Heiko Mell 02.01.2016, 03:43 Uhr

Mit welcher Gehaltserhöhung sollte ich bei einem Jobwechsel rechnen?

Heiko Mell: Ich muss die Historie erläutern, sonst versteht man die Zusammenhänge nicht: Ich nenne gelegentlich beispielhaft einige nicht auf konkrete Fälle bezogene Gehaltsgrößen. Ich hätte dort auch x oder y Euro sagen können – mir geht es nie um konkrete Summen bei konkreten Positionen, das Feld überlasse ich anderen. Diese fiktiven Beispielgehälter waren dem Einsender der 2.389 Frage einfach zu hoch, er nannte für seine Branche deutlich niedrigere Zahlen, wollte nicht an Beträge über 60.000 EUR glauben und an Größenordnungen wie 108.000 schon gar nicht. Ich zitierte das Personalwesen eines größeren Metall verarbeitenden Betriebes in NRW: „Ein Entwicklungsingenieur mit fünf Jahren Praxis liegt in der Regel in Entgeltgruppe 14 des geltenden Metalltarifs und kommt auf Jahresbeträge zwischen 64 und 75.000 Euro. Bei etwas Mehrarbeit kommen ca. 5.000 Euro dazu.“ Ich fügte hinzu, dass ich die Tarife nicht festsetze, an den Verhandlungen nicht teilnehme und auch sonst diese Zahlen nicht verantworte, sondern nur der Praxis entnehme.

Frage:

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Zum ersten Mal in 25 Jahren, die ich Ihre Karriereberatung verfolge, kann ich Ihrer Erklärung des „Systems“ nicht folgen und werde von einer Antwort ratlos zurückgelassen. In mein Gedächtnis haben sich Ihre Appelle eingebrannt, bei Gehaltsverhandlungen nicht das Maximum herauszuholen, außerdem die Faustregel, fünf Jahre bei einem Arbeitgeber zu bleiben und bei einem Wechsel bis zu 20 % Gehaltssteigerungen zu erreichen.

Bei meiner ersten Stelle habe ich mich (Dr.-Ing.) am oberen Ende der VDI-Statistik für Einstiegsgehälter orientiert: 45.000 Euro. Beim Wechsel nach knapp sechs Jahren habe ich die 20 % leicht übertroffen. Bei der Übernahme zusätzlicher Verantwortung in beiden Stellen habe ich nicht auf Gehaltssteigerungen bestanden, sondern mich brav darauf konzentriert, mich durch gute Leistungen für weitere Aufgaben zu empfehlen (das wirklich große Geld kommt ja später „automatisch“). So habe ich heute mit Ende 30 als „senior engineer“ die höchstmögliche Position ohne Disziplinarverantwortung in unserem Unternehmen (mehr als 1.500 Mitarbeiter) erreicht und bekomme 55.000 Euro für 40 h / Woche, ohne Zulagen.

Damit war ich bisher zufrieden, kann meine Familie ernähren und finde Reichtum nicht sehr verlockend. Aber nun muss ich in Ihrer Antwort lesen, dass ich längst viel mehr verdienen sollte. Einen Tarifvertrag für Entwicklungsingenieure hielt ich bisher tatsächlich für exotisch, weil ich niemanden kenne, der tariflich bezahlt wird – bei den genannten Tarifen verstehe ich auch, warum Unternehmen lieber außertariflich bezahlen.

Wer mit üblichen 36.000 Euro Einstiegsgehalt startet und alle fünf Jahre mit durchschnittlichen 15 % Zuschlag wechselt, braucht 25 Jahre, um den von Ihnen genannten Gehaltskorridor zu erreichen. Er ist dann 50-jährig, Bereichsleiter und versteht nicht, warum in NRW einfache Entwickler mit fünf Berufsjahren mit 35-Stundenwoche teils besser bezahlt sein sollen.

Wo ist mein Denkfehler? Gehört übermäßiges Zulangen an einem gewissen Punkt vielleicht doch dazu? Und wie müsste ich zweitens vorgehen, wenn ich heute ohne Stellenwechsel einem Gehalt näherkommen will, das Sie offenbar für angemessen halten?

