Soll ich meine Promotion abbrechen?
Frage/1: (In einer etwas komplizierten Einleitung, in der Sie verschiedene Aussagen von mir zitieren, die sich teils mit dem Ausschöpfen vorhandenen Potenzials durch eine Promotion, teils mit dem Abraten von einer Promotion bei Wirtschaftsingenieuren beschäftigen und bis zur Frage 1.208 zurückgehen – jetzt sind wir bei 2.840 –,teilen Sie mir mit: Sie sind Dipl.-Wirtschaftsingenieur, Diplom mit Auszeichnung (1,1), derzeit wis-senschaftlicher Mitarbeiter an einem Uni-Institut und ziemlich frustriert; H. Mell). Als mögliche Schlussfolgerung wäre die Wahl des falschen Studienganges zu nennen, der nicht so recht zur Promotion passt. Ich hätte vielleicht eher reinen Maschinenbau studieren sollen, aber nun arbeite ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für … der Universität …, um auf diesem Weg ein „vollwertiger Ingenieur“ zu werden. Frage/2: Nach meiner ersten Phase am Institut fühle ich mich desillusioniert und demotiviert: Ein passendes Promotionsthema ist nicht in Sicht, ich spüre in dieser Hinsicht keine Unterstützung durch den institutsleitenden Professor. Der Promotionsfortschritt dienstälterer Kollegen gibt wenig Anlass zur Hoffnung. Eine lange Promotionsdauer ist nicht zu umgehen, echte Forschung findet nicht statt, die Institutsaktivitäten beschränken sich weitgehend darauf, Geld mit Arbeiten für die Industrie zu verdienen. Nun denke ich darüber nach, das Institut zu wechseln oder das Promotionsvorhaben aufzugeben und einen Berufseinstieg in der Industrie zu suchen. Erschwert wird mir die Entscheidung da-durch, dass mir der Maschinenbau im Sinne von Technikverstand und –begeisterung so-wie praxisnaher Anwendung wohl nie ganz in Fleisch und Blut übergehen wird. Meine Stärken sehe ich eher auf einer theoretisch-abstrakten Ebene, wie ich sie im Studium im Bereich der Modellierung und Simulation für mich entdeckt habe. Dies könnte einerseits dazu führen, dass in der Zukunft Erwartun-gen an mich als eventueller Dr.-Ing. gestellt werden, die ich nicht erfüllen kann. Anderer-seits erschwert es mir aber auch, als Wirt-schaftsingenieur ein passendes Berufsprofil für den Einstieg in die Industrie zu finden. Hier macht sich mein Versäumnis, durch In-dustriepraktika relevante Praxiserfahrung zu sammeln, deutlich bemerkbar. Mit der Promotion wollte ich zu einem „voll-wertigen Ingenieur“ werden, jedoch sehe ich mich anschließend nicht in der F&E und wei-se im Vergleich zu „Vollblut“-Ingenieuren De-fizite im technischen Fachwissen auf. Die üblichen Aufgaben eines Wirtschaftsingenieurs in der Industrie (Vertrieb, Einkauf, Produktmanagement, Produktionsplanung usw.) scheinen nicht wirklich meiner Persönlichkeit und Eignung zu entsprechen. Ich sitze zwischen den Stühlen und weiß nicht, wohin mit mir.
