Industrie 4.0: Verschnupfte Maschinen rufen selbst den Arzt
Werden Produkte bald in voll autonomen Fabriken hergestellt? Und werden sich die arbeitenden Maschinen selbst warten? Welche Rolle spielt der Mensch noch im Internet der Dinge? Antworten gibt die folgende Geschichte. Sie ist fiktiv – aber die Protagonisten und Technologien sind real.
Das arme Blech! Kaum ist es in der fensterlosen Produktionshalle angekommen, schon stürzen sich von allen Seiten insgesamt 246 Kuka-Roboter darauf. Es wirkt wie die Szene aus einem „Terminator“-Film: Überall surrt und zischt es, Servomotoren heulen, Funken fliegen, Laser leuchten. Auf einer Fläche von gut 31 000 m2 wird vollautomatisch gefalzt, geschweißt, geklebt, kontrolliert und weitergereicht. Es riecht nach Öl und heißem Metall.
Keine Frage: Hier in der Kuka Toledo Production Operations LLC in Toledo, Ohio, haben die Maschinen das Sagen. Innerhalb weniger Stunden setzen sie aus rund 250 Einzelteilen die Rohkarosse eines Jeep Wrangler zusammen. Pro Tag spuckt das Werk 900 davon aus – in acht verschiedenen Modellvarianten.
Zehn der allesamt in Deutschland konzipierten Roboter kümmern sich ausschließlich um die Qualitätskontrolle. Viel zu bemängeln haben sie nicht. „Von den 245 000 Karosserien, die wir 2015 hergestellt haben, wichen lediglich drei von unseren strengen Toleranzwerten ab“, so Geschäftsführer Jake Ladouceur. Möglich ist das, weil sich die Roboter auch selbst überwachen. „Dank einer Reihe von Sensoren melden sie drohende Probleme, lange bevor sie akut werden.“ Das Internet der Dinge macht’s möglich.
Lieferant von Sensorlösungen ist neuerdings auch die Harting KGaA. Das Familienunternehmen aus dem ostwestfälischen Espelkamp bietet seit 1945 industrielle Verbindungstechnik an. Früher ging es im Wesentlichen darum, Strom zu transportieren. Heute kommen Daten und Signale dazu.
Smarte Stecker machen auch ältere Maschinen fit für die Industrie 4.0
„Die Verbindungen werden immer aktiver und intelligenter“, weiß Harting-Vorstand Frank Brode, zuständig für neue Technologien. „Ein gutes Beispiel sind die Stecker unserer Han-Modular-Serie. Sie lassen sich individuell im Internet konfigurieren. Neben der Stromversorgung können etwa Pneumatik-Leitungen, Glasfaserkabel und Ethernet-Verbindungen Platz finden.“
Was auch immer durch die Kabel fließt: Alles lässt sich kontrollieren. Möglich machen das integrierte Sensoren. Sämtliche Daten, die sie sammeln, senden sie via RFID an den Harting-Industrie-PC „Mica“. „Von hier aus fließen sie dann in das ERP-System des Kunden“, so Brode. „Er kann dann bei drohenden Problemen frühzeitig gegensteuern.“ Ein großer Vorteil der sensorbestückten Verbindungen: Mit ihnen können auch ältere Maschinen fit gemacht werden für die Industrie 4.0.
Eine Retrofit-Lösung bietet auch der Energie- und Automatisierungstechnikkonzern ABB an – etwa für Elektromotoren. Äußerlich ist es nur eine kleine, unscheinbare Metallbox, die auf dem Motorgehäuse fixiert wird. Im Inneren befinden sich aber – staub- und spritzwassergeschützt – etliche Sensoren. „Sie messen beispielsweise die Temperatur, die Vibrationen in drei Achsen, den Klang und das Magnetfeld“, so Konzernleitungsmitglied Greg Scheu. Wann immer sich Abweichungen vom Soll-Zustand ergäben, würden Wartungsexperten alarmiert. Stillstandzeiten sollen so laut ABB um 70 % sinken.
