Ist der Job eines Sachbearbeiters sicherer als der eines Leiters?
In meiner 18-jährigen Berufstätigkeit habe ich gesehen, dass zwar so mancher Ingenieur seine Probezeit nicht „überlebt“ (also den Erwartungen nicht entsprochen) hat, während so mancher Projekt-, Abteilungs- und Bereichsleiter noch nach jahrelanger Tätigkeit seinen Hut nehmen musste (gemeint ist hier nicht ein betriebsbedingter Personalabbau). Auf Sachbearbeiter- oder Spezialistenebene ist mir kein solcher Fall (Entlassung aus in der Person liegenden Gründen nach langjähriger Tätigkeit) bekannt, man scheint dort „sicherer“ zu leben.
Ich habe den Eindruck, dass das Risiko eines Scheiterns bei Führungskräften in den letzten Jahren zugenommen hat. Ist die Luft dünner geworden und damit das Risiko, das mit einem Firmenwechsel verbunden ist, größer als früher? Trennen sich die Firmen heute, da das Bewerberangebot größer ist, auch leichter von (schwachen) Führungskräften?
Meiner Meinung nach sollte man sich einen Wechsel in ein anderes Haus bei wachsender Verantwortung sehr(!) gut überlegen.
Auf jeden Fall sind Ihre Ratschläge sehr hilfreich und stets lesenswert.
Antwort:
Wenn doch die Dinge nicht immer so furchtbar kompliziert wären! Das muss ich natürlich erklären: Eine Ihrer Annahmen, die Sie und viele andere schlicht als selbstverständlich unterstellen, ist leider falsch, damit bekommt auch der Rest an der einen oder anderen Stelle Risse:
Die Zeiten sind nicht besonders gut, was die Wirtschaft angeht, da sind wir uns einig. Aber das Bewerberangebot ist dabei nicht(!) größer, sondern eher geringer. Es gibt verschiedene Ursachen dafür – unter anderem liefern Sie eine: Die Leute denken, Wechsel seien jetzt besonders gefährlich – und bleiben, so lange es geht, dort wo sie sind. Also ist in diesen schwierigen Zeiten an gute Bewerber besonders schwer heranzukommen.
Bei der Gelegenheit: Wenn eine Hochkonjunkturphase drei Jahre anhält, gibt es auch keine guten Bewerber mehr – die Nachfrage übersteigt dann das Angebot. Aber in einer auflaufenden Konjunktur mit steigender Nachfrage (vielen offenen Stellen), da strömen die Bewerber mit ihren aufgestauten Veränderungswünschen auf den Markt. Nur: Diese Situation haben wir derzeit nicht.
Auf dieser Basis zu Ihren Feststellungen und Fragen:
1. Arbeitgeberseitige Kündigungen in der Probezeit sind generell recht selten. Im Normalfall wird die Phase mit ihrer höheren Kündigungsgefahr unbeschadet überstanden. Ein Risiko bleibt, aber mehr als gesunde Vorsicht ist generell nicht angebracht.
2. Jeder Angestellte, der seinen Arbeitgeber wechselt, verspricht sich davon eine Verbesserung, übertragen gesagt, ein „Geschäft“. Und in einer Marktwirtschaft gilt: „Kein Geschäft ohne Risiko.“ Auch jede Firmenexpansion, jede neue Marketingstrategie, jede neue Produktreihe eines Unternehmens soll neue Gewinne bringen – und ist mit dem Risiko des Scheiterns behaftet. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, wussten schon unsere Altvorderen.
Wer 60 wird und erkennt, dass er vieles von dem, was er eigentlich erreicht haben wollte, nicht einmal versucht hat, ist andererseits auch nicht glücklich. Sicherheit ist absolut nicht alles!
Man kann es auch so formulieren: Alle Menschen, die irgendetwas erreicht haben, sind Risiken eingegangen; aber nicht alle Menschen, die Risiken eingehen, „überleben“ diese. So ist das Leben.Ein Sachbearbeiter hängt in seinem Beruf etwa zu 80 % von seinem fachlichen Können und vielleicht zu 20 % von seiner Persönlichkeit ab, bei einem Abteilungsleiter verschiebt sich das Verhältnis mindestens hin zu 50/50.
Damit ist die Führungskraft anderen Risiken ausgesetzt als ein Sachbearbeiter. Bei letzterem entscheidet vorrangig über sein Überleben am Arbeitsplatz, wie gut er seine fachliche Arbeit macht, bei ersterer ist entscheidend, inwieweit sie als Persönlichkeit den Vorstellungen ihres Chefs entspricht, ob sie die ihr gesetzten Ziele erreicht, wie sie die ihr unterstellte Mannschaft führt. Resultat: Führungskräfte werden sehr selten wegen „schwacher fachlicher Leistungen“ entlassen, meist verbergen sich die oft sehr komplexen Gründe hinter „unterschiedlichen Auffassungen“, „nicht stimmender Chemie“ oder der ganz brutalen Zeugnis-Lüge eines „besten gegenseitigen Einvernehmens“.
4. Eine Führungskraft hat mehr Macht, verdient mehr Geld – und trägt dafür auch ein höheres Risiko. Dies alles nimmt nach oben hin zu.
5. Heute trennen sich Firmen öfter und leichter als früher gerade von Führungskräften, aber die Ursachen sind nicht darin zu sehen, dass neue Kandidaten auf der Straße liegen. Die Anforderungen (gesucht ist der schnelle, totale Erfolg) sind höher, auch die über die Entlassung entscheidenden Manager stehen unter höherem Druck.
Manche Führungskräfte müssen gehen, weil der Börsenkurs ihres Arbeitgebers zu niedrig war. Die Börse reagiert aber keineswegs nur auf rationale Aspekte. Spätestens daran sieht man, dass weiter oben die Luft tatsächlich immer dünner wird.
6. Soll man also aus Vorsicht lieber auf die Chance zum Aufstieg verzichten, wenn der mit einem Wechsel verbunden ist – soll man aus Sicherheitsgründen lieber bleiben wo man ist? Ich meine ganz entschieden: Nein! Leben ist nicht nur optimale Sicherheit, Leben heißt auch, weitergehende Ziele zu haben, etwas erreichen zu wollen, (kontrollierte) Risiken einzugehen. Erfolg zu haben macht Spaß (da gehört der vielzitierte Spaß hin), aber dem Angestellten mit Karriereambitionen bleiben nur etwa siebzehn Jahre, in denen er frei planen und gestalten kann. Napoleon ist in Russland geschlagen worden, in Leipzig geschlagen worden, bei Waterloo geschlagen worden, in der Verbannung elendig umgekommen und gilt seinem Volk heute noch als Held und verehrungswürdig. Hätte er jeden Statuswechsel wegen des damit verbundenen Risikos gescheut, dann wäre er hübsch ein der Nachwelt unbekannter Offizier der Artillerie geblieben (es geht hier nicht darum, was den Völkern Europas dann erspart oder versagt geblieben wäre). Aber: Niemand weiß, wie viele tapfere Artillerie-Offiziere bei dem Versuch gefallen sind, ein zweiter Napoleon zu werden …
Kurzantwort:
Führungskräfte unterliegen komplexeren Anforderungen als Sachbearbeiter. Daher ist auch ihr Risiko zu scheitern höher. Allerdings enthält ihr Gehalt eine Risikoprämie – und ihr Status ist ein zentrales Ziel für Ehrgeizige.
Frage-Nr.: 1951
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 34
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2005-08-26
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