17.01.2024, 11:50 Uhr

Hochbegabung im Beruf: Vielleicht bin ich hochbegabt?

Karriereberater Heiko Mell widmet sich intensiv dem Thema Hochbegabung im beruflichen Kontext, indem er die Herausforderungen und Chancen für hochbegabte Menschen am Arbeitsplatz analysiert.

Hochbegabung

Karriere im IQ-Hoch: Heiko Mell beleuchtet die Potenziale und Herausforderungen von Hochbegabung im Beruf.

Foto: PantherMedia / MattLphotography

Frage:

Laut einer Freundin, die selbst Mitglied bei Mensa e. V. ist, würde ich die Aufnahme dort erreichen können – sprich sie sieht bei mir zu einem gewissen Grad eine Hochbegabung. Dazu bin ich aus eigener Wahrnehmung ein Mensch, der einen starken Drang, wenn nicht sogar eine Sucht zum Perfektionismus hat. Deswegen stelle ich sehr hohe Ansprüche an meine eigene Arbeit, aber damit zwangsläufig ebenfalls an die Personen in meiner direkten Arbeitsumgebung.

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Auch habe ich über die Jahre eingesehen, dass diese Ansprüche von meinen Kollegen unmöglich und ständig zu erfüllen sind. Seit ich im Dienstleistungsbereich tätig bin, gilt das auch für Kunden.

Was mir allerdings auffällt und was mich zunehmend stört, ist die Tatsache, dass Kollegen und im aktuellen Fall auch Kunden sehr offensichtlich dumm und naiv agieren.

Ich habe nicht die Kraft, noch sehe ich es als meine Aufgabe an, die Menschen zu guten oder sogar sehr guten Ingenieuren zu coachen – vor allem dann nicht, wenn sie beim Kunden beschäftigt sind.

Zur Erklärung: Ich arbeite aktuell als Projektleiter bei einem Ingenieurdienstleister in einem großen Projekt einer Softwaretochter eines großen Autoherstellers, und mein Entwicklungsteam ist in das Projekt beim Kunden wie ein internes Team eingebunden.

Die Frage ist nun: Muss ich das für die mir verbleibenden Dienstjahre schlicht als Tatsache akzeptieren oder sollte ich noch einmal zumindest versuchen, einen Jobwechsel anzustreben in eine – ich nenne es einmal überspitzt so – „Eliteeinheit“, bei der vorrangig sehr gute Leute und damit potenziell „Gleichgesinnte“ beschäftigt sind? Gibt es so etwas überhaupt?

Ich will nicht überheblich klingen und den Eindruck erwecken, dass ich mir als etwas Besseres vorkäme. Aber wem wie mir vom ständigen Kopfschütteln schon schwindlig ist, der kann meine Gedankengänge vielleicht zumindest bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen.

Antwort:

Mir liegt kein Lebenslauf von Ihnen vor. Ich darf aber einen Satz aus dem mitgelieferten begleitenden Text von Ihnen zitieren: „Tatsächlich bin ich auch heute nach vielen Jahren und dem Ausscheiden aus verschiedenen Unternehmen …“ Dann beginnt einer der obigen Absätze mit „Die mir verbleibenden Dienstjahre …“ Sie sind also nicht mehr ganz jung und haben Ihre Erfahrungen gesammelt. Vor allem aber: Man muss Ihnen einen anderen Rat geben als etwa einem jungen Berufseinsteiger mit ähnlichem Anliegen.

Hochbegabung: „nicht so wie die anderen“?

Unterstellen wir einmal, dass Sie tatsächlich hochbegabt sind. Dann müssen Sie zunächst einmal folgende banal klingenden Gegebenheiten akzeptieren:

  1. Die weitaus (!) meisten der anderen Menschen, mit denen Sie im industriellen Berufsalltag Kontakt haben, sind nicht hochbegabt.
  2. Damit sind Sie in einem zentralen Aspekt, der in der täglichen Zusammenarbeit eine große Rolle spielt, „nicht so wie die anderen“. Darin liegt eine potenzielle Gefahr. Für Sie.
  3. Das Berufsleben in der Industrie und in vergleichbaren Strukturen der Marktwirtschaft ist von allen denkbaren Ansprüchen her stark auf die Begriffe „gehobener Durchschnitt“ und „Austauschbarkeit“ ausgerichtet.

