Beruf und Berufung: Selbst mit 71 noch ein gefragter Experte
Der Karriereberater Heiko Mell diskutiert mit seinen Lesern erneut das zeitlose Thema Führung und untersucht, warum der Beruf manchmal als Berufung empfunden wird.
Frage:
Seit Jahrzehnten lese ich Ihre Karriereberatung mit großem Gewinn – aber auch mit Genuss, dies ob Ihrer prägnanten Formulierungen. Ihre Ratschläge helfen mir, die Arbeitswelt immer besser zu verstehen. Oft habe ich Berufskollegen auf Ihre Serie aufmerksam gemacht. Hin und wieder habe ich auch bei beruflichen Veränderungsplänen Ihre persönliche Mitwirkung in Anspruch genommen, z. B. bei der Abfassung eines Zwischenzeugnisses.
Ich weise nicht die klassische „Karriere“ mit Aufstiegsorientierung auf. 1979 bin ich als junger TU-Maschinenbau-Ingenieur in den väterlichen Minibetrieb eingestiegen. Da aber sowohl mein Vater als auch ich einen starken Willen und eine Abneigung gegen Unterordnung hatten, entschied ich mich für eine Zusatzausbildung zum Schweißfachingenieur (SFI) und wollte mit Ende 20 mein Brot allein verdienen.
Nach einigen Schwierigkeiten gelang es mir, bei einem familiengeführten Unternehmen der Bolzenschweißtechnik als Verkaufsingenieur einzusteigen. Dort war ich mehr als 37 Jahre tätig und habe mir – ohne großen hierarchischen Aufstieg – eine ausgezeichnete Position als Spezialist auf diesem Gebiet erarbeitet und u. a. diverse Fachartikel und ein Standardwerk über diese Nische der Schweißtechnik veröffentlicht.
Bei der Einstellung hatte ich mir ausbedungen, nicht als klassischer Angestellter, sondern – geprägt durch die Ausrichtung auf Eigeninitiative im väterlichen Betrieb – als freier Mitarbeiter tätig zu werden. Das hatte der Inhaber letztlich akzeptiert. Als er eines Tages sein Unternehmen verkaufte, bekamen wir einen angestellten Geschäftsführer, mit dem ich nie richtig warm wurde. Es gab wegen seines Führungsstils manch harte Auseinandersetzung. Als ich 66 war, leitete er mit der Aufforderung an mich, einen jungen Nachfolger aufzubauen, mein Beschäftigungsende dort ein.
„Sie sind für mich der Beweis, dass Beruf im Idealfall auch Berufung ist“
Ein Wettbewerber bot mir einen adäquaten Vertrag an – und neulich sagte mir der Geschäftsführer, ich könne dort bleiben, bis ich 100 wäre …
Ich habe erfahren, dass Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Berechenbarkeit die tragenden Säulen einer Zusammenarbeit sind. Einige weitere Grundsätze habe ich Ihren Artikeln entnommen. „Tue das, was du tust, immer 100%-ig (oder besser). Deine Arbeit muss höchsten Ansprüchen genügen, gib dich nicht mit Halbheiten zufrieden, auch nicht in Kleinigkeiten. Schaue nicht aufs Geld, das kommt bei guter, ehrlicher Arbeit von allein.“
Sachlichen Konflikten bin ich nie ausgewichen, habe nie nach (offizieller) Führungsverantwortung gestrebt, werde aber als Fachmann überall akzeptiert. Mein väterliches Gen „allein gegen alle“ habe ich einigermaßen gezähmt, wegen meiner immer selbstständigen (nicht angestellten) Position wurde ich von meinen angestellten Kollegen oft beneidet.
Ich kann bestätigen, dass die von Ihnen beschriebenen Spielregeln des Berufslebens zutreffen und dass ihre Einhaltung Grundlage erfolgreichen Wirkens ist. Für mich gehört dazu ein (Fach-)Gebiet, in das ich tief eingedrungen bin und das ich mir praktisch zum Hobby gemacht habe. Sicher kein alltäglicher Weg, schon gar nicht als freiberuflicher Mitarbeiter, aber ein für mich sehr erfolgreicher. Selbst mit 71 Jahren bin ich ein gefragter Experte auch für Baustelleneinsätze, und ich muss manche Anfrage ablehnen.
Lieber Herr Dr. Mell, ich danke Ihnen für die wertvollen Ratschläge: ein in meinen Augen unverzichtbarer Schatz für alle Menschen im Berufsleben, nicht nur für Ingenieure.
Sie sind für mich der Beweis, dass Beruf im Idealfall auch Berufung ist.
„Ewigkeitsthema Führung“
Antwort:
Eine mir besonders wichtige Bewertung meiner Arbeit – durch einen Mann, der eigentlich das genaue Gegenteil meiner hier angesprochenen Zielgruppe ist.
Schon der Vater-Sohn-Konflikt (zwei Personen vom Typ „allein gegen alle“ in einer Mini-Firma!) hatte gezeigt, dass zumindest dieser Einsender nicht zum Angestellten taugt. Der wäre abhängig beschäftigt, arbeitete weisungsgebunden wäre ist täglich in Sachen „Anpassung“ gefordert. Das hat der Einsender früh erkannt und die richtigen Konsequenzen daraus gezogen: freie Mitarbeit mit hoher Selbstständigkeit unter Verzicht auf eine Führungslaufbahn.
Auf zwei dargestellte Besonderheiten weise ich unter diesen Umständen besonders hin: Die langjährige, sehr harmonische Zusammenarbeit mit einem Inhaber ist typisch und zur Nachahmung empfohlen. Ein geschäftsführender Gesellschafter ist entweder extrem unsicher und besonders empfindlich gegen jede auch nur angedeutete Herausforderung – der ist hier nicht gemeint. Oder er ist absolut souverän, nicht so leicht zu erschüttern und für jedes interessante Experiment zu haben: Ihn kritisiert ja niemand, er muss sich vor niemandem verantworten und kann Risiken eingehen, so viele er mag. So einen hatten Sie als langjährigen Chef.
Auch absolut folgerichtig: Der nachfolgende angestellte (Konzern-)GF konnte nichts mit Ihnen anfangen und war bestrebt, den „Fremdkörper“ schnell loszuwerden. Er hat mein Mitgefühl, er konnte nicht anders!
Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass selbst Außenseiter zugeben, dass ich das System richtig beschreibe. Das bedeutet mir etwas.
Und zum „Ewigkeitsthema Führung“: Wer in einem hierarchischen System aufsteigen will, der muss jederzeit ein schlichtes, aber voller Überzeugung geäußertes „Jawoll, Herr Major“ ebenso selbstverständlich hervorbringen wie entgegennehmen (!). Für eine „harte Auseinandersetzung“ mit dem Vorgesetzten wegen seines Führungsstils ist im real existierenden System kein Raum. Sie dürfen daraufhin „schade“ sagen, aber es nützt nichts.
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