Heiko Mell 02.01.2016, 07:37 Uhr

Nach Zweitstudium Orientierungsprobleme

Ich bin Dipl.-Ing. (Uni), Anfang 30, vier Berufsjahre. Zunächst war ich als Berechnungsingenieur tätig, heute – nach einem Arbeitgeberwechsel – arbeite ich in der Softwareentwicklung eines namhaften Unternehmens.

Noch beim ersten Arbeitgeber hatte ich ein berufsbegleitendes BWL-FH-Studium mit Schwerpunkt Marketingmanagement begonnen, dessen Abschluss demnächst bevorsteht. Ausgelöst worden war dieser Entschluss durch damalige Kurzarbeit. Damit wollte ich die Grundlage für spätere Führungs-/Managementaufgaben legen. Aufgrund der Vertiefung im Zweitstudium sehe ich meine Zukunft an der Schnittstelle zwischen Markt und Technik, d. h. im technischen Vertrieb oder im Produktmanagement.

Meine gegenwärtige Entwicklungsarbeit macht mir Spaß, ich habe mich in den fast zwei Jahren dort gut eingefunden und bin den mir gestellten Aufgaben gut gewachsen. Im kommenden Jahr wird ein neues Entwicklungsprojekt gestartet. Mir wurde (völlig unverbindlich) signalisiert, dass ich ein kleines Team während dieser Zeit fachlich leiten könne: Die Projektlaufzeit ist grob auf zwei bis drei Jahre ausgelegt.

An unserem Standort gibt es kaum eine Möglichkeit, eine Stelle im Bereich Vertrieb/Produktmanagement zu erhalten. Ein Umzug an die Firmenzentrale kommt für mich nicht in Frage. Eine fachliche Neuorientierung in Richtung „Anwendung des Zweitstudiums“ wäre also mit einem Arbeitgeberwechsel verbunden, den ich durchaus in Betracht ziehen würde.Meine Frage: Was ist sinnvoller, die Führungsaufgabe oder die fachliche Neuorientierung?

Ich habe Bedenken, dass ich mit Annahme der Führungsaufgabe die Weichen in die falsche Richtung stelle. Bei einer nachfolgenden Neuorientierung gäbe es bereits eine Lücke von zwei bis drei Jahren zwischen dem Abschluss des Zweitstudiums und einer Bewerbung im Vertrieb/Produktmanagement. In dieser Zeit verpasse ich die Möglichkeit, auf diesem neuen Gebiet relevante Berufserfahrung zu sammeln.

Andererseits sollten Arbeitgeberwechsel ja auch nicht zu schnell erfolgen und eine erste Führungsaufgabe erfüllt zu haben, wird wohl weder meinem Lebenslauf noch meiner persönlichen Entwicklung schaden.

Antwort:

Nein, das wird es wohl nicht. Aber ich werde Ihrer persönlichen Entwicklung schaden, wenn ich mich nicht stark zurückhalte. Ich liste einmal die Problembereiche auf:

1. Ich behaupte einmal: BWL-Absolventen sind den Ingenieuren an genereller Qualifikation haushoch überlegen. Beweis: Sie haben ihr einziges, armseliges, kleines Studium in der Tasche, gehen hin und machen Karriere. Ohne Minderwertigkeitsgefühle, ohne die geringste Lust, erst noch ein ergänzendes Ingenieurstudium durchzuziehen, um so – ich zitiere Sie – „die Grundlage für spätere Führungs-/Managementaufgaben zu legen“.Was müssen das für Kerle sein!

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Im Ernst: Ein solides (TU/FH) Ingenieurstudium reicht – wie jedes andere einzelne Studium auch – aus, um Karriere bis in höchste Hierarchieebenen hinauf zu machen. Im Falle des Ingenieurs bis zum Technischen Geschäftsführer oder Vorstand. Natürlich muss man auf dem Weg dorthin bereit sein, über den Tellerrand hinaus zu schauen, sich für Gegebenheiten außerhalb der reinen Technik zu interessieren, aber grundsätzlich kann man sich alle erforderlichen Kenntnisse auch beim – zwangsläufig allmählich verlaufenden – Hineinwachsen in immer größere Verantwortungsbereiche nebenbei erwerben. Wie es Tausende zuvor erfolgreich praktiziert haben.

 

2. Ein Ergänzungsstudium schadet – grundsätzlich gesehen – nie, schmückt seinen Träger sogar ungemein. Vor allem die Kenntnisse, die man erwirbt, können (und 5% davon werden) irgendwann einmal für die und bei der Ausübung des „alten“ Berufs äußerst hilfreich sein.

