?
Soll ich als Berufseinstieg einen großen Konzern oder einen mittelständischen Betrieb wählen? Wo liegen die Unterschiede?
Antwort:
Zunächst eine „Weisheit“, die auch in anderen Lebensbereichen und insbesondere auf dem Sektor Berufswegplanung gilt: Dies ist ein „offenes System“. Jede offerierte Lösung muss sich im Wettbewerb mit anderen behaupten; kann sie das nicht, verschwindet sie von der Bildfläche.Daraus folgt: Was als Variante existiert, muss auch spezifische Vorteile haben, kann also nicht pauschal „schlecht“ sein. Es ist lediglich denkbar, dass Variante A den individuellen Gegebenheiten und Ansprüchen einer bestimmten Person deutlich besser entspricht als Variante B. Aber niemals wäre beispielsweise die absolute Aussage erlaubt: „Es ist generell besser, im …-Betrieb anzufangen.“Das wiederum heißt: Wenn man jemandem einen Rat geben will, welche Variante er wählen soll, müsste man eine Menge über ihn wissen – von seinen Zielen, seinen Ansprüchen bis hin zu seiner Persönlichkeitsstruktur. Da das im vorliegenden Fall nicht gegeben ist, hier der Versuch, pauschal Besonderheiten beider Möglichkeiten als generelle Entscheidungshilfe aufzulisten.Wobei auch gesagt werden muss: Konzerne ähneln sich untereinander, wenn es auch dabei noch so manche individuelle Besonderheit gibt (z. B. geprägt durch das Land, aus dem die Kapitaleigner kommen, durch die Branche, die Produktstruktur, die wirtschaftliche Situation des Unternehmens). Aber mittelständische Firmen sind untereinander recht verschieden – kleine Einheiten werden schneller und leichter geprägt durch die Person an der Spitze als große. Ist dieser „Präger“ gar der Inhaber, gilt das doppelt und dreifach (weil seine Macht größer bis uneingeschränkt ist).Schließlich kann das Schicksal eines einzelnen Menschen (z. B. eines unserer Leser) durch zufällig gegebene Details so entscheidend geprägt werden, dass es einen völlig atypischen Verlauf nimmt. Aber von jeweils hundert oder tausend Menschen wird ein hoher Teil doch überwiegend „Typisches“ erleben. Und natürlich gibt es zu jeder Regel die bestätigenden Ausnahmen.In diesem Sinne:1. Bei Arbeitgeberwechseln, die im Laufe des Berufslebens geplant oder plötzlich fällig werden, funktioniert ein Abstieg in der Firmengröße sehr gut, ein deutlicher Aufstieg jedoch kaum bis gar nicht: Ein größerer Arbeitgeber im Lebenslauf „imponiert“ dem kleineren Bewerbungsempfänger, umgekehrt tritt das Gegenteil ein. Außerdem stellen viele Konzerne praktisch gar keine Seiteneinsteiger mehr ein, nehmen also generell keine Abteilungsleiter von „draußen“.Wer also weiß (klare Zielsetzung), dass er eines Tages Bereichsleiter oder Vorstand im Konzern werden will, muss praktisch sofort nach Studienende in einem Konzern anfangen.2. Der Konzern, insbesondere der mit einem Top-Image, übt einen Sog auf hochqualifizierte Berufseinsteiger aus. Er kann also wählen – und das tut er denn auch.Folge A: Nicht jedem würde die Empfehlung nützen, im Konzern anzufangen – die nehmen dort nur eine „elitäre“ (das Wort wird niemals benutzt!) Auswahl. Ein paar Jahre zu alt, ein paar Semester zu viel, ein paar Monate Auslandstouch im Studium zu wenig, ein paar Zehntelnoten im Examen unterhalb der dort geltenden Ideallinie können das Aus bedeuten. Der Mittelstand prüft individueller, vom jeweiligen Fachvorgesetzten geprägt, arbeitet weniger mit Standards, ist z. T. auch zu größerer Toleranz gezwungen.Folge B: In denjenigen Abteilungen der Konzerne, die Anfänger einstellen, tummeln sich dann viele junge, besonders gute und ziemlich ehrgeizige Leute. Die alle muss jemand hinter sich lassen, bevor er befördert werden kann! Im Mittelstand sind zwar im einzelnen Unternehmen die Chancen zwangsläufig geringer (Anzahl möglicher Aufstiegspositionen), aber für den „guten“, ehrgeizigen, jungen Akademiker sind auch weniger hochqualifizierte Wettbewerber um eine Aufstiegsposition vorhanden.3. Der Einstieg im Großunternehmen mag durchaus Vorteile haben, setzt aber voraus, dass man sich dort erfolgreich „schlägt“ und eines Tages mit sehr gutem Zeugnis abgeht. Eine kritische Beurteilung durch einen Konzern schwebt wie in Marmor gemeißelt über dem Mitarbeiter, sie gilt als eine absolute Aussage, kommt sie doch von der XY AG. Demgegenüber ist die schlechte Wertung der Müller & Sohn KG eventuell auf die Marotten des Herrn Müller senior zurückzuführen, der grundsätzlich keine besseren Noten als „ausreichend“ verteilt – und stolz ist, in seinem ganzen Leben noch kein Buch über Zeugnisschreibung in die Hand genommen zu haben. Jawoll! (Der aber auch einen jungen Anfänger, den er mag, über das übliche Maß hinaus fördern kann. Und auch jawoll.)4. Der Anfänger in den ersten drei bis fünf Berufsjahren bewegt im Konzern so gut wie gar nichts, hinterlässt kaum irgendwelche Spuren, darf nichts entscheiden, ist austauschbar, sein Eintreten und