Heiko Mell 02.01.2016, 07:07 Uhr

Ab wann hat man Berufserfahrung?

Frage/1: Als Student möchte ich Ihnen für Ihre hervorragende Karriereberatung danken. Ich lese diese schon seit einiger Zeit (sowohl in den VDI nachrichten als auch Ihre Bücher) und finde immer wieder im Alltag die Bestätigung dessen, was Sie dort beschreiben!

Frage/2: Ich studiere Fahrzeug- und Motorentechnik. Seit zwei Monaten schreibe ich meine Diplomarbeit bei einem entsprechenden Unternehmen über ein Regelungsthema an bestimmten Verbrennungsmotoren. Derzeit bewerbe ich mich parallel bei Firmen.
Ich frage mich aber nun, wie die „praktische Berufserfahrung“, welche bei mir aufgrund studentischer Tätigkeiten vorliegt, als „Berufserfahrung“ im Sinne von Personalanzeigen bei Bewerbungen gewertet wird.
Zunächst habe ich insgesamt siebzehn Monate als Praktikant und Werkstudent bei einem großen Hersteller motorgetriebener Geräte (keine Autos) als Praktikant und Werkstudent gearbeitet (Motorenversuch/Applikation), vier Monate bei einem sehr großen Kfz-Zulieferer im Bereich Motorenapplikation und arbeite aktuell im Rahmen meiner Diplomarbeit bei einem namhaften Entwicklungsdienstleister für die Automobilbranche. Außerdem konnte ich durch meine Studienarbeit im Hauptfach Verbrennungsmotoren weitere Erfahrungen und Kenntnisse im Bereich Vollmotorenprüfstand sammeln. Zählt all dies als Berufserfahrung?
Bin ich also, trotz dieser studentischen Tätigkeit, ein Berufsanfänger oder stehe ich irgendwo zwischen Anfänger und „young professional“? Kann ich überhaupt erfolgreich sein, wenn ich mich um Stellen bewerbe, bei denen Berufserfahrung erwünscht wird?

Frage/3: Ich hatte mich bei der XY AG, einem Premium-Hersteller, als Versuchsingenieur beworben. Es kam eine Absage. Danach hatte man einen guten Eindruck von meiner fachlichen und persönlichen Qualifikation. Unter der Annahme, dass diese Aussage korrekt ist (weiß man ja nie), bleibt nur der Punkt „Berufserfahrung“ offen, in welchem die anderen Bewerber offensichtlich Besseres vorzuweisen hatten.

Frage/4: In der Bewertung (Zeugnis) des Unternehmens, bei dem ich die längste Zeit als Praktikant und Werkstudent tätig war, sind die wichtigsten Eigenschaften und Fähigkeiten einzeln aufgeführt, der Vorgesetzte kreuzt jeweils eine von vier Bewertungsstufen an, dieses „Kreuzchen-Bild“ ist neben einem einzigen zusammenfassenden Satz Kern des fertigen Zeugnisses. Dort habe ich in allen Punkten sehr gute und gute Bewertungen, nur im Punkt „Auftreten“ eine mittelmäßige (eher schon auffallend schlechte, jenseits der Mitte angesiedelte, H. Mell). Laut Ansicht meines damaligen Vorgesetzten gehört zu diesem Punkt auch das sichere Auftreten in Präsentationen. Dort liefert man nicht nur Ergebnisse (eine Standardsituation für Studenten), sondern dort muss man auch mal eine Aussage gegen die Meinung anderer vertreten. Solche Situationen kann seiner Meinung nach ein Student nicht üben, weshalb der Vorgesetzte hier generell Verbesserungspotenzial sieht (also zu einem kritischen Urteil kommt, H. Mell).
Diese Argumentation wurde bisher in Vorstellungsgesprächen von mir bei entsprechenden Nachfragen vorgebracht, sie führte stets zur positiven Klärung.