2.1 Es kann nur sein, dass der – erhebliche – Aufwand im Einzelfall den Nutzen übersteigt.

2.2 Und es kann sein, dass es den entsprechenden Menschen anschließend zu Überlegungen und Planungen verleitet, die ihm nicht gut tun. Und hier sind wir mitten in unserem Fall.Die Geschichte geht so: Ein – beispielsweise – Dipl.-Ing. E-Technik steht eines Tages im Beruf. Sagen wir, dass alles, was er im Studium an Basis- und Detailkenntnissen erworben hat, den Umfang von 100 „Punkten“ ausmacht. Dann akzeptiert er locker, dass er davon auf seinem künftigen Tätigkeitsgebiet vielleicht 5% anwenden kann. Die restlichen 95 „Wissenspunkte“ braucht er vielleicht nie, vielleicht kann er Bruchteile davon bei der Erledigung einer wichtigen Tätigkeit irgendwo mit anwenden. Schaden wird ihm sein breites Wissen nie, außerdem hat er während des Studiums nicht nur Wissen gepaukt, sondern auch Fähigkeiten erworben und trainiert. Aber mit dieser 5%-Quote (wenn Sie skeptisch sind, nehmen Sie 10) leben alle.

Und kein E-Ingenieur, der jetzt Software für Mobiltelefone entwickelt, der ja aber aus dem Studium auch etwas über die Erzeugung elektrischer Energie und die Funktion von E-Motoren weiß, verlangt nun, dass seine Handys ihn auch noch in Fragen der elektromotorischen Drehung und der Energiegewinnung fordern. Nein, er lebt mit der Nutzung jener 5%.

Aber lassen Sie unseren E-Ingenieur ein BWL-Zusatzstudium mit Vertiefungsrichtung X machen: Da ist dann nichts mit 5% Wissensnutzung aus dieser Zusatzausbildung, sondern da muss ein neuer Job her, in dem man (geschätzt) etwa 75% des Zusatzwissens anwenden kann. Und zwar sofort.

2.3 Daher glaube ich fest an folgende Zusammenhänge: Vom zusätzlich erworbenen Wissen her wird kein Zusatzstudium grundsätzlich schaden. Es wird sogar immer dann nützlich sein, wenn man das neuerworbene Wissen gelassen speichert, in Details gelegentlich auffrischt und für den Tag parat hält, an dem man Teile davon (5%) bei der Ausübung seines ursprünglichen Hauptberufs braucht.

Beispiel: Ein E-Ingenieur wird irgendwann Entwicklungsleiter. Und schlägt sich dann mit Entwicklungsbudgets (BWL), Target Costing (BWL), markt- und zielgruppenorientierter Produktentwicklung (Marketing) und dem Jahresabschluss einer neu gekauften kleinen Tochter (BWL) herum, bei der er zusätzlich in die GF berufen wird. Dann braucht er dieses Zusatzwissen, ob es nun im Studium oder autodidaktisch erworben wurde.

Dafür sind Zusatzstudien gut. Gefährlich werden sie nur, wenn sofort(!) nach Abschluss ein neuer Job gesucht wird, für den das neue Wissen zwingend erforderlich wäre. Ich halte es für möglich, dass in vielen Fällen damit mehr Unheil angerichtet wird als Nutzen dabei herauskommt.

Die Regel lautet: Zusatzstudien dienen vor allem dazu, die im „Hauptberuf“ anfallenden Aufgaben, die auf dem Fachwissen aus dem Hauptstudium fußen, noch besser, überzeugender und wirksamer für die eigene Karriere lösen zu können.Dieser Aspekt wird unterstrichen, wenn das Hauptstudium auf Uni- und das Zusatzstudium auf FH-Level angesiedelt ist.

 

3. Sie, geehrter Einsender, haben Ihr Zusatzstudium während des ersten Arbeitsverhältnisses angefangen und sind dann zum heutigen Unternehmen gewechselt. Sie wussten doch vorher, dass am gewählten Standort keine Jobs der von Ihnen gesuchten Art vorhanden sind und dass Sie – ohnehin fast immer ein Fehler bei hohen beruflichen Ansprüchen – nicht umziehen wollen. Sie wussten damit auch, dass Sie zur Realisierung Ihrer beruflichen Ziele nach Abschluss des Zusatzstudiums sofort erneut den Arbeitgeber würden wechseln müssen. S. a.

 

4. Sie können und dürfen jedoch den Arbeitgeber jetzt gar nicht wechseln. Es wäre dann der dritte in gut vier Jahren – das ist nicht zu verantworten. Zur Orientierung: Beim ersten Arbeitgeber sollten Sie mindestens zwei, beim zweiten etwa fünf Jahre geblieben sein. Dann wären Sie auf der sicheren Seite. Auch für den Fall, dass beim dritten Arbeitgeber etwas „passiert“.

