Standard-Regeln gelten nur, wenn man selbst auch den Standards entspricht
Der Karriereberater Heiko Mell befasst sich mit Leserbriefen und empfiehlt seinen Leserinnen und Lesern, was sie aus ihrer Karriere machen können. Heute beschäftigt er sich mit der Frage der Standardregeln.
3.271. Frage/1:
(Der Einsender bemüht sich nach der Promotion um eine aussichtsreiche Einstiegsposition. Er beschäftigt sich sehr intensiv mit den Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt, verschiedenen Vorgehens-Varianten und der Frage, ob meine Regeln wohl gelten oder nicht. Die von ihm formulierte Problembeschreibung umfasst mehr als vier sehr eng beschriebene DIN-A4-Seiten, die ich unmöglich ohne Kürzung abdrucken kann.
Damit Sie, liebe Leser, mir hier folgen können, stelle ich Ihnen erst einmal den Lebenslauf in Grundzügen vor; H. Mell):
Nach schwachem Abitur Ausbildung: Berufsakademie eines Konzerns, Abschluss: Industrietechnologe (Energietechnik)
nachfolgend eine praktische Tätigkeit (ca. 2 J.): Inbetriebnahme von Anlagen
Bachelor-Studium (FH): Kraftwerksanlagentechnik (1,7)
Master-Studium (FH): Processengineering / Energieanlagentechnik (1,2)
Anschließend: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut, Ziel:
Promotion im Chemieingenieurwesen (!).
Gültigkeit von Karriereregeln überprüfen?
Antwort/1:
Ihr Weg ist ebenso ehrenwert wie erlaubt – aber was immer Sie dabei oder jetzt beim Berufseinstieg erlebt haben oder erleben werden, eignet sich nicht dazu, die Gültigkeit von Karriereregeln zu überprüfen. Wie es nicht anders sein kann, sind diese Regeln auf Standard-Gegebenheiten zugeschnitten – so auch auf Bewerber mit Standard-Lebensläufen. Es gibt keinen Grund für eine Kritik an Ihrem Weg, aber ich muss auf die Punkte hinweisen, in denen Sie von den Standards abweichen:
- Ihr – unter dem Aspekt einer späteren Promotion gesehen – schwaches Abiturergebnis. Es stand, Ihre nachfolgende Entscheidung war folgerichtig, dem üblichen Studium auf Universitätslevel mit anschließender Promotion im Wege.
- Sie haben dann – aus Ihrer damaligen inneren Situation heraus – das so gar nicht standardmäßig zur späteren Promotion passende, sehr praxisorientierte Ausbildungsziel des Industrietechnologen gewählt. Wie viele davon mag es geben, die sich danach zum Hochschulstudium mit Promotion durchgerungen haben? Damit allein fallen Sie schon durch einige Raster des Regelwerks. Es geht, ich wiederhole das, nicht um „besser“ oder „schlechter“ als andere, es geht um das gefährliche „Anders“.
Ich möchte nicht missverstanden werden: Mit diesem Weg im Rücken könnten Sie ein besserer Mensch mit größerem Leistungsspektrum sein als die Standardingenieure – aber aus der Sicht der Praxis entsprechen Sie nicht dem Bild, das man bei Einstellprozessen erwartet. - Das doppelte (Bachelor- und Master-) Studium an einer FH ist als Basis für eine spätere Promotion möglich, aber auch nicht Standard. Vor allem Entscheidungsträger, die selbst auf Universitätslevel studiert haben, könnten (!) in Verbindung mit dem schwachen Abitur und dem Industrietechnologen ihr weises Haupt schütteln.
- Der im Ausbildungsbereich vollzogene Wechsel von der Energie- und Kraftwerkstechnik zum Promotionsschwerpunkt Chemieingenieurwesen wird nicht jedem Entscheidungsträger gefallen.
Bedenken Sie auch: Kern des Entscheidungsprozesses ist nicht die Frage, ob Sie mit Ihren Besonderheiten oder spezifischen Gegebenheiten für eine Position infrage kommen oder nicht. Es geht hingegen darum, wer von vielleicht 20 oder 30 Bewerbern dem Entscheidungsträger am besten gefällt. Und dabei haben Kandidaten mit regelgerechten Standardwegen, für die sie exzellente Etappenergebnisse vorweisen können, meist die Nase vorn.
Auch Sie fragen mich ja in Ihrem langen Brief: „Was zählt aus Ihrer Sicht bei dem Bewerbungsempfänger in einem Konzern, wenn er meinen Lebenslauf sieht? Überwiegt die Erfahrung im Chemieingenieurwesen aus der Promotion oder doch das Grundstudium?“
Die Antwort lautet: Das lässt sich schwer vorhersagen. Dieser Entscheidungsträger dürfte den „in der Wolle durchgefärbten“ Vertreter des einen oder des anderen Typs, mit durchgängigem roten Faden bevorzugen, er kann aber auch in Ihrer fachlichen Breite einen Vorteil sehen – oder er kann einen Sohn haben, der zur Abiturzeit auch noch nicht so besonders leistungsorientiert war und der dann später mitten im „Wagenrennen“ ebenfalls die Pferde (sprich die Fachrichtung) gewechselt hat – woraufhin der Entscheidungsträger „so etwas“ viel toleranter beurteilt.