Fangen wir mit dem letztgenannten Begriff an: Wenn ich ein Unternehmen aufbaue und strukturiere, wenn ich Prozesse dort gestalte und Arbeitsplätze definiere, dann muss ich das alles auf Menschen ausrichten, die austauschbar, also ersetzbar sind. Geht ein Projektleiter, muss ein vergleichbar qualifizierter relativ schnell und einfach als Nachfolger greifbar sein. Ich darf weder einen Prozess, noch eine Position in einer organisatorischen Struktur auf einen Menschen oder -typ ausrichten, der in der Gesamtbevölkerung nur in extrem seltener Ausprägung vorhanden ist.

Das gilt gerade in Ihrer Branche „Automobil“ uneingeschränkt auch für Kunden aller Art. Man bietet ein Standardmodell mit verschiedenen Varianten und ein paar Sonderausstattungen an, das muss reichen. Was angeboten wird, müssen viele Kunden wollen – kauft der eine davon es nicht, kauft es ein anderer aus dieser Gruppe. Die Ausrichtung von Großserienprodukten auf höchst individuelle Ansprüche einzelner „elitärer Ausnahmepersönlichkeiten“ ist nicht vorgesehen, es wäre ein Widerspruch in sich.

  1. Und so lebt das System davon, dass (gut) durchschnittliche Kunden durchschnittliche Ansprüche stellen, die von durchschnittlichen Lieferanten mit (gut) durchschnittlich begabtem Personal befriedigt werden.

Und wer in diesem Beziehungsgeflecht Durchschnitt ist, kommt zurecht, wer sich dabei als „gehoben“ bezeichnen darf, kommt sogar gut zurecht. Wer jedoch diese Dimension sprengt (nach oben oder nach unten), verursacht Reibungsverluste, bekommt (in den Augen der anderen „macht“ er) Ärger.

  1. Wenn der Weltrekord im 100-m-Lauf bei 10 s liegt, dann sind 10,9 s schon ganz toll, aber 7,5 s wären eine Katastrophe. Ein solchermaßen befähigter Läufer hätte praktisch ein Leistungsmonopol, nähme allen anderen die Lust am Laufen und wäre bei Ausfall kaum zu ersetzen. Er wäre ein „Systemsprenger“.
  2. Das alles bedeutet: In unserem marktwirtschaftlich ausgerichteten Berufsumfeld haben es Hochbegabte naturgemäß schwer: Das Umfeld mit allen Gegebenheiten und Anforderungen ist bei den üblichen Standardarbeitsplätzen (bis hinauf zum CEO) nicht auf sie zugeschnitten.
  3. Hinzu kommt noch etwas, das sich meinem Verständnis ein wenig entzieht: Wenn die Hochbegabten, nachdem sie sich in Standardfunktionen eingegliedert und ihre spezielle Begabung erkannt haben, einfach „Ruhe geben“, ihren Job machen und ihre Begabung dazu nutzen würden, alles ein wenig (!) besser zu machen als die anderen und wenn sie deren Durchschnittsbegabung einfach hinnehmen könnten, dann stünde ihnen jegliche positive berufliche Entwicklung offen. Sie könnten im bestehenden System nahezu „alles“ erreichen.

Kunden für dumm halten und Ärger provozieren?

Stattdessen bringen sie schon in der Schule schlechte Leistungen wegen Unterforderung, halten sie später Kollegen und – man bedenke – Kunden für dumm und provozieren Ärger.

Vielleicht liegt das in meiner begrenzten Begabung begründet, die meine Vorstellungskraft einschränkt. Aber wenn ich 100 m in 7,5 s laufen könnte, würde ich eine zehntel Sekunde unter dem Weltrekord bleiben, mich von allen feiern lassen und mir heimlich auf die Schulter klopfen, dass ich mich „dafür“ kaum verausgaben musste. Und ich hätte Reserven für möglicherweise angreifende Konkurrenten.

