Habe ich ohne Studium und Titel Chancen?
Für mich, ohne akademischen Titel, ist es immer wieder eine Genugtuung zu sehen, auf welchem Niveau sich ein Teil meiner „Gegenspieler“ bzw. Mitbewerber bewegt. Man kann das aus den Einsendungen sowie auch aus Ihren Antworten ableiten.
So stellt sich mir die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Verantwortlichen in Industrie und Wirtschaft bereit sind, bei der Besetzung von verantwortlichen Führungspositionen von dem akademischen Titel als zwingender Grundvoraussetzung abzugehen.
Nach mehreren Jahren an verantwortlichen Stellen in verschiedenen Bereichen der industriellen Fertigung schaffe ich es trotz guter Arbeitszeugnisse nicht, diese Hürde zu nehmen. Mit meinen fünfzehn Jahren Erfahrung als Maschinenbaumeister und einer Zusatzausbildung als Technischer Betriebswirt sowie mit Erfahrung in der Führung von bis zu 140 Mitarbeitern scheitere ich bei meinen aktuellen Bewerbungsbemühungen möglicherweise schon bei der ersten Vorauswahl.
Können Sie meine Vermutung bestätigen und wie kann ich diese erste, entscheidende Hürde nehmen?Ich freue mich, wenn Sie bei der Bearbeitung Ihrer Post nicht dieselben Auswahlkriterien haben und die fachliche Qualifikation aus der Praxis über ein Diplom stellen, welches in meinem Fall schon fast zwanzig Jahre alt gewesen wäre!
Antwort:
Dieser Beitrag von mir ist ein bisschen für Sie, vor allem aber für die jungen Menschen, die zweifeln: Ob es sich lohnt, sich durch ein Studium zu „quälen“, ob man nicht auch ohne „Titel“ seinen Weg machen könne und ob in der Praxis nicht Fähigkeiten wichtiger seien als ein „Stück Papier“.
Die zentrale Antwort vorab: Nein, als Angestellter (und von diesem Weg reden wir hier) geht es nicht ohne! Ich will gern versuchen, das zu begründen:
1. Einem Menschen, der heute (noch) in einem „vermittelbaren“ Alter ist, wurde in seiner Jugend (so wie es auch heute ist) Bildung geradezu „nachgeworfen“. Die Lehrer besuchten Eltern zu Hause und rieten, das Kind aufs Gymnasium zu schicken – sofern Begabung auch nur zu erahnen war. Es gab und gibt für jede Ausgangssituation zweite und dritte Bildungswege, es gibt Abendkurse für dieses und Fernstudien für jenes.
Daraus folgt das pauschale(!) Urteil: Wer heute „nichts ist“, war entweder absolut unbegabt, nicht fleißig oder eben antriebslos. Die Chancen sind so vielseitig, dass man davon ausgeht: Wer etwas nicht ist, der hatte die Begabung und den Ehrgeiz dazu nicht. Das wiederum heißt: Der hatte auch die Fähigkeiten dazu nicht!
Das war, ich habe es selbst erlebt, nicht immer so: In der ersten Nachkriegszeit gab es viele sehr fähige jüngere Menschen, denen war durch den Krieg, durch Gefangenschaft o. ä. in der schwierigen Aufbauzeit mit der Notwendigkeit zur Sicherung der „nackten Existenz“ jede Chance zu einer fundierten Ausbildung verbaut. Und so fanden Sie in den Jahren bis 1960, 1970 oder noch 1980 viele Gesellen, die fast jeden Meister und viele Meister, die so manchen Ingenieur in die Tasche steckten. Das, so die allgemeine Einstellung dazu, ist heute vorbei. Wer Talent hat und etwas erreichen will, dem werden heute so viele Chancen geboten, dass „Ausreden“ kaum noch angehört werden.
Natürlich darf ich das nicht einschränkungslos stehen lassen: Es kann selbstverständlich auch heute noch Fälle geben, in denen Menschen trotz der „nachgeworfenen“ Chancen aller Art unverschuldet in eine Situation geraten, die eine angemessene Ausbildung verhindert. Aber das sind dann bedauerliche Einzelschicksale, die statistisch nicht mehr relevant sind. Betroffene fallen heute durch das Raster pauschaler Vorurteile. Sie hatten dann einfach Pech – wie eine Tänzerin, der bei einem unverschuldeten Autounfall das Knie zertrümmert wird.
