Besetzung der Chefposition: als „Überflieger“ Chef-Chef werden?
Der renommierte Karriereberater Heiko Mell tauscht sich gerade intensiv mit seinen Lesern über die Frage aus, ob es möglich ist, als Überflieger die höchste Führungsposition, die des Chef-Chefs, zu erreichen. Gemeinsam beleuchten sie, welche Chancen realistisch sind und welche nicht.
Frage
Ich bin seit einigen Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer deutschen Großforschungseinrichtung und arbeite in vielen Projekten eng mit Partnern aus der Industrie zusammen. Ihre Karriereberatung verfolge ich stets mit großem Interesse, auch wenn sich viele Abläufe, die in der Industrie üblich sind, aus meiner Sicht nicht so einfach auf eine Forschungseinrichtung übertragen lassen. Unter anderem ist die Karriereplanung in meinem Bereich schwieriger abseh- und umsetzbar. Der Zufall, dass man gerade das richtige Alter und die Erfahrung hat, wenn eine Führungsposition „frei“ wird, ist häufig ein wesentlicher Faktor.
Karrierechancen: Nicht jeder überall hin passt
Antwort
Nicht in jedem Einzelfall, aber nach meiner Erfahrung gilt: Als Angestellter ist man entweder etwas Interessantes oder man tut etwas Interessantes – aber nur selten fällt beides zusammen. Lassen Sie das einmal auf der Zunge zergehen.
Den Bereichsleiter eines weltweit agierenden Großkonzerns beispielsweise fragt man nicht mehr, was er denn den ganzen Tag so macht – die Antwort wäre unergiebig. Ihn fragt man nach der Hierarchiestufe, in der er angesiedelt ist, nach der Zahl und der fachlichen Ausrichtung der ihm unterstellten Abteilungen, nach den strategischen Plänen des Vorstandes, nach der Marktsituation in seiner Branche etc. Und den ausführenden Mitarbeiter am anderen Ende der Hierarchiestruktur jedoch fragt man, was er denn im Detail so macht, an welchen fachlichen Problemen er arbeitet, welche Werkzeuge (Tools) er einsetzt und ebenfalls etc.
Wenn das alles so stimmt, wovon ich absolut überzeugt bin, und wenn auch Sie mit Ihrer bisherigen Betrachtung richtig liegen – dann sollte ein Angestellter, der vorrangig etwas „werden“ will, nicht unbedingt zu einem Arbeitgeber wie dem Ihren gehen, während jemand, dem es allein oder doch vorrangig um die tägliche fachliche Herausforderung geht, dort sehr gut aufgehoben sein sollte.
Das bedeutet, dass nicht jeder überall hin passt (was wir schon wussten) und dass man beim Eintritt in das Berufsleben nicht nur auf den Start-Job schauen sollte, sondern deutlich darüber hinaus. Für Sie heißt das: Beklagen Sie sich nicht über die höchst geringen Karrierechancen dort, das hätten Sie vorher wissen und bei der Auswahl des Arbeitgebers berücksichtigen können. Damit verbinde ich keinerlei Kritik an Ihnen oder an Ihrer Aussage, ich nutze einfach die Gelegenheit, um anderen Lesern die Zusammenhänge zu verdeutlichen. Die hier – wie so oft – verblüffend simpel und nahezu durch reine Logik erfassbar sind.
Man darf also nicht sagen: „Ich bin nichts ‚geworden‘ (im Sinne einer Karriere), weil es bei uns prinzipbedingt so wenige Chancen gibt“, sondern muss ehrlich zugeben: „Ich habe mir sehenden Auges einen meinem Persönlichkeitstyp des eher fachlich Interessierten entsprechenden Arbeitgeber gesucht und bin glücklich mit dem, was der mir an Möglichkeiten zur fachlichen Selbstverwirklichung bietet.“
Für mich ist die obige Analyse absolut überzeugend, uneingeschränkt richtig und in ihrer klaren Aussage nahezu alternativlos. Warum nur werde ich das Gefühl nicht los, dass das nicht jeder spontan so sehen wird?
Ist ein doppelter Aufstieg möglich?