  1. Bevor es jemand anderes merkt, komme ich schon selbst auf eine bisher nicht angesprochene Kernüberlegung: Was ist in diesem Sinne „Begabung“, einmal in der Definition der Hochbegabung im klassischen Sinn – und welche Art der Begabung braucht man, um in unserem klassischen beruflichen Umfeld erfolgreich zu sein. Das sind ganz sicher zwei Paar Schuhe, ich will das nur ansprechen, aber nicht auch noch detailliert betrachten.
  2. So, geehrter Einsender, das bedeutet: Sie sind, Hochbegabung unterstellt, die Ausnahme, in Ihnen liegt das Problem begründet, nur Sie können eine Lösung finden. Die Kunden und die Kollegen sind so wie sie sind, Sie werden sie nicht „klüger“ machen.

Der einfachste Rat zuerst: Hören Sie auf, die anderen Menschen, die nun einmal den Standard bilden, als dumm o. Ä. einzustufen. Die merken das übrigens, auch wenn Sie es nicht aussprechen. Das ist eine Art „Begabungsarroganz“, die das Zusammenleben mit Ihnen sicher nicht gerade erleichtert.

Heiko Mell

Karriereberater Heiko Mell.

Außerdem haben einige dieser nicht Hochbegabten ganz sicher Eigenschaften und Fähigkeiten, vielleicht sogar ausgesprochene Talente, die für ihre berufliche Tätigkeit sehr nützlich sind – und über die ein im klassischen Sinne Hochbegabter oft nicht verfügt (z.B. taktisches Geschick).

  1. Bleibt die Frage nach Ihrem zukünftigen Umgang mit dieser Begabung:

Weitermachen nun vertrauten Umfeld

Wären Sie jünger, würde ich sagen, Sie seien dort, wo Sie jetzt sind, falsch. Und würde Ihnen zu einem beruflichen Weg raten, der weiter weg ist vom „Allerweltsgeschäft“ und Menschen anzieht, die Ihnen ggf. ähnlicher sind: Forschung, Institute, Universitäten etc.

Aber da Sie ja wohl doch schon etwas älter sind und Ihr beruflicher Weg vorgeprägt ist, rate ich Ihnen zum Weitermachen im nun vertrauten Umfeld, aber mit einer veränderten Einstellung: Ihre Hochbegabung ist – wie Körpergröße oder Haarfarbe – ein ohne eigenes Zutun von der Natur gegebenes Merkmal. Sie hat nichts mit Leistung zu tun, auf die man stolz sein könnte. Eine Leistung wäre es, wenn Sie den Begabungsvorsprung, den Sie ererbt haben, zum Erreichen entsprechend höherer Ziele nutzen würden.

Eigentlich, wenn das ein Trost sein kann, beginnt das Problem schon deutlich unterhalb einer festgestellten Hochbegabung. Schon „ganz normalen Einser-Kandidaten“ kann man beim Eintritt in unser berufliches Standardsystem vorhersagen: „Wenn Sie nicht sehr vorsichtig operieren und auf Ihre Umgebung achten, droht Ihnen Ärger.“ Vielleicht ist diese berufliche Welt leichter zu bewältigen, wenn man nicht zu intelligent ist – was wiederum die Frage nach dem Unterschied zwischen Intelligenz und Begabung aufwirft.

Vergessen Sie nicht: Das Ziel Ihres Automobilkonzerns besteht darin, auf dem Weg über den Verkauf von möglichst vielen Autos den Aktionären möglichst hohe Renditen zu garantieren. Mehr ist eigentlich nicht – auch wenn sich auf dem Weg zu diesem eher banalen Ziel durchaus zahlreiche fordernde und begeisternde Detailaufgaben stellen (können).

Ein Beitrag von:

  • Heiko Mell

    Heiko Mell ist Karriereberater, Buchautor und freier Mitarbeiter der VDI nachrichten. Er verantwortet die Serie Karriereberatung innerhalb der VDI nachrichten.  Hier auf ingenieur.de haben wir ihm eine eigene Kategorie gewidmet.

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