Heiko Mell 01.01.2016, 21:53 Uhr

Soll ich im Mittelstand bleiben oder in einen Konzern wechseln?

Frage/1: Sie scheinen ein sehr erfahrener Berater zu sein und über tiefgreifende Erfahrung zu verfügen.

Frage/2: Ich arbeite seit 1,5 Jahren als Leiter der Abteilung Konstruktion und Arbeitsvorbereitung in einem mittelständischen Unternehmen (29, Dipl.-Ing./BA, Examen vor 1,5 Jahren, Ausbildungsbetrieb ist jetziger Arbeitgeber). Kürzlich hat dieses Unternehmen Insolvenz angemeldet, alle Arbeitsverträge wurden gekündigt.

Nun bin ich auf der Suche nach einer neuen Herausforderung und bin mir unklar: Soll ich wieder eine Anstellung in einem Mittelstandsunternehmen oder aber in einem großen Konzern suchen?

Bisher habe ich nur die eine Seite kennengelernt. Beide Seiten haben sowohl Vor- als auch Nachteile, denke ich. Können Sie mir eventuell Ihre Erfahrungen berichten? Wären Bewerbungen bei einem Großkonzern überhaupt aussichtsreich? Klar ist mir auch, dass ich die derzeitige Position so schnell nicht wieder erreichen kann.

Durch die verschiedenen Aufgaben, die ich derzeit ausübe, bin ich sehr flexibel einsetzbar. Ist dies von Vorteil oder könnte dies als Nachteil ausgelegt werden? Ich bin sozusagen zwar ein Fachmann in einem bestimmten Bereich der Metallverarbeitung, aber hierbei von der Kalkulation über die Konstruktion/AV, Fertigung bis hin zur Qualitätssicherung doch (unter Umständen) zu breit aufgestellt.

Antwort:

Antwort/1: Den Verdacht hatte ich auch schon. Diese Serie übrigens habe ich „erfunden“ und schreibe sie ununterbrochen seit jenem Jahr, in dem Sie eingeschult wurden. Aber danke dennoch für die Blumen. Seien Sie versichert: Außer wenn man mich reizt, bin ich beinahe nett.

Antwort/2: Wir dürfen nicht übersehen, dass Sie vor allem anderen ein drängendes zeitliches Problem haben: In wenigen Wochen werden Sie arbeitslos. Zwar sind Sie daran schuldlos – aber darauf nimmt das Leben letztlich keine Rücksicht.

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Es muss also schnell gehen, das ist die erste Erkenntnis.Nr. 2. ist, dass sich am besten verkauft, was dem gleicht, was Sie zuletzt gemacht haben (mittelständischer Betrieb, ähnliche Art der Metallverarbeitung, ähnliche Aufgabenstellung; entscheidend ist dabei, wie Sie die heutige Aufgabe darstellen).

Als Nr. 3 kann gelten, dass Ihre bisherigen 1,5 Jahre Praxis nach dem Studium ohnehin zu wenig sind als dass Sie jetzt schon etwas „Neues“ anfangen sollten. Machen Sie also mindestens zwei bis drei Jahre, als Abteilungsleiter sogar besser vier bis fünf Jahre, im bestehenden Job „voll“. Da der bestehende Job nicht mehr existiert, nehmen Sie ersatzweise einen vergleichbaren, ähnlichen, so er zu bekommen ist.

Nr. 4 betrifft ganz speziell Sie: Nach dem (guten) Abitur haben Sie zunächst ein völlig anderes Uni-Studium über sieben Semester hinweg betrieben und dann – offenbar ohne Abschluss – abgebrochen. Damit steht der Basis-Vorwurf „Der weiß nicht, was er will, der revidiert einmal getroffene Entscheidungen total“ schon einmal im Raum.

Sie haben sich nach der Pleite des ersten Studiums für die Berufsakademie und einen mittelständischen Partner- oder Ausbildungsbetrieb sowie nach Studienabschluss für den Berufsstart im (zufällig identischen) mittelständischen Betrieb entschieden. Gut. Nun bleiben Sie dabei und beginnen Sie nicht einen neuen sprunghaften Wechsel in eine Ihnen unbekannte Welt.