Vor allem in der Prozessindustrie, etwa in Chemieanlagen oder Raffinerien, wimmelt es schon heute von Sensoren, Aktoren und analytischen Messgeräten. Überwacht, gesteuert und geregelt werden sie von einem Prozessleitsystem aus. Dort geht bei Unregelmäßigkeiten der Alarm ein.
Wie ein solcher Alarm aussehen und das Problem gelöst werden kann, demonstriert ABB in einem Showroom in Houston. Dort ist die neueste Version des Prozessleitsystems 800xA aufgebaut.
Die Szene ist beeindruckend: Plötzlich ertönt ein akustisches Signal. Sofort verändert sich die Farbe der Deckenbeleuchtung. Sie wechselt von grün auf rot. Außerdem fährt der Schreibtisch hoch und zwingt den Anlagenfahrer zum Aufstehen. Seine volle Aufmerksamkeit ist nun garantiert. Der Neigungswinkel aller Monitore passt sich wie von Geisterhand an. Jetzt haben auch eventuell herbeigerufene Experten eine optimale Sicht auf das Geschehen. Automatisch wird der Problembereich auf den Zentralmonitor gespielt. Intuitiv kann dort zwischen Prozessgrafiken, Livevideos und aktuellen Bedienungsanleitungen gewechselt werden.
Parallel wird eine Sprachverbindung zu einem Servicetechniker vor Ort hergestellt. Im Dialog erläutert der Anlagenfahrer den Problemfall. Zeitgleich sendet er per Mausklick die zur Reparatur nötigen Montageanleitungen auf den Tablet-PC des Spezialisten. Dank einer „Sound-Shower“ ist das Gespräch akustisch weitgehend abgeschirmt von störenden Nebengeräuschen.
Ein Beispiel für Overengineering? Scheu antwortet mit einer Statistik: „Von allen ungeplanten Fertigungsunterbrechungen basieren 40 % auf Bedienfehlern. Unser System kann sie minimieren.“ Möglich werde das durch passgenaue Information. „Der Anlagenfahrer wird nicht überflutet von Zahlen und Grafiken. Er bekommt serviert, was zum Erkennen und Beseitigen sicherheitskritischer Ereignisse nötig ist.“
Vor allem aber werde der gesamte Fertigungsprozess deutlich effektiver. „Durch den strukturierten Gesamtüberblick, den unsere Lösung erlaubt, lassen sich einzelne Teilbereiche der Produktionsstätte besser aufeinander abstimmen. Eventuelle Problemfälle werden früher erkannt und schneller abgestellt – bestenfalls weit bevor sie akut werden.“
Als erfolgreiches Praxisbeispiel verweist Scheu auf eine Kupfermine in Schweden. Sie sollte geschlossen werden. Nach konventionellen Bewertungsmaßstäben galt sie als ausgebeutet. „Doch nach Einführung unserer integrierten Lösung zählt sie zu den produktivsten Minen der Welt.“
Internet of Things: Sicher warten, steuern und fachgerecht reparieren – auch auf große Distanzen
Zurück zum alarmierten Servicetechniker: Sollte er mit den Montageanleitungen auf seinem Tablet-PC die Maschine nicht reparieren können – etwa weil ein Softwareproblem vorliegt –, könnte ihm eine Innovation aus Ostwestfalen helfen. Das Blomberger Unternehmen Phoenix Contact, spezialisiert auf elektrische Verbindungs- und elektronische Interfacetechnik, bietet die mGuard Secure Cloud an. Das ist ein Fernwartungs- und Fernwirkungs-Ökosystem, konzipiert als Plug-and-Play-Lösung. Es erlaubt selbst technischen Laien, Maschinen via Web zu steuern, zu kontrollieren und ggf. umzuprogrammieren.