Frage/2:
Aufgrund meiner vielseitigen Erfahrungen in den letzten zehn Jahren sehe ich als realistische Möglichkeiten den Weg zurück in die Kraftwerks- und Prozesstechnik oder weiterhin im H2-Bereich Fuß zu fassen (es gibt eine Verbindung zu Ihrem Dissertationsthema; H. Mell) oder nun im Verfahrens und Prozessbereich eines Chemiekonzerns zu starten. Letzteres stellt sich nach meiner ersten Analyse als schwierig dar, denn die Chemiebranche leidet nun unter hartem Kostendruck und der Transformation. Das führt dazu, dass manche Konzerne aktuell gar nicht einstellen.
Nach den Schwierigkeiten durch die Coronakrise folgt nun die Transformationskrise Deutschlands als mein Wegbegleiter. Was können Sie
Personen empfehlen, die sich mit einem thematisch breit angelegten Lebenslauf schmücken (der, Ihrer Beratung zufolge, insbesondere beim Berufseinstieg nicht hilfreich ist)?
Den Ausbildungsgang im Bereich eines roten Fadens ausrichten
Antwort/2:
Ich empfehle jenen „Personen“, sich bereits vor dem Abitur mit den Regeln zu beschäftigen und den Ausbildungsgang im Bereich eines roten Fadens auszurichten. Das kann durchaus auch voll „in die Hose“ gehen – dieses Risiko gehört zum „Geschäft“. Mit einer engeren Spezialisierung können Sie zum Zeitpunkt X (mit Promotion etwa zehn Jahre nach dem Planungszeitpunkt) zum extrem begehrten Spezialisten oder zum Dinosaurier werden, den jetzt niemand mehr will. Es heißt dann, zwischendurch rechtzeitig umzuplanen, fachlich neue Wege zu gehen – und irgendwie mit den Risiken zurecht zu kommen.
Es ist wie ein Glücksspiel. Man setzt auf etwas – und mit ein bisschen Pech will genau das zum entscheidenden Zeitpunkt niemand haben. Dieses Risiko ist systemimmanent, das lernt man spätestens beim Berufseinstieg. Nicht ohne Grund formuliert der Volksmund etwa: Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, zeig ihm deine Pläne. Aber ohne einen – unbedingt ständig ereignisabhängig „fortgeschriebenen“ – Plan geht es nicht.
Vor vielen Jahren (das hat nachgelassen) bekam ich Briefe wütender Väter, deren studierender Nachwuchs Fachrichtungen gewählt hatte, für die es keinen Markt gab. Der Staat könne doch nicht in seinen Universitäten etwas anbieten ohne dafür zu sorgen, dass diese Absolventen später lukrative Jobs fänden. Doch, schrieb ich damals, das sei absolut normal. Die Festlegung von Universitätsfächern sei keineswegs zwangsverzahnt mit den Anforderungen z. B. gewinnorientierter Privatunternehmen. Und: Jeder sei seines Glückes Schmied.
Zurück zu Ihrem Problem: Bewerben Sie sich breit, entsprechend Ihrer unterschiedlichen Fachqualifikationen. Sehen Sie zu, dass Sie in einem renommierten Unternehmen unterkommen (Priorität 1). Als was Sie am Anfang arbeiten, ist nicht gar so wichtig (Priorität 2 oder 3). Es wird ohnehin niemand in seiner Einstiegsposition pensioniert. Dann qualifizieren Sie sich dort durch Leistung, sichtbares Engagement und ein Verhalten zur Freude Ihrer Chefs. Und den so erworbenen „Kredit“ nutzen Sie, um sich unternehmensintern in Ihre Wunschrichtung zu verändern. Das geht durchaus. Sie treffen jetzt eine wichtige Entscheidung. Aber die ist keineswegs schon die Festlegung „für das ganze Leben“.
Und damit unsere Leser nicht denken, Sie seien etwa total unzufrieden mit meinen Regeln, zitiere ich hier noch Ihren Schluss:
„Vielen Dank für Ihre langjährige und unermüdliche (kostenlose!) Beratung, die ich auch weiterhin mit Freude wahrnehmen werde. Ich hoffe, dass diese Beratung dem VDI noch möglichst lange erhalten bleibt. Bei unseren Studenten im Bezirksverein empfehle ich Sie seit Jahren mit voller Leidenschaft. Mit Spannung warte ich auf Ihre Rückmeldung.“
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