Frage
Aktuell ist die Abteilungsleitung in der Abteilung, in der ich arbeite, unbesetzt, weil der bisherige Abteilungsleiter aufgestiegen ist. Im Hinblick auf eine interne Nachfolge stellt sich die Situation so dar, dass die nach den üblichen Regeln infrage kommenden Kandidaten aus dem Kreis der Gruppenleitungen keine Ambitionen zeigen und dies auch offen kommunizieren.
Nun ist mein Gruppenleiter auf mich zugekommen mit der Frage, ob ich mir vorstellen könnte, mich zu bewerben. Er kennt mich seit meinem Einstieg sehr gut, wir haben ein sehr vertrauensvolles Verhältnis. Ich halte generell viel von seinen Einschätzungen. Nun war ich sehr verblüfft darüber, dass er sich mich in der Position des Abteilungsleiters (also seines Chefs) vorstellen kann. Aus meiner jetzigen Position wäre das ein doppelter Aufstieg ohne die Zwischenstufe Gruppenleitung.
Er hat mir angeboten, die Einschätzung der anderen Gruppenleitungen zu erfragen und so ein Stimmungsbild in Bezug auf meine Person zu bekommen. Ich bin in der Abteilung gut vernetzt und werde von vielen, wenn nicht von allen, wertgeschätzt. Ich könnte mir vorstellen, dass die anderen Gruppenleiter unter den beschriebenen Umständen einen solchen Schritt mittragen würden.
Antwort
Zur Kernfrage, ob Sie „es“ wagen sollten, komme ich gleich. Zunächst müssen wir die bisher dargestellten Fakten bewerten:
Was findet hier eigentlich statt? Es klingt nach einem fröhlichen Spiel „Die Mitarbeiter der Abteilung, angeführt von einem Gruppenleiter (oder mehreren davon) suchen sich einen neuen Chef“. Wenn die Inhaber der höheren Managementpositionen oberhalb der Abteilungsleiterebene das zulassen, dann … (ich schenke mir eine Bewertung).
Nach guter alter deutscher Sitte werden Führungspositionen durch Entscheider in den Ebenen oberhalb der offenen Position besetzt, in Ihrem Fall also durch Hauptabteilungs oder Bereichsleiter bzw. den entsprechenden Managern, die bei Ihnen natürlich andere Bezeichnungen tragen können.
Von der Meinung dieser zumindest in Unternehmen der freien Wirtschaft allein maßgeblichen Personen aber ist bisher bei Ihnen überhaupt noch nicht die Rede. Die erstarren gemeinhin nicht vor Ehrfurcht ob der Empfehlung eines Gruppenleiters bei der Besetzung von Abteilungsleiterjobs.
Selbst ein ausscheidender Abteilungsleiter kann seinen Nachfolger nicht bestimmen. Er darf – manchmal – höchst unverbindliche Empfehlungen äußern (Als Ausnahme gilt der Fall eines linearen Aufstiegs des Abteilungsleiters zum Hauptabteilungs-/Bereichsleiter im bisherigen Fachbereich, womit er Chef der in seiner Nachfolge zu besetzenden Position würde. Dann hätte er sogar die entscheidende Stimme).
Aber ein Gruppenleiter, der unterhalb des Abteilungsleiters eingeordnet ist, hat in der Regel nichts mit der Besetzung der übergeordneten Abteilungsleiter-Position zu tun. Seine Möglichkeiten der aktiven Mitwirkung sind extrem (!) gering, seine Empfehlungen in dieser Hinsicht sind nahezu ohne Bedeutung. Er kann – warum auch immer – einen ihm unterstellten „Sachbearbeiter“ zu einer solchen Bewerbung überreden, versprechen aber kann er ihm in dieser Hinsicht gar nichts. Und ob seine Empfehlung überhaupt „oben“ als hilfreich angesehen wird, ist auch noch völlig offen.
„Sprung-Beförderung“?
Richtig gesehen haben Ihr Gruppenleiter und Sie, dass es entscheidend darauf ankommt, was die Gemeinschaft der Gruppenleiter von dieser „Sprung-Beförderung“ hält. Wenn die – was ihr gutes Recht wäre – diese extrem ungewöhnliche Aktion missbilligen, Ihnen mit Misstrauen begegnen und die Gefolgschaft verweigern, ist das Vorhaben „gestorben“.