Antwort:
Antwort/1: Damit niemand auf falsche Gedanken kommt: Sachlich spricht gar nichts gegen die Promotion von Dipl.-Wirtschaftsingenieuren. Ich weise nur immer wieder darauf hin, dass promovierte Dipl.-Wirtschaftsingenieure nur sehr selten gesucht werden. Da die Promotion auch hier die üblichen fünf Jahre dauert, wäre diese Zeit bei dieser Berufsgruppe vermutlich karriererefördernder in der beruflichen Praxis angelegt.Wer dennoch promoviert, kann also kaum erwarten, mit seiner zusätzlichen Qualifikation ein dringendes Bedürfnis des Marktes zu erfüllen – er muss das tun, weil es ihm selbst etwas bedeutet, weil er den Ausweis der vertieften wissenschaftlichen Befähigung gern hat und weil er sich nicht vordergründig an kurz- bis mittelfristigen Ertragsüberlegungen ausrichtet.Die Idee, sich als Wirtschaftsingenieur nicht als „vollwertiger Ingenieur“ zu fühlen, dann zum Dr.-Ing. zu promovieren, um etwa Maschinenbauern ebenbürtig zu sein, halte ich für ziemlich gewagt. Ein Wirtschaftsingenieur bleibt auch nach seiner Promotion ein Wirtschaftsingenieur, nur eben einer mit Zusatzqualifikation. Im Regelfall wird er immer noch kein Entwicklungs- oder Betriebsingenieur. Denn: Der Maschinenbauer mit Promotion hat vielleicht eine dem Dipl.-Wirtschaftsingenieur vergleichbare Dissertation geschrieben, aber er hat zusätzlich sein volles Maschinenbaustudium, das der Wirtschaftsingenieur auch nach der Promotion (auf einem sehr engen Teilgebiet der Technik) nicht hat. Dafür hat der promovierte Dipl.-Wirtschaftsingenieur betriebswirtschaftliche Kenntnisse, die der Maschinenbauer erst einmal nicht hat.Aber der Plan, per Promotion vom Dipl.-Wirtschaftsingenieur zum Maschinenbauer technisch aufzuschließen und sich dann um Positionen zu bemühen, für die ein Dr.-Ing. Maschinenbau gesucht wird, scheint mir etwas realitätsfern zu sein.Sagen wir es so: Auch Dipl.-Wirtschaftsingenieure, ob nun mit oder ohne Promotion, können Vorstandsmitglieder werden, warum auch nicht. Bloß werden sie es in der Regel nicht über die Laufbahn des Entwicklungs- oder Produktionsleiters.Habe ich hier eigentlich schon gesagt, dass Einser-Kandidaten oft so ihre ganz besonderen Probleme mit sich herumtragen? Ich glaube, ich habe.Antwort/2: Nun ist genug gejammert – obwohl in Ihrem Brief jetzt noch eine eng beschriebene Seite, „Werdegang“ betitelt, folgt. Dazu dann noch der Lebenslauf (der stets für mich interessant ist).Wenn jemand dumm wäre, sollte man ihn nur sehr vorsichtig kritisieren. Aber bei Ihrem Uni-Abschluss mit Auszeichnung liegt der Verdacht ja wohl fern. Also dann:Sie haben jetzt herausgefunden (vermutlich durch das Lesen von Stellenanzeigen), was man in der Praxis einen Dipl.-Wirtschafts-ingenieur so tun lässt. Hätten Sie das nach dem Abitur erarbeitet, wären Ihnen viele Probleme erspart geblieben. Nun, vielleicht ist das etwas viel verlangt.Aber es gibt noch eine andere Regel: Wenn Sie keinen sehr guten Grund dafür haben, eine vom Standard abweichende Studienrichtung zu wählen, dann nehmen Sie die Standardrichtung. Persönlich profilieren können Sie sich dann immer noch durch ein besonders kurzes, ein besonders gutes, ein besonders internationales, ein mit besonders gutem Ergebnis abgeschlossenes, mit besonders vielen Praktika durchsetztes Studium. Standards wären in Ihrem Fall Maschinenbau oder Betriebswirtschaft gewesen.Der Wirtschaftsingenieur ist eine interessante Kombination aus beidem, er ist ideal geeignet für entsprechende Schnittstellenfunktionen, aber es ist auch klar, dass er bei gleicher Studiendauer weder den technischen Tiefgang des Maschinenbauers, noch die betriebswirtschaftliche Detailqualifikation des Dipl.-Kaufmanns erreicht.Was nun können Sie tun?1. Weiterführung des Promotionsprojekts: Für Sie bedeutet das, sich noch mehrere Jahre lang weiter auf einem Weg zu quälen, bei dem ungewiss ist, ob Sie überhaupt jemals die Promotion erreichen. Und wenn das geschafft ist, sind Sie immer noch ein promovierter Wirtschaftsingenieur und immer noch nicht völlig mit dem Maschinenbauer vergleichbar. Also: Quälerei mit ungewissem Ausgang. Aber: Wenn es geschafft ist, haben Sie keinen Fleck auf Ihrer „Werdegangweste“, haben ein begonnenes Vorhaben zu Ende geführt, haken die frustrierenden Jahre ab und starten nach außen hin völlig unbelastet Ihre Karriere als Dipl.