Es den Vorgesetzten immer recht machen? 6 ultimative Tipps von Heiko Mell
Sind Mitarbeitende zu angepasst und wollen es Vorgesetzten immer recht machen? Heiko Mell hat Antwort.
3.156. Frage:
Seit meinem Studium lese ich Ihre Karriereberatung. Habe Ihre Antworten am Anfang nicht geglaubt, dann gedacht, „es könnte etwas dran sein“ und dann bin ich meist Ihrem Rat gefolgt. Wenn nicht, habe ich Lehrgeld bezahlt.
Was mich bei Ihren Antworten immer noch stört (ich stehe kurz vor der Rente), sind die Hinweise, es den Vorgesetzten immer recht zu machen. Habe meine Zweifel, ob dies so richtig ist. Nur so konnte dem Vorstand der XY AG (im Original stehen hier Funktion und Name des Topmanagers eines großen Automobilherstellers; H. Mell) übel mitgespielt werden und so bekommen auch Führungskräfte größere Probleme.
Ein deutliches Nein ist auch ab und zu erforderlich, um sich zu schützen. Sonst kann man als Angestellter durchaus ins Messer laufen. Sind wir zu angepasst? Aus meiner Sicht betonen Sie dies zu wenig.
Möchte mich für Ihre Begleitung meines Berufslebens herzlich bedanken!
Antwort:
Sie spielen auf den Dieselskandal an, der allerdings so komplex ist, dass wir ihn hier niemals aufarbeiten könnten. Beschränken wir uns auf das Grundsätzliche: Sind wir generell zu angepasst und betone ich diesen Aspekt – sofern es ein Fehler ist – zu stark?
Holen wir dazu ein – fiktives – Gutachten von allerkompetentester Stelle ein. Wir fragen den Vorstandsvorsitzenden einer deutschen Aktiengesellschaft. Sein Wort ist dort Gesetz, er hat die höchste Entscheidungsgewalt im Unternehmen, er ist nach landläufigen Maßstäben die zentrale Instanz, wenn dort etwas im Sinne von „richtig“ oder „falsch“ beurteilt werden soll.
Und diesen CEO fragen wir schlicht: „Sind die Mitarbeiter Ihres Unternehmens zu angepasst, schallt z. B. Ihnen aus den Reihen der Führungskräfte zu selten einer klares Nein entgegen?“ Ich fürchte, er wird irgendetwas Gegenteiliges äußern, etwa im Sinne von: „Die Hälfte des mir entgegengebrachten Widerstands würde absolut genügen.“ Oder er äußert sich grundsätzlich positiv über „seine Leute“, die durchaus ein angemessenes Verhältnis von Zustimmung einerseits und Bedenken andererseits zeigten. Wie könnte das auch in einem von ihm geführten Unternehmen anders sein. Hier kommen wir also nicht recht weiter.
Wir könnten ein entsprechendes Gutachten einholen vom anderen Ende der Hierarchiekette, von einem Sachbearbeiter mit 25 Dienstjahren, der selbst niemanden führt und das auch gar nicht anstrebt. Der hätte vielleicht eine Meinung im Sinne Ihrer Frage, vielleicht auch nicht. Aber was erreichten wir, selbst wenn wir 1000 dieser Meinungsbilder zusammentrügen? Es wäre noch nicht einmal sicher, ob diese Mitarbeiter die Freiheit zum Nein konsequent nutzten, wenn man sie ihnen einräumte, oder ob die Mehrheit von ihnen diese Freiheit überhaupt wollte.
Aber es gibt einen denkbaren Gutachter, der vielleicht genau im Sinne Ihrer Frage urteilen würde: Ein intelligenter, gebildeter Staatsbürger, der nicht in die Angestelltenhierarchie eines Industrieunternehmens eingebunden ist, könnte – und würde – Ihnen eine klare Antwort geben: Jawohl, der Standardmitarbeiter eines solchen Unternehmens ist zu angepasst, zu sehr darauf ausgerichtet, es den Vorgesetzten recht zu machen. Er sollte ruhig stärker seine verfassungsmäßigen Rechte wahrnehmen und Nein sagen, wenn man von oben her etwas von ihm wolle, das er nicht zu tun bereit sei. Ein falsches Wort von Seiten der Regierung, schon rufe er, der lupenreine Staatsbürger, ja auch klar Nein, schreibe das auf Plakate und gehe damit auf die Straße. Und das sei sein Recht – und ihm geschehe anschließend gar nichts und allzu viel Respekt vor „denen da oben“ sei völlig unangebracht. Aus der Sicht des „politischen Bürgers“ sind wir in den Unternehmen also viel zu angepasst.
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Nur: Das System ist so aufgebaut, dass der Angestellte abends nach Feierabend Rechte zum uneingeschränkten Widerspruch hat, die es tagsüber im Unternehmen einfach nicht gibt. Weil das bestehende hierarchische Konstrukt seine eigenen Gesetze hat. Man muss auch die feinen Unterschiede sehen: Der Staatsbürger wählt (auf Umwegen) seine Regierung. Diese ist vom Wohlwollen und der Zustimmung dieser Bürger abhängig.