„Von unten“ kommende Initiative zur Besetzung der Chefposition
In dem mir vertrauten Bereich der Unternehmen der freien Wirtschaft würde der „von unten“ kommenden Initiative zur Besetzung der Chefposition mit einem in Führungsangelegenheiten total unerfahrenen Kandidaten im Sprung über eine ganze Ebene hinweg mit äußerstem Misstrauen begegnet werden. Tenor: „Die Herren Gruppenleiter suchen sich einen äußerst schwachen, ihnen bisher unterstellten Chef aus, weil sie meinen, mit dem leichtes Spiel zu haben. Dabei scheuen sie selbst die Übernahme von mehr Verantwortung. Das, liebe Leute, habt ihr euch ja sehr fein ausgedacht. Da säße dann ein Chef auf dem Stuhl des Abteilungsleiters, der seinen Job seinen unterstellten Mitarbeitern verdankt. Kommt ja überhaupt nicht in Frage.“
Einschränkung: Ihr Arbeitgeber ist eine sehr spezielle Institution, die vermutlich im öffentlichen Dienst verankert ist. Sollte es dort im Bereich der Führungskräfte-Ernennung Rituale geben, die mir nicht vertraut sind, dann wird mir das ganz sicher jemand mitteilen – und ich lerne gern dazu. Ich gehe bei meiner Betrachtung vom Industriestandard aus, der sicher auch hier bei vielen Aspekten Gültigkeit hat, in formalen Details aber ggf. nicht überall zutrifft.
Zu jung für den Aufstieg?
Frage
Ich sehe die Gefahr, dass die anderen Gruppenleiter mich als zu jung einschätzen. Das würde ich eventuell auch selbst denken. Aber wenn ich einen solchen Schritt nicht in der jetzigen Situation angehe, ist die Abteilungsleitung für die nächsten zwanzig Jahre besetzt und damit ein entsprechender Aufstieg für mich in weite Ferne gerückt.
Gesetzt des Falls (das muss „gesetzt den Fall“ heißen, ich nutze die Gelegenheit, „aus gegebenem Anlass“ einmal darauf hinzuweisen; H. Mell), dass ich die Unterstützung der Abteilung bekäme und die Bewerbung erfolgreich wäre, welche Risiken und Chancen sehen Sie? Wie gehen erfahrene Führungskräfte damit um, wenn einer ihrer Mitarbeiter ihre Hierarchiestufe überspringt und plötzlich ihr Vorgesetzter wird? Kann ich als Abteilungsleitung in enger Kooperation mit den erfahrenen Gruppenleitern in diese Rolle hineinwachsen und gemeinsam lernen? Oder ist man „da oben“ doch nur auf sich allein gestellt?
Antwort
Nun sind wir also beim harten Kern ganzen Geschichte. Mir fällt dazu ein:
Sie denken in meinen Augen verblüffend, ja gefährlich „kurz“. Sie beschäftigen sich immer nur mit den Gruppenleitern, die heute über Ihnen stehen und deren Chef Sie werden wollen, aber die entscheidenden Führungskräfte oberhalb Ihrer Traumposition tauchen bei Ihnen überhaupt nicht auf. Wenn Sie scheitern (nicht mit der Bewerbung, sondern später im Amt), dann entlässt oder degradiert Sie Ihr potenzieller Chef („Hauptabteilungsleiter“), Sie werden hingegen nicht von der Versammlung der Gruppenleiter abgewählt und in die Wüste geschickt.
Sie brauchen also unter allen Umständen – auch schon zur Realisierung einer möglichen Bewerbung – das Wohlwollen des zuständigen „Hauptabteilungsleiters“. Wenn Sie das Projekt angehen wollen: Gehen Sie vorher hin und fragen Sie den, was er von dem ganzen Vorhaben hält. Und verfolgen Sie das Projekt nicht weiter, wenn er dagegen ist oder es sogar für eine „Schnapsidee“ hält!