Antwort:

Seien Sie bitte fair zu mir: Ich habe die Personalabteilung eines typischen Unternehmens (tarifgebunden, NRW, Metall) zitiert, bisher hat niemand den Zahlen widersprochen – aber Sie finden nirgends einen Hinweis darauf, dass ich ein bestimmtes Gehalt „für angemessen halte“.

Und dann seien Sie auch bitte fair zu sich: Sie erklären, Sie finden „Reichtum nicht sehr verlockend“. Das heißt übersetzt: „Geld steht nicht im Mittelpunkt meines Denkens.“ Das ist akzeptabel, vernünftig und machbar. Diese Einstellung hat Ihnen einen soliden, gut „verkaufbaren“ Werdegang beschert (schöne lange Dienstzeiten pro Arbeitgeber, die „fachliche Beförderung“ zum Senior, eine Gehaltsgröße, die bei Bewerbungen keinen Ärger macht), und Sie sind „zufrieden“ mit dem Erreichten – was große Teile der Bevölkerung nicht so sagen würden. Und nun lesen Sie ein Beispiel aus irgendeinem Unternehmen, in dem es gar nicht um konkrete Gehälter für eine mit Ihrer vergleichbaren Aufgabe geht, sondern mit dem nur bewiesen werden sollte, dass Beispielgehälter von 60.000 Euro nicht utopisch sind – und schon werfen Sie Ihre bisherige Philosophie über Bord. Das sollten Sie so schnell nicht tun!

Ziel unseres Daseins ist es doch nicht, bestimmte Summen zu verdienen, sondern zufrieden zu werden. Diese nahezu höchsterreichbare Stufe hatten Sie doch schon bestiegen – und jetzt wollen Sie alles wegwerfen?

Aber wir müssen auch noch in die Sache einstiegen: Da ist die Geschichte mit dem Tarif. Kein Arbeitgeber hat es „einfach so“ in der Hand, ob er außerhalb des Tarifs seiner Branche bezahlt. Wenn er zum entsprechenden Arbeitgeberverband gehört, kann er zwar über diesen Einfluss auf die Tarifverhandlungen nehmen, aber deren Ergebnisse sind dann für ihn verbindlich. Gehört er keinem solchen Verband an, wird häufig die Gewerkschaft mit ihm einen eigenen Haustarif schließen – den muss er dann ebenso einhalten. Ist auch das nicht der Fall, kann er zwar „unter Tarif“ bezahlen, wird dafür aber in einer dicht besiedelten Region, umgeben von lauter tarifgebundenen Betrieben (Ballungsgebiete in NRW, z. B.) keine Mitarbeiter bekommen, jedenfalls nicht in der Hochkonjunktur. Ein Tarif, der für viele Betriebe einer Region gilt, prägt das Gehaltsniveau einer ganzen Branche.

Ich kenne sehr viele Firmen, die direkt tarifgebunden sind – und gar nicht auf die Idee kommen, unter Tarif zu entlohnen. Was meinen Sie, warum Tarifverhandlungen z. B. im Metallbereich solche „republikbewegenden“ Ereignisse sind, über die Fernsehen und Presse stunden- oder seitenlang berichten? Etwa weil es niemanden betrifft?

Jetzt zu Ihrer Werdegang-Entgelt-Theorie, die tatsächlich auf meinen Aussagen beruht, aber: Es geht doch nicht darum, mit X Euro / Jahr irgendwo anzufangen, nach fünf Jahren 15 % oder 20 % anlässlich eines Wechsels hinzuzugewinnen und das 25 Jahre lang! Ihre Rechnung enthält wesentliche Lücken:

Das Gehalt bleibt während der beispielsweise fünfjährigen Beschäftigungszeit bei einem Arbeitgeber doch nicht unverändert! Da sind wieder die fast regelmäßigen Tariferhöhungen von jeweils X %, da sind die im Tarif festgeschriebenen Steigerungen bei gestiegenen Beschäftigungsjahren in der Tarifgruppe, da ist die Chance auf gelegentliche Höhergruppierung in eine höhere – bessere – Tarifgruppe und da sind freiwillig arbeitgeberseitig gewährte Zulagen bzw. „richtige“ Gehaltserhöhungen (die nichts mit dem Tarif zu tun haben und bei außertariflichen Angestellten die alleinige Basis darstellen).