-Wirtschaftsingenieur mit (nur sehr selten gezielt gesuchter) Promotion, die Ihnen also kaum honoriert werden wird. Aber Sie werden alt (33) beim Berufseinstieg sein, Sie haben zu lange studiert.Fazit: Grundsätzlich zumutbar, aber für einen anspruchsvollen Einser-Kandidaten kaum die Ideallösung – die Frustrationstoleranz von solchen Menschen liegt eher niedriger als die des Durchschnitts.2. Endgültiger Abbruch des Promotionsvorhabens: Zeitlich das kleinste Übel, Sie verlieren nur das eine bisher investierte Jahr. Der Abbruch bleibt ein kleiner Fleck auf Ihrer Werdegangweste. Kommt in den nächsten Jahren kein neuer „Unfall“ dazu, verblasst der Fleck im Laufe der Zeit bis zur Unkenntlichkeit. Aber: Ihnen bleiben die – von Ihnen ungeliebten – Standardaufgaben eines Wirtschaftsingenieurs. Und Sie haben das Potenzial des 1,1er-Kandidaten nicht vollständig genutzt.Fazit: Es könnte das kleinste aller Übel sein.3. Neustart des Promotionsvorhabens am anderen Ort: Sie verlieren ein Jahr, bringen aber Ihr einmal begonnenes Vorhaben zum Abschluss. Nachteil: Ihre speziellen Ziele erreichen Sie eher nicht (Gleichwertigkeit mit Maschinenbauern bei der technischen Detailqualifikation, promovierte Wirtschaftsingenieure sucht immer noch kaum jemand). Fazit: Sie wären vermutlich 34 beim Berufseintritt – mit ungewissen Chancen.4. Wären Sie heute Maschinenbauer und würden Sie das Fehlen betriebswirtschaftlicher Kenntnisse beklagen, könnte man Ihnen Aufbaustudien empfehlen – Altersprobleme eingeschlossen. In Ihrem Fall jedoch ist das schwieriger. In Ihrem Alter können Sie ein Hauptstudium als Maschinenbauer an der Uni nicht mehr nachholen – und promovieren müssten Sie danach immer noch. Falls es jedoch, was ich nicht weiß, z. B. die Möglichkeit eines Hauptstudiums des Maschinenbaus an der Fernuni gibt und Ihr Vorexamen anerkannt würde, könnten Sie das neben Ihrer Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter durchziehen. Sie würden dann am Schluss (in etwa vier Jahren) sein: Dipl.-Wirtsch.-Ing., Dipl.-Ing. Maschinenbau, Dr.-Ing.Fazit: Sie wären ein bisschen zu alt, am Ideal gemessen, aber sonst fast am Ziel Ihrer Wünsche.Generelle Empfehlung von mir: Sie sind, nach eigener Entscheidung in einem freien Land, Dipl.-Wirtschaftsingenieur mit ausgezeichnetem Examen. Hören Sie auf, sich einzureden, alle typischen Tätigkeiten dieses Berufs wären nichts für Sie. Falls Ihre Wahl jetzt auf den Weg zu 2. fällt: Suchen Sie sich eine Position dieser Art in einem möglichst großen Unternehmen und fangen Sie erst einmal an. Klares Ziel: Sie begeistern dort mit Ihrer Arbeit und Ihrem Auftreten Ihre Chefs. Fachlich werden Sie auf keine Probleme stoßen, Einser-Leute werden mit jeder entsprechenden Anforderung fertig. Ihre „tiefe Zufriedenheit“ kommt später, Sie legen erst einmal ein Fundament. Dann schauen Sie sich intern nach höherwertigen Aufgaben um, vielleicht in einem ganz anderen Fachgebiet. Es wird ohnehin niemand, der auf sich hält, in seiner Startposition pensioniert.Noch ein Hinweis sei mir erlaubt: Wir stoßen in Ihrem Fall ständig auf Entscheidungen von Ihnen, die sich als nicht glücklich erwiesen haben: das Studium in der falschen Fachrichtung, die nicht ausreichenden Industriepraktika, die Wahl des falschen Hochschulinstituts für die Promotion – und das alles bei Ihren überdurchschnittlichen geistigen Fähigkeiten. Vermutlich legen Sie Ihre Entscheidungsfindung viel zu kompliziert an. Tun Sie einfach mehr „das Übliche“, aber tun Sie das besser als andere. Mein Standardbeispiel: Vorstandsvorsitzender ist ein „stinknormaler“ Job, jede kleine AG hat ihn. Man kommt dort hin wie ein Marathon-Läufer zur Goldmedaille: auf üblichen, in der Regel vorgegebenen Standardwegen, man muss nur ein wenig schneller als die anderen sein.
Kurzantwort:
Service für Querleser:
Wer in standardisierten Umgebungen (In-dustrie) etwas werden will, nutze eine überdurchschnittliche Begabung besser nicht, um „ganz eigene Wege“ zu gehen. Mit dem Beschreiten klassischer Wege, allerdings in etwas schnellerer Gangart als andere, kommt man weiter.
Frage-Nr.: 2840
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 42
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2016-10-20
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