Antwort:

Antwort/1:
Gerade Studenten bezweifeln oft, dass meine Aussagen der Realität „da draußen in der Praxis“ entsprechen. Wohl auch, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Daher ist eine Bestätigung immer willkommen. Und vielleicht trauen junge Leute ja „einem von uns“ mehr als einem Ingenieur mit 20 Jahren Praxis, der gelegentlich einen bestätigenden Leserbrief schreibt.

Antwort/2:
„Berufserfahrung“ meint grundsätzlich „Erfahrung, die in der Ausübung des Berufs“ erworben wurde. Dazu muss man den Beruf erst einmal haben, die Ausbildung muss also erfolgreich abgeschlossen worden sein. Ein Lehrling (der etwa ebenso logisch ein Auszubildender ist, wie der Fahrgast ein „zu Transportierender“) beginnt trotz sehr intensiver berufsrelevanter Praxis, die er schon vor dem Lehrabschluss hat, seine Berufstätigkeit mit „ohne Erfahrung“.

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Das gilt auch für Ingenieure und Akademiker – so „richtig“ zählt Berufserfahrung ab Examen. Dieses Prinzip gilt umso mehr, je stärker die Bewerbungsbearbeitung standardisiert ist. Das wiederum ist bei ganz großen Konzernen eher der Fall als im Mittelstand.

Wenn die Bewerbung schon in elektronischer Form durch Eingabe in eine vorgegebene Maske erfolgen muss, besteht eher die Gefahr, dass ein flüchtiger Leser oder ein seelenloses Bearbeitungsprogramm den Schluss zieht: „Hat noch kein Examen, kann noch gar keine Berufserfahrung haben, ist für Jobs mit geforderter Berufspraxis ungeeignet, Absage Typ B7 versenden, Ende.“ Oder so ähnlich.

Sie, geehrter Einsender, haben aber etwas anderes: Sie können zwar nicht mithalten, wenn „Ingenieure mit Berufspraxis“ gesucht werden – aber unter den „Berufsanfängern / -einsteigern / Absolventen“ sind Sie König. Als Angehöriger dieser Gruppe haben Sie sehr viel zu bieten.

Natürlich dürfen – und sollten – Sie es unverdrossen immer wieder probieren, auch bei Anzeigen mit geforderten Berufserfahrungen. Unter Blinden ist der Einäugige König – und vielleicht gibt es auf eine Ausschreibung irgendwann einmal keine „richtig“ erfahrenen Bewerber. Aber „young professional“ sind Sie noch nicht, so viel steht fest.

Sie merken schon: Das System lässt sich schwer überlisten. Das aber ist überall so: Auch ein Oberschüler, der sich schon vor dem Abi in jeder freien Minute in Uni-Vorlesungen aufhält, bekommt später nichts davon auf die erforderliche Anzahl echter Studiensemester angerechnet.

Und Sie, geehrter Einsender, haben sich jetzt (siehe zu /3) mit Ihrer Auffassung von „Erfahrung“ ausgerechnet bei einem der ganz wenigen, ganz großen und bei allen jungen Ingenieuren sehr begehrten OEM-Arbeitgeber beworben. Da wollen „alle“ hin, die Vorgesetzten dort können wählen unter den Super-Bewerbern des Landes. Schauen wir uns den Fall an:

Antwort/3:
Gehen wir ins Detail:
Die Anzeige spricht von thermodynamischer Auslegung und Serienapplikation von speziellen Verbrennungsmotoren und von Tests am Prüfstand und im Fahrzeug.Gefordert wird ein abgeschlossenes(!) passendes Studium. Die Stelle ist zum 1. eines bestimmten Monats zu besetzen, Sie jedoch können erst zum 2. eines anderen Monats ein Quartal später (warum am 2.? Wollen Sie kein Gehalt für den 1., bloß weil der ein Sonntag ist? Es gilt im Normalfall immer der 1. als Dienstbeginn).