Schön, Sie kennen bisher nur „eine Seite“, in Ihrem Fall den Mittelstand. Unser System ist darauf ausgelegt, dass man ohne das Ausprobieren aller denkbaren Varianten eine Festlegung trifft und dabei bleibt. Man kann nicht jeweils das Gegenteil auch noch testen! Sie z. B. wären nach dem Erststudium fast eine Art „technischer Künstler“ geworden, jetzt sind Sie Ingenieur. Was ist mit Jura, Soziologie oder wenigstens Betriebswirtschaft? Also gilt es, sich rechtzeitig über seine eigenen Stärken und Schwächen klar zu werden, sich optimal zu informieren, dann eine Entscheidung zu treffen – und die dann zielstrebig zu verfolgen. Und da schließt sich auch hier wieder ein Kreis: Erst waren Sie, vermutlich nach falschen oder unzureichenden Informationen, im faschen Studium, jetzt befürchten Sie, im falschen Unternehmenstyp gelandet zu sein. Dann haben Sie eine komplette Ingenieurausbildung absolviert und 1,x Jahre Praxis erworben, ohne diese Karriereberatung kennengelernt zu haben. Dort hat in mehr als 2.000 Fragen und Antworten „alles“ gestanden, was Sie zur Orientierung gebraucht hätten (Sie müssen diese Serie nicht lieben – aber als jemand, der in die Praxis hinausgeht und Orientierungshilfe braucht, sollten Sie davon gehört haben).

Also: Sie neigen zum Umorientieren, zum Zweifel, zur unvollständigen Entscheidungsvorbereitung, sind eher Suchender als Finder. Erkennen Sie das und widerstehen Sie der Versuchung. Sonst wissen Sie am Ende alles – ohne etwas erreicht zu haben.

Nr. 5 ist kurz: Die Unterschiede zwischen Großbetrieb und Mittelstand, die natürlich hier auch schon oft behandelt wurden, sind sehr groß, die ausführliche Darstellung würde eher Bücher als einzelne Artikel füllen. Da Sie aber keinen Grund haben, jetzt Ihr Heil eventuell im anderen Extrem zu suchen: Bleiben Sie, wo Sie sich auskennen und erfolgreich waren.

Nr. 6 ist problematisch: Als Berufsanfänger von knapp 30 Jahren Abteilungsleiter mit mehreren Mitarbeitern zu sein, ist kritisch, wenn man plötzlich wechseln muss. Ein neuer Arbeitgeber wird Ihnen den Status nicht sofort geben wollen (ein Konzern würde über das Ansinnen nicht einmal lachen).

Ich sehe folgende Bewerbungs-Varianten, die Sie alle parallel zueinander bei verschiedenen Mittelständlern ausprobieren können:

a) Sie versuchen, wieder genau so ein Abteilungsleiter zu werden.

b) Sie reduzieren Ihre heutige und die Zielposition auf eine Gruppenleitung, mal in Entwicklung/Konstruktion, dann wieder in der AV (Spezialisierung ist viel besser als Generalismus).

c) Sie schreiben etwa: „In diesem kleineren mittelständischen Betrieb bin/war ich verantwortlich sowohl für die Produktentwicklung und Produktion als auch für die AV“, dabei lassen Sie „Leitung“ und „Personalverantwortung“ ganz weg (sowohl bei der Zielposition als auch bei der Beschreibung der heutigen Aufgabe) und suchen eine ähnlich umrissene Aufgabe.

d) Sie stellen sich als ein Mann dar, der von seinem alten Ausbildungsbetrieb jetzt systematisch eingearbeitet wurde in Aufgaben in den Bereichen …, dabei schon selbstständig arbeiten durfte (von Führung ist keine Rede!) und jetzt den Einstieg als Mitarbeiter im Bereich … sucht. Der Betrieb darf dabei etwas größer sein als der heutige.

Frage-Nr.: 2108
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 9
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2007-03-27

Ein Beitrag von:

  • Heiko Mell

    Heiko Mell ist Karriereberater, Buchautor und freier Mitarbeiter der VDI nachrichten. Er verantwortet die Serie Karriereberatung innerhalb der VDI nachrichten.  Hier auf ingenieur.de haben wir ihm eine eigene Kategorie gewidmet.

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