Wendet man die gängigen Regeln der Karrieregestaltung an, so muss man Ihnen ganz entschieden von dem Vorhaben abraten. Die Gefahr eines späteren Scheiterns ist zu groß: Schon die Beförderung eines Mitarbeiters zum Chef seiner bisherigen Kollegen gilt als gewagt und risikobehaftet. Die Ernennung zum künftigen Chef seiner bisherigen Chefs hat man überhaupt nicht „auf dem Schirm“. Hinzu kommt, dass Sie bisher noch gar nicht geführt haben, da ist der Sprung um zwei Ebenen extrem riskant.
Sie dürften später als Abteilungsleiter „Wachs in den Händen“ der Gruppenleiter, Ihrer bisherigen Vorgesetzten, sein. Das sind erfahrene, gestandene Leute – die niemals vergessen, dass Sie von ganz unten kommen und ihnen Ihren Aufstieg verdanken. Wie Sie denen den Ihrer Abteilungsleiterposition gebührenden Respekt abringen wollen, ist völlig unklar.
Wenn Sie bereits mit der Bewerbung scheitern (womit Sie rechnen müssen), haben Sie sich im Hause ein bisschen blamiert, aber das vergeht. Die Gemeinschaft vergisst so etwas irgendwann in den von Ihnen genannten nächsten zwanzig Jahren.
Aber die Person, die dann Abteilungsleiter und damit Ihr Chef wird, müsste Sie nach den Regeln mit großem Misstrauen betrachten – Sie hatten ihren Job gewollt und wollen ihn vermutlich noch immer. Sie sind dann ein potenzieller Feind Ihres neuen Chef-Chefs.
Über das, was Ihnen „blüht“, wenn Sie das Amt bekommen und dann scheitern (womit Sie ebenfalls rechnen müssen), kann man nur spekulieren. Auf jeden Fall wäre es das Ende (fast) aller Karriereträume in dieser Institution.
Es mag Sie verblüffen, aber dieser Punkt zielt komplett in die andere Richtung. Schön, die Wahrscheinlichkeit spricht für ein Scheitern des Vorhabens, verbunden mit allen möglichen Nachteilen. Nach allen Regeln meiner „Kunst“ muss ich Ihnen abraten.
Andererseits: Garantieren kann ich ein Scheitern nicht. Im besonderen Ausnahmefall ist ein Gelingen nicht völlig ausgeschlossen. Die Gruppenleiter, die den Job – warum auch immer – selbst nicht wollen, stehen vielleicht loyal hinter Ihnen, der Hauptabteilungsleiter und dessen Chef lassen sich auf das Experiment ein, beide Gruppierungen stützen den frisch ernannten Abteilungsleiter, der ist begabt, hat das Glück des Tüchtigen und packt das. Er hatte die „Chance seines Lebens“, hat mit beiden Händen zugegriffen und gewinnt.
Ja, möglich ist das, wahrscheinlich eher nicht. Sind Sie risikofreudig, sind Sie „Spieler“? Dann darf Sie auch nicht abhalten, dass ich in acht von zehn solcher Fälle ein Scheitern vorhersagen müsste.
Ich würde im Falle eines Falles einen eher gemäßigten anderen Weg sehen und präferieren:
Man ernennt Sie erst einmal zum Gruppenleiter. Den Job gibt es bisher nicht, eine freie Gruppe gibt es auch (noch) nicht. Nun, die anderen Gruppenleiter wollten die Lösung, dann müssen sie auch etwas beitragen: Jeder von denen gibt Aufgaben und mindestens einen Mitarbeiter ab, damit Sie eine Existenzberechtigung haben.
Dann ernennt man Sie, der Sie dann Gruppenleiter sind, zum kommissarischen Leiter der Abteilung. Nach etwa einem Jahr wird entschieden, ob Sie „richtiger“ Abteilungsleiter werden oder den Zusatzjob aufgeben und auf Ihren Gruppenleiter-Job zurückfallen – was wesentlich weniger schmerzhaft wäre als die Degradierung oder gar Entlassung aus der „richtigen“ Abteilungsleiter-Position. Und Gruppenleiter wären Sie dabei auf jeden Fall geworden.
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