Die Macht der Chefs: Heiko Mell und das System des Berufslebens
Ein Blick hinter die Kulissen der Arbeitswelt – Heiko Mell, renommierter Karriereberater und Experte für beruflichen Erfolg, nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise in die Welt der Chefs und des Systems, das das Berufsleben prägt.
Frage:
(In Nr. 6/23 hatte ich als „Notizen aus der Praxis“ Nr. 546 den Lesern einen Test über die doch oft sehr komplexen Chef-Mitarbeiter-Beziehungen angeboten. Ich war und bin ziemlich sicher, dass gerade für junge Leser und insbesondere Studenten viele der dort behandelten potenziellen Probleme völlig unbekannt sein würden und ich hatte ablehnende oder hinterfragende Leserreaktionen eingeplant. Es kam, veröffentlicht als Frage 3.220 in Nr. 10/23, u. a. der Brief einer Studentin, die nur mein fehlendes „Gendern“ in jenem Beitrag beanstandete. Das hatte mich etwas enttäuscht; H. Mell):
Wie Sie wissen, bin ich langjähriger Leser Ihrer Kolumne in den VDI nachrichten. Ihre Antwort auf die Frage 3.220 hat mich aber dann doch mal wieder zum Nachdenken gebracht: Sie antworten der jungen Dame u. a. mit Zitaten Ihrer Leser zu Ihrer „Systembeschreibung der deutschen Industrie“ wie: „Das kann doch alles nicht wahr sein, was der da schreibt“ und „es ist noch viel schlimmer“ sowie „“Sie haben mehr als nur recht“.
Wie viele Ingenieure haben jetzt im Laufe der Jahre Ihre Kolumne gelesen? Und niemandem ist aufgefallen, dass an diesen „Systembeschreibungen“ etwas „faul“ ist? Werden hier Zustände beschrieben, in die wir wirklich unsere Kinder vorbehaltlos und ohne Selbstvorwürfe schicken können?
Und wenn man schon gnadenlos die Umstände dokumentiert und auch noch jahrzehntelang in der führenden Ingenieurszeitung Deutschlands veröffentlicht, warum versucht nicht mal irgendwer die Situation zu verbessern? Sind deutsche Ingenieure nicht zur Selbstreflektion fähig, wenn ihnen jemand in dieser Klarheit die ganze Zeit den Spiegel vor die Nase hält?
Meine Schlussfolgerung: Leider anscheinend nicht. Ich kann da nur anmerken: „Dann mal gute Nacht, Deutschland.“
Unrealistische Vorstellungen und Erwartungen in das Berufsleben?
Antwort:
Unbedingt erforderlich ist zunächst die Klarstellung, woher jene Zitate stammen: Es sind Aussagen junger Menschen, die als Studenten ohne Praxiserfahrungen meine Berichte über die real existierenden Gegebenheiten in den Unternehmen lesen (1. Zitat), die dann nach etwa zwei Jahren Berufserfahrung einen ersten Einblick haben (2. Zitat) und die sich noch später oft im Sinne des 3. Zitats äußern.
Die Logik gebietet mir, eindringlich darauf hinzuweisen, dass die anfängliche Irritation der jungen Leute beim Lesen meiner Berichte auch daran liegen kann, dass sie mit völlig unrealistischen Vorstellungen und Erwartungen in das Berufsleben eintreten (was ich für die wahrscheinlichste Erklärung halte). Denn: Unsere Leser mit solider Praxiserfahrung so ab fünf Jahren aufwärts haben sich, so darf man deren Einsendungen interpretieren, im Großen und Ganzen mit dem System arrangiert, suchen entweder Rat in ihrer individuellen Problemsituation oder bestätigen mir pauschal, doch grundsätzlich ziemlich richtig zu liegen mit meinen Darstellungen. Flammende Aufrufe zur Systemveränderung oder wenigstens engagierte systemkritische Äußerungen sind die eher seltene Ausnahme.