„Naheliegenderweise stellt sich hier die Frage der Übertragungssicherheit“, so Frank Stührenberg, CEO von Phoenix Contact. Eine Antwort liefert er gleich mit: Virtuelle Private Netzwerke (VPN). Anschaulich dargestellt sind das Gartenschläuche, die Informationen – von außen uneinsehbar – durch das Internet fließen lassen.
Damit der Servicetechniker nicht für jede Maschine einen neuen „Schlauch“ in seinem Büro anschließen muss, ist zwischen ihm und der Fabrik eine Cloud installiert. Dort muss er sich nur einmal anmelden, um Zugriff auf etliche Geräte nehmen zu können.
An die Enden der „Schläuche“ wird die Hardware von Phoenix Contact gesteckt. In der Fabrik wird sie in die Schaltschränke der Maschinen integriert. Beim Servicetechniker steht ein Desktopgerät. Beide Seiten müssen nun nur noch mit dem Internet verbunden werden. Dann meldet sich der Nutzer beim System an und kann via grafischer Oberfläche die Maschinen steuern und programmieren. Erspart bleibt ihm, sich in die komplexe Materie der VPN-Entwicklung einzuarbeiten.
Eine alternative Lösung zur Fernwartung bietet Bosch Rexroth. Der Servicetechniker muss hier lediglich sein Smartphone auf das defekte Maschinenteil ausrichten und – im Rahmen einer speziellen App – den Videomodus starten. Alternativ kann er auch eine Videobrille nutzen. Der entstehende Film wird live via Mobilfunknetz an den Komponentenhersteller gesendet.
Dort sitzt ein Experte, dessen Hände an einem Kameratisch mit Bluescreen-Technik gefilmt werden. Dieser Film wiederum wird in Echtzeit über das Bildmaterial des Servicetechnikers gelegt und an diesen zurückgespielt. So kann der Produktexperte dem Techniker vor Ort genau zeigen, welche Teile entfernt und in welcher Weise später wieder montiert werden müssen. Er kann auch die benötigten Werkzeuge, Betriebsmittel oder Dokumente ins Bild rücken.
Aktuell ist die Lösung vor allem für unternehmensinterne Problemlösungen gedacht. Eine Ausnahme gibt es bisher nur beim Service für die Schwerlastantriebe der Marke Hägglunds.
Softwareentwickler und Maschinenbauer sind voneinander abhängig
Damit es erst gar nicht zu Problemfällen in der Produktion kommt, setzt auch Bosch Rexroth auf vorausschauende Wartung. „Wir bauen beispielsweise längst Sensoren in unsere Hydraulikaggregate ein“, so Steffen Haack, im Vorstand der Bosch Rexroth AG für den Bereich Industrieanwendungen zuständig. „Die gesammelten Daten werden mittels Data-Mining-Algorithmen kontinuierlich ausgewertet, um einen Machining Health Index zu berechnen.“ Fällt dieser Indikator unter einen Schwellenwert, werden die Kunden informiert. „Die passende Wartungsempfehlung bekommen sie gleich mitgeliefert“, so Haack.
Weiterentwickelt werden die selbstlernenden Systeme von Bosch-Mitarbeitern in den USA. „Um die Empfehlungen der amerikanischen Softwareexperten umzusetzen, bedarf es aber eines tiefen Verständnisses der Maschine. Und das haben nur die Hardware-Hersteller.“ So seien beide Seiten abhängig vom Domänenwissen des anderen.
Einen scharfen Wettbewerb mit Herstellern aus Asien erwartet Haack in nächster Zeit nicht. Er erwartet ein Szenario, in dem die Digitalisierung der Produktion schnell voran schreitet. „Dazu braucht es hochintegrierte High-End-Technik und offene Standards. Die Industrie 4.0 wird das Ende herstellerspezifischer Schnittstellen in der Automationstechnik einläuten. Es kommt die Stunde der Technologiespezialisten. Und da ist Deutschland gut aufgestellt.“
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