Außerdem haben Sie, nimmt man nur einmal Ihre selbst formulierten Bezeichnungen im Lebenslauf, bei Ihren beiden kurzen Dienstzeiten (bisher) auch noch zwei sehr verschieden klingende Tätigkeitsbezeichnungen aufzuweisen. Sie sollten jetzt keinesfalls ein drittes Gebiet (Vertrieb/Marketing) anfangen, da ginge Ihnen der rote Faden völlig verloren.

 

5. Meine Empfehlung: Alles ist gut – sofern Sie dort bleiben, wo Sie sind, die Chance, die man Ihnen bietet, mit beiden Händen ergreifen und fachlich fortführen, was Ihnen „Spaß macht“. Sie brauchen nur dem Zusatzstudium jenen Rang zuzuweisen, der ihm gebührt.

Und es ist keineswegs sicher, dass gute Entwickler auch gute Vertriebler oder Produktmanager werden. Die Gebiete liegen auf der Skala menschlicher Begabungen nicht besonders nahe beisammen, vorsichtig gesagt.

 

6. Ein besonderes Kapitel hat die von Ihnen ins Spiel gebrachte „Schnittstellenfunktion“ verdient.

Ich gebe ja zu, sie hört sich grundsätzlich gut an: Hier steht nicht die profane Allerweltsrichtung A oder B oder C im Fokus des Tagesgeschäfts, hier sitzt man nicht auf einem Standardstuhl – sondern irgendwie mehr zwischen mehreren Stühlen (da auf mehreren gleichzeitig ja nicht geht). Das muss ich zu begründen versuchen:

6.1 Es spricht nichts, absolut gar nichts gegen die ganz normalen Standardpositionen ganz ohne besonderen Schnittstellenanteil. Beispiele: Entwicklungsingenieur, Betriebsingenieur, Vertriebsingenieur. Ihr Vorteil ist ein doppelter:

6.1.1 Es gibt auf dem Arbeitsmarkt sehr viele davon. Wer einen solchen Job und keine persönlichen Handikaps hat, findet immer wieder neue Chancen.

6.1.2 Diese Positionen sind Teil eines vorhandenen Laufbahnweges, der auf geradem Weg bis an die Spitze führt, Sie können von hier aus jede beliebige End- (GF) oder Zwischenposition (Entwicklungs-/Produktions-/Vertriebsleiter) zum Karriereziel erklären und grundsätzlich auch erreichen.

Ihr Nachteil: Standardfunktionen klingen oft gerade für den Anfänger nur durchschnittlich „spannend“ oder „faszinierend“. Das liegt u. a. daran, dass auch die Laufbahnspitze ganz alltäglich klingt: „Geschäftsführer“ ist ein „stinknormaler Allerweltsjob“, jede größere Firma hat mindestens einen. Dennoch ist dies die Krönung einer Laufbahn.

6.2 Vor- und Nachteile bei den Schnittstellenfunktionen sind genau umgekehrt zu sehen, letztere sind:

6.2.1 Es gibt auf dem Markt nur wenige davon. Es ist oft schwierig, beim Zwang zu einem Wechsel hinreichend neue Positionen von der Art zu finden, die man verloren hat oder aufgeben will.

6.2.2 Viele dieser Positionen stehen für sich isoliert, da sie nicht Teil eines vorgegebenen Laufbahnweges sind. Oft gibt es keinen vorgeprägten Weg nach oben, wer von dort aufsteigen will, muss kämpfen, erklären, Umwege gehen, Verluste in Kauf nehmen.

Ihr besonderer Vorteil: Schnittstellenaufgaben klingen gerade für den Anfänger besonders interessant – die Positionen hören sich nach etwas „Besonderem“ abseits der langweilig erscheinenden Standardfunktionen an.

Kurzantwort:

1. Ein betriebswirtschaftliches Zusatzstudium „schmückt“ jeden Ingenieur und ist mit Sicherheit bei der Lösung der ihm gestellten Aufgaben hilfreich. Aber es ist kein Grund, den Beruf nun auf die durch das Zusatzstudium vorgegebene Fachrichtung zu verlagern.

2. Standardfunktionen klassischer Prägung (Beispiel: Entwicklungsingenieur) sind meist in Laufbahnen eingebettet, die einen Aufstieg bis an die Unternehmensspitze zulassen. Die vermeintlich so reizvollen „Schnittstellenfunktionen“ sind oft eine deutlich schwächere Karrierebasis.

Frage-Nr.: 2588
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 45
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2012-11-07

Ein Beitrag von:

  • Heiko Mell

    Heiko Mell ist Karriereberater, Buchautor und freier Mitarbeiter der VDI nachrichten. Er verantwortet die Serie Karriereberatung innerhalb der VDI nachrichten.  Hier auf ingenieur.de haben wir ihm eine eigene Kategorie gewidmet.

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