Typisch sind ja auch die entsprechenden Äußerungen junger Menschen, die erfahrungsgemäß sonst sehr schnell mit engagiert vorgetragenen Meinungsbildern aufwarten: Sie glauben „es“ einfach nicht und setzen sich auf dieser Basis dann auch nicht mit den Details auseinander. Das kann man irgendwie verstehen, schließlich haben und kennen sie die Probleme noch gar nicht, für die ich hier praxisorientierte, systemkonforme Lösungen anbiete.
Ich glaube, Sie machen es sich mit Ihrem Beitrag ein wenig zu einfach: Ihr Meinungsbild basiert auf Zitaten von überwiegend unerfahrenen (Berufs-)Einsteigern (die z. B. weder als Rekruten bei der Bundeswehr noch beim Ringen um die Platzreife beim Golf dann besonders ernst genommen werden, wenn sie „zum Einstand“ erst einmal das ganze System beurteilen und kritisieren). Dann ist Ihr Hinweis, „irgendwer“ müsste sich doch kümmern, nicht sehr originell und auch nicht besonders hilfreich. Diese Einschätzung wird sich, so ist zu vermuten, auch den Lesern aufdrängen –einer von ihnen müsste sich ja wohl als „irgendwer“ angesprochen fühlen – nachdem wir beide dafür ausfallen.
Fakten zum Berufssystem nach Heiko Mell
Es gibt keinen Zweifel daran, dass unser „System“ keineswegs vollkommen ist und durchaus Korrekturen vertragen könnte. Bevor aber jemand, vielleicht angestachelt durch Ihre engagiert vorgetragenen Worte, zur Systemveränderung aufbricht, liste ich die aus meiner Sicht wichtigsten Fakten und Gegebenheiten auf, die dabei beachtet werden müssten:
- Unser berufsrelevantes System ist, wie ich es nennen möchte, überhaupt nur ein sekundäres, das an einem völlig anders ausgerichteten Primärsystem hängt und von diesem extrem stark beeinflusst wird. In unserer kapitalistisch-marktwirtschaftlich ausgerichteten Struktur besteht der primäre Zweck unserer Unternehmen darin, den finanziellen Interessen der Eigentümer (Inhaber, Aktionäre, Gesellschafter) zu entsprechen. Sie, die Unternehmen, haben nicht das Ziel, die Bevölkerung zu beschäftigen und ihr „Lohn & Brot“ zu bieten. Das ergibt sich quasi nebenbei. Könnten die Unternehmen ihre Ziele auch ohne Einsatz von dazu angestellten Mitarbeitern erreichen, würden sie es tun. Automatisierung aller möglichen internen Prozesse und der Einsatz von KI könnten erste Schritte in dieser Richtung bedeuten.
Das heißt letztlich, dass für die Unternehmen keineswegs „der Mensch im Mittelpunkt“ steht. Und falls doch, dann ist das der Mensch als Gesellschafter. Wer bei diesem Sekundärsystem an Stellschrauben drehen will, muss solche Zusammenhänge in seine Überlegungen einbeziehen (sonst schafft er bei der Gelegenheit gleich auch noch das Primärsystem ab, von dem wir alle – recht gut – leben). - Das System ist von unvollkommenen Menschen für unvollkommene Menschen gemacht worden, die noch dazu eine große Bandbreite individueller Begabungen, Erwartungen und Wünsche repräsentieren. Es kann schon von daher nie in den Augen aller Betrachter auch nur halbwegs perfekt sein.
- Unser Primärsystem nach meiner Definition, also die allgemeine Wirtschaftsordnung, ist in zahlreichen Gesetzen und Vorschriften (bis hin zur steuerlichen Behandlung bestimmter Geld- und anderer Vermögenswerte) festgeschrieben Diese Regelungen werden weitestgehend zentral gesteuert (Gesetzgeber) und sind allgemeinverbindlich. Änderungen daran sind relativ leicht zu realisieren, sofern man eine Mehrheit der Legislative dafür gewinnen kann.
