Heiko Mell 01.01.2016, 20:33 Uhr

Ist ein „harter“ Branchenwechsel sinnvoll?

Ich bin Anfang 30, Dipl.-Ing. Maschinenbau (FH), habe anschließend noch einen Masterabschluss gemacht und jeweils überdurchschnittlich gut abgeschlossen. Seit einigen Jahren bin ich nun bei einem großen Automobilzulieferer (Teil-)Projektleiter in der Entwicklung.

Ich habe in dieser Position sehr viel gelernt, allerdings bin ich an einem Punkt angekommen, wo ich der Meinung bin, dass nichts Neues mehr hinzukommt. Ich möchte aber noch viel mehr Erfahrungen machen, besonders jetzt in meiner Anfangsphase im Berufsleben.

Daher denke ich darüber nach, die Branche zu wechseln und weg von der Automobilindustrie hin zum Anlagenbau zu gehen, wo ich von der Ausrichtung des Studiums her ei­gent­lich auch herkomme.Hier treten zwei Probleme auf:

1. Macht ein solcher „harter“ Branchenwechsel Sinn (ich würde weiterhin Projektleiter bleiben wollen)?

2. Ich müsste meinen Arbeitgeber verlassen und würde damit die Job-Sicherheit, die ich heute habe, verlieren.

Zur Abrundung noch folgende Informationen: In meinem jetzigen Bereich sehe ich nicht direkt die Chance, kurzfristig eine neue Herausforderung annehmen zu können. Jedoch möchte ich nicht noch zwei Jahre weiter auf derselben Position bleiben, da ich mich damit immer unflexibler anderen Aufgaben gegenüber mache. Ich muss noch dazu sagen, dass mein aktueller Job in keinstem Fall in Gefahr ist, mein Chef ist zufrieden und möchte mich halten. Mir fehlt eben wie gesagt nur die Perspektive.

Antwort:

Eine Kleinigkeit am Rande, dann haben wir das hinter uns: Von „kein“ gibt es keine Steigerungsformen, in „keinstem Falle“ also ist nicht vorgesehen in der deutschen Sprache, „in keinem Fall“ muss ausreichen, man könnte es zu „in gar keinem Fall“ steigern.

Zunächst fallen mir Ihre beiden „jeweils überdurchschnittlich gut“ abgeschlossenen FH-Studien auf (der FH-Bezug des Masters wird in Ihrem von mir verfremdeten Originaltext deutlich). Das ist toll, wenn Sie als Eingangsqualifikation nur die Fachhochschulreife hatten. Sollten Sie jedoch über ein Abitur mit akzeptabler Note verfügen, dann hätten Sie einfach nur den leichteren Weg gewählt “ und Ihre Fähigkeiten nicht bis in die Tiefe ausgelotet. Das könnte dann durchaus in Ihr jetziges Gefühl hineinspielen, Sie seien im heutigen Job nicht hinreichend gefordert. Manchmal hilft es, Ursachen für Entwicklungen zu erkennen.

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Im Übrigen haben Sie gerade die Gründe dafür gefunden, dass so viele junge Berufsanfänger nach zwei bis drei Jahren Praxis unbedingt den Arbeitgeber wechseln wollen (und es z. T. auch tun). Der Reiz des Neuen ist vorbei, neue Reize müssen her. Undenkbar, über einen längeren Zeitraum eine Arbeit auszuüben, die man zu beherrschen meint. Zehn oder zwanzig Jahre später sagen die ehemals jungen Leute dann einsichtsvoll, sie hätten „damals“ dort bleiben sollen, jetzt wüssten sie das auch.

Also gilt: Was Sie gerade empfinden, ist in höchstem Maße normal im Sinne von üblich. Und man kann Ihnen nur einen Chef wünschen, der das Problem erkennt, versteht, lächelnd akzeptiert “ und die Möglichkeit hat, den ungeduldigen jungen Mann irgendwie mit neuen Aufgaben, Projekten, Auslandseinsätzen, ersten Beförderungen etc. weiter zu fordern, ihn an seine Grenzen zu führen, ihm auch einmal die wichtige Erfahrung zu vermitteln, wie man mit Niederlagen umgeht. Aber oft lässt das hektische Tagesgeschäft dem Vorgesetzten für planvolles, fürsorgliches Vorgehen dieser Art keinen Raum.

Wissen sollten Sie auch, dass man Sie zwar verstehen kann, dass Sie aber andererseits das System etwas überfordern: Die Anstellung eines Angestellten erfolgt mit folgender Zielsetzung:

a) aus der Sicht des Unternehmens: Erfüllung bestimmter Aufgaben gegen ein vereinbartes Gehalt. Von Abwechslung, von gezieltem Vermitteln von Erfahrungen, von Spaß und Perspektiven ist primär keine Rede.

b) aus der Sicht des Mitarbeiters: Sicherung der Existenz durch Erhalt monatlicher Bezüge. Pause. Wegen der Bedeutung dieses Arguments noch eine Pause. Schließlich stehen die Bezüge zwischen „Leben“ und „Verhungern“ (symbolisch “ aber wir könnten ja nicht alle von Sozialhilfe leben). Dann kommt eine hinreichend anspruchsvolle Aufgabe, dann kommt das Sammeln von Erfahrungen, kom­men Perspektiven.

Aus der Sicht beider Partner erfüllt Ihr Anstellungsverhältnis insgesamt eine ganze Menge dieser Forderungen. Na schön, ein Sahnehäubchen fehlt, aber sonst? Also bleiben Sie ganz ruhig: Noch ist eigentlich alles in Ordnung “ bis auf Ihre (von erfahrenen Systemkennern ja verstandene) Unruhe.