Gefordert werden a) „erste Berufserfahrungen“ im Bereich der Motorenapplikation und b) Erfahrungen mit bestimmten, namentlich genannten Systemen (Tools). Und gutes Englisch (die Formulierung dazu in der Anzeige taugt nichts, aber die Forderung bleibt).Sie können nicht zum optimalen Termin anfangen, rühmen sich im Anschreiben Ihrer Tätigkeit in der Funktionsentwicklung eines Geräteherstellers (ich kann es nicht beweisen, glaube aber, dass die Automobilleute diese tragbaren Motoren nicht so besonders ernstnehmen – ob das berechtigt ist, spielt keine Rolle). Dann nennen Sie – die Anzeige verlangt das nicht – eine präzise Einkommensvorstellung, was beim Berufseinsteiger stets gefährlich ist (der Empfänger liest das gern, aber ob Ihnen das weiterhilft, ist eine völlig offene Frage), dann nennen Sie korrekt Ihr – zu spätes – Eintrittsdatum. Schließlich müssen Sie noch zugeben, dass Sie den Nachweis einer im Lebenslauf stehenden Praktikantentätigkeit noch nicht haben (ausgerechnet von einem Top-Unternehmen).

Die Absage dürfen Sie nicht zu sorgfältig analysieren, die Nennung der wahren Gründe ist nicht üblich.

Die Vermutung, es könnte an der Berufserfahrung gelegen haben, ist nicht von der Hand zu weisen, aber spekulativ. Immerhin: Wenn Sie es später noch einmal probieren, freut man sich, sagt man. Aber man wünscht Ihnen gleichzeitig viel Glück bei der Suche nach einer (anderen) Position. Es ist eine Absage, mehr nicht.

Antwort/4:
Letzteres können Sie so genau gar nicht wissen. Der Fragesteller im Gespräch weiß einfach, dass Sie mehr dazu nicht sagen können und bohrt nicht weiter. Aber er kann dennoch für sich festhalten: Das ist ein kritischer Punkt – und der damalige Beurteiler kannte ihn länger! Nicht jedes freundliche Lächeln des Arbeitgebervertreters heißt: „Ich finde alles toll.“

Hinzu kommt die „vorprägende Wirkung“ einer solchen Bewertung auf den Bewerbungsleser. Er sieht vor dem Kontakt: Da liegt offenbar die zentrale Schwachstelle des Kandidaten, dann sucht er im Gespräch danach – und wer gezielt sucht, findet schnell.Außerdem ist Ihre Abwehrargumentation nicht ganz logisch: Dieses Formularsystem wird nicht für „normale“ Angestellte, sondern nur für Werkstudenten und Praktikanten verwendet. Wenn der Vorgesetzte glaubt, Studenten könnten in dem Punkt gar nicht besser sein als schlecht (weil ihnen zwangsläufig Übung fehlt), dann müsste er seinen Standard ändern und in durchschnittlichen Fällen auch durchschnittliche Wertungen vergeben – ich kann an einen Werkstudenten nicht die Maßstäbe anlegen, denen ein Geschäftsführer genügen müsste. Für Sie als Trost: Wenn später das erste Arbeitgeberzeugnis über eine Ingenieurposition vorliegt, will dieses Kreuzchen-Formular niemand mehr sehen. Außerdem ist bei Ihnen die verbale Gesamtwertung eindeutig „sehr gut“.