Für mein Sekundärsystem – das beruflich relevante Umfeld der angestellten Mitarbeiter in den Firmen – gibt es zwar auch diverse entsprechende Regelungen, diese reichen aber, wenn Sie mit Ihrer Kritik richtig liegen, ganz offensichtlich nicht aus. Das liegt daran, dass die Details zur Mitarbeiterbeschäftigung und –führung in Tausenden von einzelnen Unternehmen täglich neu praktiziert und im Tagesgeschäft von Hunderttausenden von Führungskräften und nichtführenden Mitarbeitern immer wieder neu gestaltet werden. Hier etwas wirksam verändern zu wollen, ist eine ungeheuer komplexe Aufgabe, vorsichtig gesagt. - Die hier angesprochenen Ingenieure repräsentieren nur einen Teil der angestellten Belegschaften. Manche bedeutenden Unternehmen beschäftigen gar keine Vertreter dieser Fachrichtung.
Auch wenn z. B. Ingenieure in (Industrie-) Unternehmen eine bedeutende zentrale Rolle spielen, so sind doch die zwei für ein Veränderungsvorhaben wichtigen bis unverzichtbaren „Machtbereiche“ meist nicht in deren Hand: die Position des CEO bzw. Vorstandsvorsitzenden oder des Inhabers einer und die des Chefs des HR-Apparats (fachlich zuständig für unser Thema) andererseits. - Wer etwas erreichen will, darf sich nicht auf pauschale Angriffe gegen „das System“ beschränken. Er braucht eine klare Definition der beanstandeten Zu- und Umstände sowie eine noch klarere Definition der anzustrebenden Ziele. Und dann ist er gut beraten, sich auf einige wenige dieser Ziele zu konzentrieren, sonst verwässert die ganze Operation. Ist das erste Ziel erreicht, kann man weitere angehen. Mit „nieder mit dem System“ erreicht man gar nichts, man verschleißt sich eher ergebnislos.
Aber ein solches Vorgehen wäre theoretisch immerhin denkbar (das ist eine geistige Übung von mir, keine konkrete Aufforderung zum sofortigen Handeln; ich trete hier nicht als überzeugter Systemveränderer auf):
Nehmen wir an, eine Ist-Analyse würde ergeben, dass insbesondere die Führung von Mitarbeitern unvollkommen und die Ursache zahlreicher nachfolgender Missstände und Unzulänglichkeiten wäre. Es würden beispielsweise zu viele völlig unbegabte und absolut unzulänglich ausgebildete Menschen zu Führungskräften ernannt und damit Macht über andere Menschen und deren Existenz erhalten.
Die Lösung, ebenso theoretisch, könnte sein: So wie wir nur ausgebildete und durch ein Examen quasi „zertifizierte“ Ingenieure als Entwickler, Konstrukteure und Prozessoptimierer in der Produktion einsetzen, so würden wir nur noch von zertifizierten Weiterbildungsinstituten ausgebildete und geprüfte Angestellte zu Führungskräften ernennen. Warum soll, was z. B. für Schweißfachingenieure und Sicherheitsbeauftragte selbstverständlich ist, nicht auch für das mindestens ebenso wichtige Fachgebiet „Führung von Menschen“ sinnvoll sein?
Natürlich steckt der Teufel auch hier im Detail, etwa in den Lehr- und Ausbildungsprogrammen jener Institute (die nicht etwa ein deutschlandweit einheitliches Führungssystem lehren, sondern eine breite, viele Führungsmethoden und -stile umfassende Grundlage vermitteln müssten, damit die Unternehmen weiterhin ihren individuellen Führungsstil festlegen könnten). - Als Trost: Jedes System, auch dieses, ist permanenten Veränderungen unterworfen. Besonders wirksam sind sich wandelnde gesellschaftspolitische Gegebenheiten, die über immer wieder neue Angestellte oder über sich ändernde Erwartungen der vorhandenen Belegschaften in die Unternehmen hineingetragen werden. Aber: Das dauert, der Ausgang ist höchst ungewiss – und absolut nicht planbar.