Letztere ist allerdings sachlich unangebracht: Wenn Sie jeweils fünf Jahre pro Tätigkeit bleiben und sich danach erfolgreich um eine Beförderung bemühen “ machen Sie alle Beteiligten rundum glücklich. Der Arbeitgeber ist es zufrieden, damit haben sich seine Hoffnungen erfüllt. Und Sie sind z. B. mit 26 Berufsanfänger, mit 31 Team-/Projekt-/Grup­penleiter, mit 36 Abteilungsleiter, mit 41 Hauptabteilungs-/Bereichsleiter und mit 46 Geschäftsführer/Vorstand. Also bloß keine Panik!

Oder auch: Keine kommerziell ausgerichtete Tätigkeit kommt ohne einen gehörigen Anteil an immer wiederkehrenden Routine-Funktio­nen aus. Es ist eine Frage der inneren Einstellung, wie man dazu steht, wie man diese Tatsache verarbeitet. Wenn Sie so wollen, gilt: Ein Bundeskanzler regiert immerzu bloß, ein Flugkapitän fliegt immerzu bloß und selbst ein Auftragskiller murkst immer nur wieder Leute ab. Aber jeder von denen “ und jeder von uns “ hat es in der Hand, daraus für sich ein Optimum an Befriedigung herauszuholen.

Sie z.B. bearbeiten Entwicklungsprojekte im Automobilbereich. Vielleicht linke Türverkleidungen für die kleine Klasse, linke Türverkleidungen für die mittleren Modelle und dann linke Türverkleidungen für die Luxuslimousinen. Und immer wieder Abstimmung mit den Leuten beim Kunden, Kampf gegen die verrückten Vorstellungen der Designer, Kampf mit der eigenen Produktion, mit dem Einkauf, Abstimmungen mit Lieferanten, bis die Serie läuft. Und dann das nächste Projekt, danach das übernächste.

Sicher, so kann man das sehen. Aber man kann auch anders: Beim letzten Projekt haben Sie zwei Stunden für den Einkäufer aufwenden müssen, bis er halbwegs verstand, was Sie wollten. Und der Fertigungsmann im Team hat mehrmals erklärt, so ginge das überhaupt nicht. Und der Kunde hat erst am Schluss zähneknirschend zugegeben, ja, so etwa könnte es gehen. Und nun setzen Sie sich mit steigender Erfahrung selbst neue Ziele: Sie wollen so gut sein, dass der Einkäufer im Projekt nach 1,5 Stunden alles für machbar erklärt. Und der Fertigungsmann soll die Teile nicht nur für machbar halten, sondern so begeistert werden, dass er brauchbare Optimierungsideen liefert. Und vom Kunden wollen Sie für Ihre Entwicklung demnächst kein Zähneknirschen mehr hören, sondern er soll Ihnen freiwillig den blauen Stern am Bande verleihen (oder so; das ist keine Gebrauchsanweisung, sondern das sind nur Denkanstöße). Da ist sicher noch eine Menge zu tun, wenn Sie suchen.

Oder Sie konzentrieren sich auf Ihren Chef. Und schwören sich: Ich gehe hier erst weg, wenn der bei seinem Vorgesetzten meine Beförderung zum jüngsten Team- oder Projektleiter aller Zeiten durchgedrückt hat. Die sollen zittern vor Angst, ich könnte kündigen.

So, das alles als Vorrede zur eigentlichen Antwort. Aber das macht generell den tüchtigen Berater aus: Er brilliert mit Antworten auf Fragen, die eigentlich niemand gestellt hat.Zum Thema: Ich bin sehr skeptisch, rate von diesem Branchenwechsel ab. Mit dem Einstieg in die Praxis beginnt in der Regel eine Spezialisierung, die man ausweiten, der man eine neue Richtung geben, die man aber nicht auf den Kopf stellen sollte.

Und Automobilzulieferer und Anlagenbau sind grundverschieden. Der Kampf um immer weiter optimierte Detaillösungen in Sachen Kosten, Gewicht, Qualität bei riesigen Stückzahlen auf der einen und das Bemühen um auftragsgemäße Funktion größter einzelner Aggregate, die schließlich irgendwo mühsam montiert werden müssen und pro Stück 13,4 Millionen kosten auf der anderen Seite “ das sind Welten. Zwischen denen man nicht einfach mal eben so hin- und herspringt. Und in der für Sie neuen Welt wären Sie erst einmal wieder Anfänger, die Übertragung von Projektleitungsfunktionen schon zur Einstellung wäre höchst fraglich. Also: Ihre erste Frage muss ich mit Nein beantworten, das wäre nicht sinnvoll.

Von Frage Nr. 2 rate ich ab. Kein Arbeitgeber bietet heute noch wirkliche Sicherheit. Machen Sie das Thema in Ihrem zarten Alter noch nicht zum Maßstab. Sie sollten zwar tatsächlich erst einmal bleiben, wo Sie sind und weitermachen. Aber Sie sollten nicht wegen der “ vermeintlichen “ Sicherheit bleiben.

Kurzantwort:

1. Kein Akademiker mit Karriereambitionen kommt ohne einen erheblichen Routineanteil bei seinem täglichen Tun aus.

2. Das Ziel, ein universell erfahrener Ingenieur zu werden, ist ehrenwert. Aber es rechtfertigt keine „wilden“ Wechsel von Branchen oder Tätigkeiten.

Frage-Nr.: 2044
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 31
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2006-08-04

Ein Beitrag von:

  • Heiko Mell

    Heiko Mell ist Karriereberater, Buchautor und freier Mitarbeiter der VDI nachrichten. Er verantwortet die Serie Karriereberatung innerhalb der VDI nachrichten.  Hier auf ingenieur.de haben wir ihm eine eigene Kategorie gewidmet.

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