Vor allem die größeren Unternehmen haben fest eingeführte Instrumentarien dafür (bei geltendem Tarifvertrag schreibt dieser einige vor): Jährliche Gehaltsüberprüfung, regelmäßige Mitarbeiter-/Leistungsbeurteilung, jährliche Vorgabe persönlicher Ziele mit anschließender Erfolgskontrolle, Potenzialbeurteilung. Das alles führt dazu, dass zwischen dem Einstiegsgehalt bei einem Unternehmen und den Bezügen etwa fünf Jahre später in der Regel durchaus erhebliche Unterschiede bestehen, insbesondere in den ersten fünf Berufsjahren nach dem Studium.

Und jetzt nähern wir uns einem heiklen Punkt: Das wirklich große Geld kommt keinesfalls später „automatisch“! Im Grunde haben Sie so nach etwa zehn Berufsjahren die Möglichkeiten ausgeschöpft, auf ausführender Ebene, also ohne Führungsverantwortung, immer mehr Geld zu verdienen. Ab da ist Aufstieg der „Einkommensbeschleuniger“. Wobei niemand aufsteigen muss und wobei auch nur aufsteigen sollte, wer das will und kann.

Insofern ist Ihr Bereichsleiterbeispiel schlicht falsch. Ein solcher Mann steigt als frisch promovierter Ingenieur mit ca. 50.000 Euro ein – und wird dann laufend befördert, mal in-, mal extern – und er erhält die oben erwähnten Gehaltserhöhungen bei gleichbleibender Tätigkeit. Er wird mit Mitte 30 Gruppenleiter, dann mit 40 Abteilungsleiter, hat in dieser Funktion vielleicht 90 – 100.000 Euro, ist mit Mitte 40 Bereichsleiter und verdient vielleicht 120 – 180.000 Euro, je nach Firmengröße und Verantwortungsumfang. Nicht jeder kann den Weg gehen, aber Sie haben das Beispiel eingeführt. Und manche Akademiker schaffen das ja auch, einige werden dann noch Geschäftsführer oder Vorstand.

Der Aufstieg – die Beförderung – ist also die Basis, um höhere Gehälter zu erreichen. Teils gibt es schon intern bei der Ernennung mehr Geld, teils nach externen Bewerbungen, wenn man dabei – wie in der Karrieregestaltung üblich – jeweils die nächsthöhere Hierarchiestufe erfolgreich anpeilt.

Um auch das klar zu sagen: Einfach auf ausführender Ebene schon bei der Einstellung „viel“ zu fordern und auch bei jedem Wechsel sehr hohe Forderungen zu stellen, bringt im Verhältnis zu den mit Beförderungen verbundenen Einkommenschancen gar nichts. Im Gegenteil: Mit ein bisschen Pech ruiniert man damit sein „Image“ als Bewerber oder als Mitarbeiter.

Klare Antwort auf Ihre Abschlussfrage: Erstens formulieren Sie im Sinne von „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ – wer beruflichen Fortschritt will, darf Stellenwechsel als ein Mittel dazu nicht (wie Sie) ausschließen. Und zweitens: Sehen Sie zu, dass Sie „Leiter“ werden. Bei Ihrer Ausbildung und Ihrem Alter (Dr.-Ing mit Ende 30) wäre das ja absolut „normal“ im Sinne von üblich. Selbstverständlich müssen Sie das nicht tun – aber anders ist an deutliche Gehaltsverbesserungen nicht heranzukommen.

Ihre bisherige Einstellung zum „Reichtum“ (interessiert Sie nicht) und zur Führung (hätte beim letzten Wechsel im Sinne einer „Karriere“ herauskommen sollen) sind die zentralen Ursachen für die heutige Situation. Ich füge noch eine Warnung an, die man hier auch schon lesen konnte: Wenn Sie die 40 überschreiten und weiter nur nichtleitend tätig sind, werden Sie mehr und mehr schwer „verkäuflich“ auf dem Markt. Sachbearbeiter mit 31 sind begehrt, solche mit 48 kaum. Aber jener Bereichsleiter verkauft sich bei Bewerbungen im Mittelstand auch mit 50 noch gut, wenn bei ihm sonst alles stimmt.

