Heiko Mell 02.01.2016, 02:33 Uhr

Wie kann ich meine Karriere bei einer Überbegabung gestalten?

Frage: Was soll ich sagen: Ich bin etwas orientierungslos bezüglich meiner Karriere und gestern auf ihre Seite gestoßen.Ich war schon in der Schule häufig unterfordert, einen Sekundarabschluss I konnte ich ohne große Anstrengung nach der neunten Klasse erreichen. Klasse übersprungen und Abi von 1,1 … Soweit, so gut. Ich studiere jetzt im sechsten Semester Wirtschaftsingenieurwesens und langweile mich eigentlich schon wieder. Deswegen verkürze ich auch um ein Semester und werde mit 22 Jahren mein Diplom abschließen.
Meine Werkstudententätigkeit macht soweit eigentlich viel Spaß, allerdings komme ich mit den normalen Mitarbeitern nicht so gut zurecht (normale Menschen können mir irgendwie nicht folgen, warum auch immer). Man hat immer das Gefühl als spräche man mit einer „weißen Wand“. Nach meiner Versetzung in die FuE-Abteilungen sind die Probleme jetzt soweit eigentlich weitestgehend behoben, die dortigen Mitarbeiter können mir auch tatsächlich manchmal folgen.
Meine Frage ist jetzt: Was machen (bezogen auf die Karriere)? Zur Orientierung hatte ich schon einen („Berufsberatungs“-)Psychologen befragt, der mit mir diverse Tests gemacht hat. Das Ergebnis war zwar schön, aber „nichtssagend“: Ich habe einen IQ von 148 und bin für alles geeignet. Toll!

Antwort:

Sie haben auch wirklich Pech im Leben: Erst legt Ihnen jemand eine überdurchschnittliche Begabung in die Wiege, für die Sie gar nichts können, dann müssen Sie sich ständig langweilen, dann geraten Sie als Werkstudent ans dumme arbeitende Volk, das Ihnen nicht folgen kann und jetzt stoßen Sie auf diese Karriereberatung, in der die Rolle „Ich bin hier der Größte“ schon anderweitig besetzt ist. Was für ein Ärger aber auch. Jedoch: Selbst wenn ich hier mehr wegen jahrzehntelanger erfolgreicher harter Arbeit als wegen überragender Intelligenz sitzen sollte, so fühle ich doch mit Ihnen und will Ihnen zu helfen versuchen. Ehrlich. Alsdann:

1. Ihre Begabung ist zunächst einmal eine reine Veranlagung, keine Leistung Ihrerseits. Erst wenn Sie daraus überdurchschnittlich(!) viel gemacht hätten, gäbe es ansatzweise eine Basis für Stolz oder gar Arroganz. Für per Geburt Hochbegabte sind das Überspringen einer Klasse, ein Abitur von 1,1 und ein entsprechend früher Studienabschluss so normal wie für die anderen das Atmen. Ein begabter Student, der sich im sechsten Semester langweilt, wird noch nicht als Leistungsträger anerkannt.

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Sie hätten sich genau so engagieren sollen wie normalbegabte Studenten, dann hätten Sie jetzt so nebenbei noch Ihren Abschluss in Astrophysik, in Byzantinistik oder Molekularbiologie präsentieren können. Beispielsweise.

2. Sie sind hochintelligent und haben Probleme mit sich selbst. Dann müssten Sie ein – nach Lösungen – „Suchender“ sein: Jung, begabt, ein Mensch des Internetzeitalters. Wenn Ihnen diese Serie etwas geben kann, hätten Sie als Abiturient darauf stoßen müssen, nicht erst im sechsten Semester (Sie dürfen sie, insbesondere nach dieser Antwort, auch als vollkommen unergiebig für Sie einstufen – aber sie erst „gestern“ entdeckt zu haben, ist unter Ihrem Niveau).