Bei der Gelegenheit eine Bitte an Unternehmen: Tun Sie es nicht! Geben Sie als einziges Zeugnis für Praktikanten und Werkstudenten keines mit „Kreuzchen“ heraus. Für den Kandidaten sind diese klaren Aussagen zwar hilfreich, sie schaden ihm aber bei Bewerbungen. Begründung: Die klassischen, das Metier der Bewerbungsanalyse prägenden Arbeitgeberzeugnisse sind diejenigen aus „richtigen“ Arbeitsverhältnissen. Und die sind- ausnahmslos verbal (in ganzen Sätzen)- und mit einer Sorgfalt + Vorsicht formuliert, die man sonst rohen Eiern angedeihen lässt (weil Gesetze und Rechtsprechung dazu zwingen). Eine Formulierung „Auftreten schlechter als erforderlich“ oder so ist dort nicht üblich, weil nicht erlaubt. So besteht eine der üblichen Methoden bei der Formulierung klassischer Arbeitgeberzeugnisse darin, über ein kritisch zu bewertendes Kriterium gar nichts zu sagen. Selbst ein erfahrener Zeugnis-Jongleur wie ich müsste lange nachdenken, bis ihm eine zulässige Formulierung einfiele, die das ausdrücken könnte, was ein „jenseits der Mitte“ angesiedeltes Kreuzchen so brutal und unübersehbar in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt.

Im Klartext: Im „Kreuzchen-Zeugnis“ steht eindeutig „Sein zentraler Schwachpunkt ist das Auftreten vor anderen“. Da man als Leser dazu neigt, sich zunächst ausschließlich den aus großer Entfernung erkennbaren Schwäche-Kreuzchen zu widmen, während in den üblichen Prosa-Dokumenten entweder gar nichts dazu steht oder von hochqualifizierten Fachleuten mühsam etwas aus „harmlosen“ Textstellen herausdestilliert werden muss, sind Bewerber mit Kreuzchen-Zeugnissen gegenüber anderen im Nachteil. Was der Aussteller gar nicht beabsichtigt hatte. Schreiben Sie, liebe Personalleute, die Zeugnisse knapp, aber in Prosa und händigen Sie die Kreuzchen separat aus, dann bleibt auch der – durchaus wichtige Lerneffekt für die Betroffenen erhalten, aber der Bewerbungsempfänger sieht nur Text.

Antwort/5:
Es geht um einen Weltkonzern. Und da ist man halt ein wenig formalistisch. Niemand kann da „einfach so“ eine läppische Bescheinigung ausstellen, wo kämen wir denn da auch hin? Wir nennen solche Unzulänglichkeiten etwa: „Ein großes Haus kann Großes bieten“ – jeder weiß das. Sie müssen nur dem – denkbaren – Eindruck entgegentreten, Sie hätten dort Ärger gemacht, und das Unternehmen hätte Gründe für eine Verweigerung. Schreiben Sie in Bewerbungen also beispielsweise:“Leider konnte mir aus verwaltungstechnischen Gründen der Tätigkeitsnachweis über meine Zeit bei der XY GmbH noch nicht ausgehändigt werden. Vielleicht kann ich ihn anlässlich eines Gesprächs in Ihrem Hause bereits präsentieren. Mein damaliger Vorgesetzter hat mir versichert, dass ich eine positive Beurteilung erwarten darf.“

Kurzantwort:

1. „Richtige“ Berufserfahrung im eigentlichen Sinne setzt eine abgeschlossene Berufsausbildung, z. B. ein Studienexamen, voraus. Was vorher war, sind – sehr wichtige und hilfreiche – Praktika oder studentische Nebentätigkeiten, mehr nicht.

2. Absagen auf Bewerbungen enthalten kaum jemals die wirklichen Gründe; es ist sinnlos, jedes Wort „deuten“ zu wollen.

3. „Kreuzchen-Zeugnisse“ sind in ihren Wirkungen oft brutaler als die Standard-Prosa-Dokumente.

Frage-Nr.: 2566
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 24
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2012-06-14

Ein Beitrag von:

  • Heiko Mell

    Heiko Mell ist Karriereberater, Buchautor und freier Mitarbeiter der VDI nachrichten. Er verantwortet die Serie Karriereberatung innerhalb der VDI nachrichten.  Hier auf ingenieur.de haben wir ihm eine eigene Kategorie gewidmet.

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