2. Ihnen, geehrter Einsender, fehlt nicht nur der „Titel“, darum geht es nicht vorrangig. Ihnen fehlt das systematische Studium, in dem man ein weitgehend genormtes Wissen erwirbt. In einem abschließenden Examen wird das dann geprüft, im positiven Fall erhält man eine Urkunde mit Noten. Von Stund an weiß jeder Einstellbevollmächtigte, welches Grundwissen und welche Grundfähigkeiten solch ein „Dipl.-Ing.“ hat.
Das ist bei Ihnen nicht der Fall! Ein Personalleiter könnte gar nicht beurteilen, wie gut Ihre Ingenieurqualifikation ist, ein Fachvorgesetzter müsste eine höchst komplizierte Einzelprüfung bei Ihnen vornehmen, bei der er selbst stark gefordert (überfordert) wäre. Das schenkt er sich – und stellt einen Mitbewerber von Ihnen ein, der eine systematische, erfolgreiche akademische Ausbildung nachweisen kann (nicht: „der den Titel hat“ – das griffe als Argument zu kurz).
3. Die Entscheidungsträger sind im Normalfall nicht souverän. Sie müssen sich für ihre Auswahl im Bewerbungsprozess verantworten. Stellt Bereichsleiter Müller Sie ein und in Ihrem Zuständigkeitsbereich geht etwas schief (ob Sie daran eine persönliche Schuld tragen, ist nicht wichtig), ist Müller dran: „Wie konnten Sie den überhaupt einstellen, der hat ja nicht einmal ein Studium“, tobt dann sein Chef. Das ist nicht gut für Müller, also lässt der schön seine Finger von Ihrer Einstellung.
4. Tun wir doch nicht so als wäre das, was hier zur Debatte steht, ein Ausnahmeprinzip! Wenn mich ein Polizist am Steuer eines Autos ohne Führerschein erwischt, bin ich „tot“. Da kann ich noch so überzeugend behaupten, ich führe ohne besser als die meisten mit Fahrerlaubnis, ich kann anbieten, das sofort unter Beweis zu stellen – alles zwecklos. Wer keinen Führerschein hat, wird aus dem Verkehr gezogen. Gleichgültig, wie talentiert er ist oder wie viel dämlicher als er sich die Erlaubnisinhaber in der Praxis anstellen.
Sehen Sie, auch dort gilt: Wer keinen Führerschein hat, muss nicht etwa beweisen, dass er besser fahren kann, er muss hingegen einen Führerschein erwerben! Und dann darf er im Verkehr schleichen, herumhampeln oder sonst wie andere zur Verzweiflung bringen.
Wenn Sie es krasser wollen: Wir lassen ja auch nicht Leute an die (politische) Macht, die entsprechende Fähigkeiten haben, sondern solche, die gewählt werden – das ist die geltende „Formvorschrift“. Also: Sie müssen nicht vorrangig begabt sein, Sie müssen erst einmal die formalen Grundvoraussetzungen erfüllen, sonst hilft alles nichts. So ist nun einmal das Leben.
Was Sie tun können? Ich sehe vor allem drei Möglichkeiten:
a) Sie akzeptieren, was Sie nun einmal sind, sprich aus sich gemacht haben, bewerben sich um Meisterstellen – und sind anschließend der fähigste Meister dieses Landes. Dann aber müssten Sie Ihren Frieden mit den Ingenieuren mache, die Ihre Chefs sein werden (und sicher nicht alle Genies sind, das wissen wir beide).
b) Sie erwerben den „Titel“. Dann sehen Sie auch, was so alles dazugehört zu einem Studium. Das geht nebenberuflich, das geht im Fernstudium, aber: Das ist ein hartes Brot!
c) Sie suchen über Ihre Meisterqualifikation den dazu passenden Einstieg in einem kleinen, privat geführten mittelständischen Unternehmen. Dort überzeugen Sie dann durch Leistung und kämpfen um eine spätere Beförderung. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde: Bewertet man einen externen Bewerber, sieht man vor allem dessen formale, auf dem Papier nachweisbare Qualifikation. Bewertet man einen internen Kandidaten, treten formale Aspekte zurück, Persönlichkeit und Leistung überwiegen. Es wäre eine Chance, mehr aber nicht.
Kurzantwort:
Entscheider in Bewerbungsangelegenheiten gehen davon aus, dass heute nahezu jeder alle Chancen hat, eine seinen Fähigkeiten entsprechende Ausbildung (Studium) zu absolvieren. Sicher trifft diese Annahme nicht immer zu – aber jeder sollte sich darauf einstellen, auf dieser Basis beurteilt zu werden.
Frage-Nr.: 1907
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 5
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2005-02-03
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