Was bleibt eigentlich, wenn ich meinen Platz räume?
Die Diskussion mit meinen privaten Kunden in der Karriereberatung ufert mitunter etwas aus und geht über die Planung der konkreten nächsten Schritte hinaus. Dann kommt irgendwann die Frage nach dem Sinn des ganzen beruflichen Tuns, die oft in die Spekulation darüber mündet, was eigentlich an der Wirkungsstätte bleibt, wenn man eines Tages geht.
Wer vor einem Wechsel in ein anderes Unternehmen oder in eine neue, größere Aufgabe beim vertrauten Arbeitgeber steht, ist schnell mit dieser Frage fertig: Die Freude auf die neue, meist unter der Devise „besser, größer, schöner, mehr“ stehende Position verdrängt eine allzu intensive kritische Betrachtung unseres Themas.
Aber wenn als nächste Veränderung nur noch die Rente „winkt“, wird die Frage mit mehr Nachdruck gestellt. Sie ist tief im menschlichen Denken verankert. Ein allseits bekanntes Beispiel liefert Goethe in seinem Faust II: „Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen“, sagt hochbefriedigt Faust in der Vision von seinem Lebenswerk. Er träumt von einem Land für sehr viele Menschen, das er dem Meer abzuringen gedenkt.
Der Durchschnittsmensch muss in deutlich kleineren Dimensionen denken. Wenn er Unternehmensinhaber ist, bleibt vielleicht „die Firma“ – aber für den Angestellten fällt die Antwort noch einmal sehr viel kleiner aus. Denn eines der tragenden Elemente der Definition des per Vertrag mit definierter Kündigungsmöglichkeit angestellten Mitarbeiters ist die Austauschbarkeit – die im Gegensatz etwa zu „einmalig, einzigartig“ steht.
Natürlich prägt jeder Mitarbeiter, jeder Manager seinen Job und dessen Ergebnisse durch seine Persönlichkeit, durch die von ihm erzielten Erfolge. Aber eine andere Person auf diesem Platz muss – und wird – das auch können und wird ebenso erfolgreich sein. Schließlich werden die zu erreichenden Ziele jedem Positionsinhaber vorgegeben, und der Weg dorthin ist durch interne Vorschriften und Gepflogenheiten weitgehend in feste Bahnen gepresst.
So gilt etwa: Während er die Position innehat, prägt der jeweilige Angestellte durchaus deren Ruf, die erzielten Resultate und die Details der Ausführung der einzelnen Schritte. Da ist es möglich, dass sich Bilder im Unternehmen ergeben können, die von höchster Anerkennung bis zur „grauen Maus“ reichen.
Aber wenn der Stuhl erst vom Nachfolger besetzt ist, beginnt auch ein besonders intensiv leuchtendes Bild des früheren Positionsinhabers zu verblassen. Die Veränderungsgeschwindigkeit gerade im organisatorischen und personellen Bereich, die ein modernes Unternehmen kennzeichnet, tut ein Übriges: Nach ein paar Monaten oder Jahren ist auch der tüchtigste Positionsinhaber aus dem kollektiven Gedächtnis weitgehend verschwunden. Das ist, „systemimmanent“.
Ist das enttäuschend? Nur wenn man mehr erwartet hatte als das System definitionsgemäß geben konnte.
Also rechnen Sie nicht mit „Äonen“, in denen die Spur von Ihren Erdentagen nicht untergeht, sondern sagen Sie realistisch: „Ich habe diese Position gerne innegehabt und gut ausgeübt, sie hat mich und meine Familie ernährt, mir in gewissem Rahmen Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten gewährt und meine Persönlichkeit geformt – mehr war nicht zu erwarten. Ich wünsche meinem Nachfolger viel Erfolg.“
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