3. Ich weiß sehr wohl, dass Hochbegabte, insbesondere in der Schule, oft einen hohen Preis für ihr Talent bezahlen. Permanente Unterforderung kann zu einem Verhalten führen, das sogar als Dummheit missverstanden wird. Und „normale“ Klassenkameraden mögen Jungen, die schneller laufen oder besser boxen können, nicht aber solche, die intelligenter sind. Es gibt aber auch Hochbegabte, die fordern die Wut ihrer Umwelt geradezu heraus. Indem sie ihr (der Umwelt) das Gefühl geben, eine „weiße Wand“ und entsetzlich dumm zu sein. Der Anteil überschüssiger, momentan nicht benötigter Intelligenz könnte doch zu einem besonders klugen Verhalten gegenüber den anderen genutzt werden. Ich bin absolut überzeugt, dass das geht – so man es will.

4. Hohe Intelligenz ohne Disziplin ist eine besondere Heimsuchung – und unentschuldbar.Nehmen wir, geehrter Einsender, Ihre ersten beiden abgedruckten Absätze, die ich in Originalqualität übernommen habe:- Im ersten Satz ist „… auf ihre Seite …“ falsch, es muss „Ihre“ heißen.- „Soweit, so gut“ ist falsch. Es muss richtig „So weit, so gut“ heißen.- Das Zeug, was Sie da gelangweilt vor sich hin studieren, heißt „Wirtschaftsingenieurwesen“, nicht „…wesens“.- „Klasse übersprungen und Abi von 1,1 …“ ist kein Satz und so auch nicht als „dichterische Freiheit“ zu akzeptieren.

5. Ihre Überheblichkeit ist schier unerträglich. Und sagen Sie nicht, Sie dächten bloß so, sprächen es aber gemeinhin nicht so offen aus. Wer so denkt, lässt das auf Dauer auch nach außen erkennen. Und mag „das Volk“ auch noch so dumm sein, Ihre massive Miss- und Verachtung spürt es.

6. Als Werkstudent sind Sie blutiger Hilfsanfänger (blutiger richtiger Anfänger wären Sie erst mit bestandenem Examen) und sollen etwas lernen. Eine wichtige Aufgabe für Sie ist es, mit den vorhandenen Leuten auszukommen, sich auf sie einzustellen. Ob Sie die nun für dumm halten oder nicht. Eine angemessene Aussage von Ihnen wäre gewesen: „Trotz großer Mühen ist es mir nicht gelungen, mich den älteren Kollegen gegenüber verständlich zu machen. Ich bin schon ganz verzweifelt, aber ich finde einfach die richtigen Worte nicht. Es ist klar, dass ich als Werkstudent diese Aufgabe lösen muss, ich kann nicht erwarten, dass die sich auf mich einstellen. Ich arbeite ständig weiter an mir.“

7. Bei Vorliegen ungenutzter geistiger Kapazitäten hätten Sie doch auch als Werkstudent versuchen können, eines der in dieser Abteilung bestehenden Probleme zu lösen, ein überzeugendes Konzept vorzulegen o. Ä. m. Aber Sie scheinen sich darauf beschränkt zu haben, die dort alle als ziemlich dumm zu klassifizieren.

Im Vertrauen gesagt: Die Leute dort sind für die Anforderungen an der Stelle genau richtig. Es gibt in der Industrie wie auch sonst Arbeiten, die nur bedingt überragende Intelligenz erfordern, aber gemacht werden müssen – sonst kommt das ganze schöne Räderwerk zum Stillstand. Und dadurch werden solche Jobs in den Augen der Unternehmensleitung auch durchaus „wichtig“, selbst wenn dort nicht täglich das Pulver neu erfunden werden muss.Eine klare Aussage in dem Zusammenhang: Sie könnten den Job dieser Mitarbeiter nicht zufriedenstellend über Jahre hinweg ausfüllen. Sie wären „nicht hinreichend qualifiziert“ dafür, würden schnell an Ihre Grenzen stoßen. Mit einer Überqualifizierung sind Sie ebenso ungeeignet wie mit dem Gegenteil.