Die Leitungsebene eines Unternehmens hingegen stellt Mitarbeiter ein, bezahlt sie (in der Marktwirtschaft ein ganz entscheidendes Argument), sichert damit deren Existenz – und hat so einen ganz anderen „Anpassungsanspruch“ an die Mitarbeiter als etwa die politische Führung an ihre Staatsbürger.
Vergessen wir nicht, die höchst offizielle Definition des Angestellten lautet: „Er ist abhängig beschäftigt.“ Vergleichen Sie das einmal mit der Definition des freien Bürgers in einem freien Land.
So viel zum Grundsätzlichen. Im unternehmensinternen Tagesgeschäft sind also Anpassung und die eher kritikarme Umsetzung von erhaltenen Anweisungen erst einmal systemimmanenter Standard.
Was der Angestellte nicht verlieren darf, ist das Wohlwollen seiner Vorgesetzten. Büßt er das ein, ist seine berufliche Existenz gefährdet und werden Aufstiegspläne Illusion. Aber: Mit bedingungslosem „Kadavergehorsam“ alten Stils ist dieses Wohlwollen bei einem modernen Vorgesetzten nicht zu erringen und nicht zu erhalten. Das Ja eines Mitarbeiters, der immer und überall zustimmt, hat für den Chef keinen großen Wert. Dieser will, dass ihm der Mitarbeiter in der Regel nicht nur aus Prinzip, sondern aus Einsicht folgt, weil er von seinen Argumenten überzeugt wurde – und ja, mitunter auch aus purer Loyalität.
Und in diesem Sinne verträgt, ja, erwartet der moderne Chef auch ein – seltenes – Nein seines Mitarbeiters. Denn erst wenn das gelegentlich kommt, hat das Ja in anderen Fällen seinen ganz besonderen Wert.
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Aber dabei gilt es, bestimmte Spielregeln zu beachten (ich spreche hier nicht von den „kleinen“ Sachentscheidungen im Tagesgeschäft, sondern von den Themen mit Auswirkungen bis in den unternehmenspolitischen Raum hinein oder von solchen mit eventuell sogar rechtlichen Konsequenzen):
- Wenn der Vorgesetzte den Mitarbeiter anweist, irgendetwas zu tun, ist ein brutales „Nein, mache ich nicht“ völlig unangemessen. Der Ton macht die Musik. Nach allgemeiner Auffassung wäre das reine Nein eine Provokation. Wird diese vor Publikum ausgesprochen (Meeting), gilt sie als Kampfansage.
- Erlaubt und gefordert ist, auf Risiken und Nachteile hinzuweisen, die mit der Ausführung der Anweisung verbunden wären. Je mehr man dabei mit dem Vorgesetzten allein ist, desto deutlicher kann man seine Bedenken formulieren (nicht vor Publikum!).
- Bedenken aller Art nutzen sich ab, sie müssen sehr, sehr sorgfältig dosiert werden. Wenn der Chef schon zur Einleitung sagt: „Müller wird wieder erst einmal dagegen sein“, dann hat der sein Konto überzogen.
- Die eigenen Bedenken und die ablehnende Haltung sollten möglichst in ein gezeigtes Verständnis für die Haltung des Chefs eingebettet werden. Ein pures Nein würde signalisieren, dass der Vorgesetzte aus der Sicht des Mitarbeiters völlig falsch liegt, etwas Unmögliches oder Unzumutbares verlangt – und das strapaziert seine Toleranzbereitschaft.
- Wenn die obigen Regeln beachtet wurden und es sich wirklich um eine besonders folgenschwere Angelegenheit handelt, dann ist im Extremfall auch schon einmal ein Satz möglich oder sogar angebracht wie: „Ich meine, das sollten wir so nicht machen, das angestrebte Ziel ließe sich vielleicht auch auf diesem oder jenem Wege erreichen.“
- Im äußersten Notfall ist dann sogar die Aussage denkbar: „Ich bitte Sie, mir diese Anweisung nicht zu geben bzw. mich von der Aufgabe zu entbinden. Ich sage das absolut nicht gern, aber aus den ausführlich dargelegten Gründen möchte ich das so nicht machen.“
Das aber kann bereits das Ende Ihres Beschäftigungsverhältnisses einläuten, mit dieser Konsequenz müssen Sie rechnen.
So, geehrter Einsender, stellen sich mir die real existierenden Verhältnisse dar. Ich habe nicht die Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Und ich halte gar nichts davon, die Leser zu einem Verhalten zu ermuntern, das ihnen alle Nachteile einbringt und doch nicht zu einer größeren Zufriedenheit führt.
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Seien Sie unbesorgt: Die Dinge ändern sich, sie tun es ständig. Aber die Veränderungen müssen aus der Gesellschaft heraus kommen, müssen von einem breiten Konsens getragen werden. Schon Ihre Enkel werden in ihren beruflichen Umfeldern auf etwas andere Verhältnisse treffen. Ob die dann damit glücklicher werden, als wir es waren, bleibt nur zu hoffen.
Erschienen in VDI nachrichten 42/2021
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