Ausscheiden hinterlässt die gleiche Wirkung wie ein Stein, den Sie in den Bodensee werfen und drei Jahre später wieder herausholen.Im Mittelstand kann(!) dieser Anfänger sich nach kurzer Zeit in enger Nähe zu hochrangigen Entscheidungsträgern wiederfinden, kann Prozesse maßgeblich gestalten, Zeichen setzen, Einfluss gewinnen.In beiden Fällen ist er Rädchen im Getriebe. Aber im Konzern ist das Getriebe so groß, dass das „Rädchen“ nicht mehr überblickt, was seine Drehung eigentlich am Ende bewirkt und warum es sich gerade in diese Richtung bewegt. Im Mittelstand ist das Gesamtgetriebe kleiner, hat insgesamt weniger „Rädchen“ und ist dadurch überschaubarer.5. Der Konzern ist eine Großorganisation – mit allen typischen Besonderheiten: groß, unbeweglich, bürokratisch, hierarchisch denkend, nicht immer wird „unten“ verstanden, warum „die da oben“ jetzt dieses und jenes verfügt haben etc. Wer in seinem bisherigen Werdegang bereits „Schwierigkeiten“ mit Autoritätspersonen, mit einem gewissen Bürokratismus und mit der Akzeptanz hierarchischer Strukturen hatte, ist erfahrungsgemäß zur Vorsicht aufgerufen, ob dieses Umfeld zu ihm passt. Warnsignale sind: mehrfache Probleme mit Lehrern, Professoren, Vorgesetzten, mit der Bundeswehr etc.Sogar die Belegschaft (Mitarbeiter wie Vorgesetzte) ist im Konzern eher von einem grundsätzlich vergleichbaren Typ. Kein Wunder, alle haben bei der Einstellung denselben Normen unterlegen.6. Das mittelständische Unternehmen ist demgegenüber keineswegs das Nirwana. Es gibt durchaus Vertreter dieser Kategorie, die in einigen Aspekten noch „schlimmere“ Besonderheiten zeigen, aber hier herrscht individuelle Vielfalt gerade beim Personal auf allen Ebenen. Die Strukturen sind von Firma zu Firma anders, eben individueller. Bei Konzernen hingegen gilt grundsätzlich: Wer einen kennt, kennt alle. Beim Mittelstand gilt das absolut nicht.7. Generell ist damit zu rechnen, dass der junge Mitarbeiter im Konzern auf einem recht engen Spezialgebiet tätig ist – und von Nachbarbereichen am besten die Finger lässt. Seit Jahren fahre ich beispielsweise Autos aus ziemlich großen Konzernen. Gelegentlich tauchen Ingenieure von dort im Vorstellungs- oder Karriereberatungsgespräch auf. Dann versuche ich, meine Kritik am bzw. meine Anregungen zum Produkt zu diskutieren. Spontan kommt: „Damit habe ich nichts zu tun, das ist Sache des …bereichs.“ Und nie denkt mein Gesprächspartner daran, etwa anschließend das Gespräch mit den Zuständigen zu suchen und denen von den „Anregungen eines Kunden“ zu berichten. Wer Konzerne kennt, würde nicht einmal über die Idee lächeln …Im Mittelstand ist jeder Mitarbeiter näher am Gesamtergebnis des gemeinsamen Tuns dran, die Kontakte sind enger, der Überblick ist besser, die Verbundenheit mit dem Produkt (nicht nur mit dem, was die eigene Abteilung dazu beiträgt) ist größer. Und das Fachwissen wird breiter, schließt schneller benachbarte und fremde Bereiche ein.8. Dafür hat generell der Konzern stets die modernsten Methoden in Anwendung, ist meist in Sachen Schulung/Weiterbildung der Mitarbeiter engagierter. Das dort zu vermutende Detail-Fachwissen von Bewerbern gilt als gegeben, Kandidaten aus dem Mittelstand müssen beweisen, dass sie etwas können auf ihrem Gebiet – ihr (meist unbekannter) Arbeitgeber könnte ja zweitklassig sein, gerade auf diesem Sektor.9. Wir alle sind irgendwo auch eitel. Es macht Spaß, Freunden, Ex-Kommilitonen und Schwiegermüttern zu erzählen, man sei bei der weltberühmten XY AG tätig. Der Hinweis auf Müller & Tochter in der Provinz des Voralpenlandes erweckt da deutlich weniger Bewunderung. Man unterschätze diesen Aspekt nicht.10. Karriere im Konzern geht über viele Jahre auch ohne Arbeitgeberwechsel. Dort gibt es zahlreiche generelle Chancen, so dass nicht befördert worden zu sein (in angemessener Zeit) eine Art Erklärungsnotstand hervorruft.Im Mittelstand gilt von vornherein: Dass im Hause eine in die Laufbahn hineinpassende Aufstiegsposition vorhanden und zum richtigen Zeitpunkt frei ist, darf nicht erwartet werden, wäre reiner Zufall: Aufstieg heißt dort meist Arbeitgeberwechsel.Umzugsbereitschaft ist in beiden Fällen Voraussetzung: Konzerne versetzen ihre Mitarbeiter gern über Standortgrenzen hinweg.So, geehrter Einsender, nun wissen Sie, warum es auf Ihre – oft gestellte Frage – keine pauschale Antwort geben kann. Arbeiten Sie die Punkte durch – und treffen Sie dann Ihre individuelle Entscheidung.
Kurzantwort:
Auf die Frage nach dem idealen Unternehmenstyp für den Berufseinstieg gibt es keine pauschale Antwort. Hier hilft nur das Ringen um eine der eigenen Persönlichkeit und den individuellen Ansprüchen entsprechende Lösung.
Frage-Nr.: 1679
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 25
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2002-06-20
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