8. Zum Psychologen in der Berufsberatung: Er hat einen sehr schwierigen Job! Mit seinen Mitteln kann er nur die grundsätzliche Eignung eines Menschen für die Basis-Anforderungen bestimmter Beruf herausfinden. Aber wie dieser Beruf den Menschen dann zufrieden stellt, wie er ihn immer wieder neu begeistert, ob er wirklich auf eine Berufung des Menschen trifft, das sieht er nicht. Wenn jemand sehr intelligent ist und sich im Test ein wenig Mühe gibt, dann deckt er massenhaft Grundanforderungen ab. So wie Sie ja auch die Anforderungen fast aller Schulfächer erfüllt haben müssen – aber damit nicht gleichermaßen Physiker, Geschichtslehrer, Rechtsanwalt oder Zahnarzt werden sollten. Obwohl Sie die jeweilige Ausbildung, wenn Sie sich Mühe geben, erfolgreich durchstehen könnten.

9. Apropos Mühe: Hochbegabung bringt es mit sich, dass einem vieles einfach so in den Schoß fällt – und man nicht lernt, sich etwas hart zu erarbeiten. Später fehlt dann diese Erfahrung.

10. So, nun noch die Empfehlung: Sie müssen natürlich promovieren. Mit dem schwierigsten Thema aller Zeiten beim härtesten Professor, der sich finden lässt. Und natürlich in deutlich unter fünf Jahren. Vielleicht bietet sich eine Universität in USA oder in einem führenden europäischen Land an. Nebenbei könnten Sie ja notfalls Ihren Abschluss in Byzantinistik nachholen. Aber ich will Leistung sehen, nicht bloß eine naturgegebene Begabung demonstriert bekommen.

In der Zeit reift Ihre Persönlichkeit, Sie entwickeln Pläne für die Zukunft. Ein paar Niederlagen in dieser Phase, die zur Demut erziehen, könnten auch nicht schaden (vielleicht beißen Sie sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung die Zähne an einer Frau aus, die es auf einen IQ von 155 bringt, beispielsweise; oder die gesamte Fachwelt lehnt Ihre aufsehenerregende These über die Ursachen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ab).

Für die Planungen danach gilt: Halten Sie sich fern von der Welt der kommerziellen (freien) Wirtschaft. Werden Sie Universitätsprofessor, Institutsdirektor, hochkarätiger Forscher, freier Schriftsteller oder was auch immer. Aber die zum Zwecke des Geldverdienens gegründeten Firmen tun sich schwer mit Hochbegabten. Vorsicht: Sie werden die Normalbegabten immer brauchen. Und sei es als Publikum. Bemühen Sie sich ein wenig mehr um diese Menschen, die eine wichtige Stellung haben in einem Land wie dem unseren: Sie sind die Mehrheit. Und irgendwer hat beschlossen, dass die die Macht haben soll.

PS: Ich bin nicht immer frei von Zweifeln, kann aber die Authentizität einzelner Zuschriften nicht nachprüfen. Maßstab ist: Denken Leute so? Ich fürchte, diese Bedingung wird erfüllt.

Kurzantwort:

Hochbegabte haben es – schon in der Schule, aber besonders in kommerziell ausgerichteten beruflichen Systemen – nicht leicht, diese Welt ist nicht für sie gemacht. Aber eine offen vorgetragene Arroganz erleichtert den Kontakt mit der weniger begabten Mehrheit eher nicht.

Frage-Nr.: 2343
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 34
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2009-08-19

Ein Beitrag von:

  • Heiko Mell

    Heiko Mell ist Karriereberater, Buchautor und freier Mitarbeiter der VDI nachrichten. Er verantwortet die Serie Karriereberatung innerhalb der VDI nachrichten.  Hier auf ingenieur.de haben wir ihm eine eigene Kategorie gewidmet.

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