Sie verstehen jetzt, warum ich Diskussionen über konkrete Gehälter nicht mag. Und nie darf man vergessen: Ein toller, wohlwollender, fördernder Chef in einem soliden, sich positiv weiter entwickelnden Unternehmen sowie ein Gehalt von 55.000 Euro sind „mehr wert“ als ein bösartiger Chef, der Sie nicht leiden kann, in einem sterbenden Unternehmen bei 70.000 Euro Einkommen.

Wenn wir nun schon ausnahmsweise über Zahlen sprechen, dann können wir das ja noch ein wenig ausbauen: Ich zitiere hier einmal aus der Broschüre „Ingenieureinkommen 2002 – 2009“ der VDI nachrichten / ingenieurkarriere.de:

„Bei Ingenieur-Sachbearbeitern stieg das Jahreseinkommen jeweils im oberen Quartil (wo sonst soll eine ‚Karriereberatung“ suchen?) von 45.113 Euro bei einer Berufserfahrung von 1 – 2 Jahren über 50.155 Euro bei 3 – 5 Jahren auf 63.437 Euro bei 11 – 15 Jahren.“

Wenn z. B. Sie, geehrter Einsender, nicht führen wollen, auf die Promotion verzichtet hätten und mit 26 Jahren in die Praxis eingestiegen wären, lägen Sie heute mit großer Wahrscheinlichkeit beim letztgenannten Jahreseinkommen. Und das wäre nur der Durchschnitt (der oberen Gruppe)!

Ach, da fallen mir jene Leser ein, die an meinen Zahlen zweifeln: Im Fahrzeugbau (nichts Exotisches) liegen Gruppen- und Teamleiter bei 82.970 Euro (stets oberes Quartil), Abteilungsleiter bei 92.446 Euro, alles lt. ingenieurkarriere.de.

Ich fürchte, ich habe jetzt Blut geleckt; je mehr ich in der Broschüre blättere, desto mehr Beweise für meine seit Jahren niedergeschriebenen Aussagen sehe ich:

So beträgt die Gehalts-Steigerungsrate aller Ingenieur-Sachbearbeiter von der Gruppe „1 – 2 Jahre Berufspraxis“ zur nächsten Gruppe „3 – 5 Jahre“ im Durchschnitt über alle Positionen 6 %, beim nächsten Sprung in die Gruppe „6 – 10 Jahre“ 8 %, beim Sprung von dort in die Gruppe „11 – 15 Jahre“ sogar 14 % – und sackt dann beim folgenden Sprung auf 4 % ab. Fazit: Sachbearbeiter sind mit ihrer Gehaltsentwicklung nach etwa 12 Jahren am Ende, dann kommt nicht mehr viel. Mehr an Erfahrung zahlt sich nicht aus. Dann ist man etwa 38, der Höhepunkt der Entwicklung ist erreicht bis überschritten. Dann geht es nur noch mit Beförderungen weiter (die sich natürlich auch schon vorher auszahlen und auch angestrebt werden sollten).

Interessant erscheint mir dann auch noch das Ranking der wichtigsten relevanten Einkommensfaktoren auf die Entgelthöhe: Auf den ersten Plätzen liegen* Berufliche Position* Berufliches Entwicklungsstadium (Berufserfahrung, Mitarbeiterverantwortung)* Branche* Unternehmensgröße* Marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen.

(Die komplette Studie kann unter www.vdi-nachrichten.com/buchshop/gehalt zum Preis von 99 Euro bestellt werden.)

Schön, ich habe mich hier wider besseres Wissen auf das blanke Eis konkreter Gehälter locken lassen. Und das alles nur, um eindeutig zu beweisen, dass beiläufig von mir genannte Zahlen nicht unrealistisch waren. Ich glaube, dass der Beweis gelungen ist. Lassen wir es an dieser Stelle damit bewenden.

Frage-Nr.: 2406
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 16
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2010-04-23

Ein Beitrag von:

  • Heiko Mell

    Heiko Mell ist Karriereberater, Buchautor und freier Mitarbeiter der VDI nachrichten. Er verantwortet die Serie Karriereberatung innerhalb der VDI nachrichten.  Hier auf ingenieur.de haben wir ihm eine eigene Kategorie gewidmet.

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