Weniger ist mehr: Warum Deutsche trotz Fachkräftemangels kürzer treten möchten
Der XING-Arbeitsmarktreport 2024 zeigt, dass viele deutsche Beschäftigte trotz Fachkräftemangels lieber weniger arbeiten möchten. Statt mehr zu arbeiten, legen sie viel Wert auf eine gute Work-Life-Balance.
Der Fachkräftemangel und der demografische Wandel werden oft mit einem möglichen Verlust an Wohlstand in Verbindung gebracht. Dennoch sind sechs von zehn deutschen Beschäftigten (58 %) der Meinung, dass mehr Arbeit nicht notwendig ist, um einem möglichen wirtschaftlichen Abschwung entgegenzuwirken.
Statt mehr zu arbeiten, wünscht sich die Hälfte der Befragten weniger Arbeitszeit. Ein Drittel (34 %) wäre sogar bereit, für mehr Urlaubstage Gehaltseinbußen in Kauf zu nehmen. Diese Erkenntnisse stammen aus dem XING-Arbeitsmarktreport 2024, der von Appinio unter 2.000 Beschäftigten in Deutschland durchgeführt wurde.
Durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland liegt bei 34,4 Stunden
Der deutsche Arbeitsmarkt hat mit rund 46 Millionen Erwerbstätigen seinen Höhepunkt erreicht – im Vergleich zu 1994, als es 37,7 Millionen waren. Doch bis 2035 werden täglich etwa 1.000 Beschäftigte aus Altersgründen ausscheiden. Gleichzeitig liegt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland bei 34,4 Stunden, unter dem europäischen Schnitt von 36,9 Stunden. Diese Kombination führt dazu, dass viele Unternehmen trotz Rezession Schwierigkeiten haben, genug Arbeits- und Fachkräfte zu finden.
Eine klare Schere zwischen den Generationen
Dennoch sind sechs von zehn deutschen Beschäftigten (58 %) der Meinung, dass mehr Arbeit nicht notwendig ist, um einem möglichen wirtschaftlichen Abschwung entgegenzuwirken. Besonders ältere Generationen wie die Babyboomer und Generation X sind mit 63 % dieser Ansicht, während jüngere wie die Millennials (55 %) und Gen Z (53 %) die Notwendigkeit höher einschätzen.
Interessanterweise möchten viele junge Menschen, vor allem in der Gen Z (53 %), ihre Arbeitszeit reduzieren. Insgesamt möchten 49 % der Beschäftigten weniger arbeiten. Eine Ausnahme bilden die Babyboomer, bei denen nur 37 % diesen Wunsch haben. Gleichzeitig sind die Babyboomer mit 57 % auch zufriedener mit ihrer aktuellen Arbeitssituation als die anderen Generationen.
„Hier zeigt sich eine klare Schere zwischen den Generationen: Während die überdurchschnittlich leistungsbereiten Babyboomer das Gefühl haben, ihren Teil getan zu haben, aber auch generell weniger Notwendigkeit für eine Anhebung der Arbeitszeit sehen, sind sich die Jüngeren eines drohenden Wohlstandsverlustes deutlich bewusster. Während sie theoretisch anerkennen, dass Mehrarbeit hier als Gegenmittel greift, würden sie es vorziehen, diese nicht selbst leisten zu müssen“, erklärt Thomas Kindler, Managing Director von XING diese Tendenz in einer Pressemitteilung.
Viele Beschäftigte erleben den Fachkräftemangel bereits hautnah: Über 40 % berichten, dass ihr Unternehmen Schwierigkeiten hat, geeignetes Personal zu finden. 30 % spüren eine erhöhte Arbeitsbelastung, und fast genauso viele bemerken eine schlechtere Stimmung und Motivationsprobleme. Ein Viertel (24 %) der Befragten sagt, dass die Qualität der Arbeit darunter leidet, und ebenso viele berichten von erhöhtem Stress und einem höheren Risiko für Burnout.
Zumindest 9 % der Befragten würden gerne mehr arbeiten. Bei denjenigen, die in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt sind, steigt dieser Anteil auf 15 %.
Finanzielle Einbuße für eine bessere Work-Life-Balance?
Auf die Frage, welche Anreize sie zu freiwilliger Mehrarbeit bewegen könnten, nennen die Befragten vor allem finanzielle Vorteile: Bonuszahlungen und Prämien (48 %), ein höheres Gehalt entsprechend der zusätzlichen Stunden (40 %) oder sogar darüber hinaus (43 %), sowie zusätzliche Urlaubstage (40 %). Für 33 % wären auch steuerliche Vergünstigungen ein Anreiz, mehr zu arbeiten.
Interessanterweise wären 34 % der Befragten bereit, für mehr Urlaubstage auf einen Teil ihres Gehalts zu verzichten. 21 % könnten sich vorstellen, finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen, um eine bessere Work-Life-Balance zu erreichen.
Rund die Hälfte der Beschäftigten (52 %) ist mit ihrer Work-Life-Balance zufrieden oder sehr zufrieden. Dabei gibt es jedoch einen deutlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern: 55 % der Männer sind mit ihrem Verhältnis von Arbeit und Privatleben zufrieden, aber nur 49 % der Frauen sehen das genauso. Die größten Herausforderungen dabei sind gesundheitliche Probleme und Stress, die 36 % der Befragten als Hindernis empfinden. Hier sind Frauen mit 41 % stärker betroffen als Männer mit 31 %. Auch fehlende Flexibilität bei der Arbeitszeit (35 %) und zu wenig Zeit für Hobbys und Freizeit (35 %) werden häufig genannt.
Anreize für Mehrarbeit können viel bewirken
Der XING Arbeitsmarktreport 2024 zeigt außerdem, dass Work-Life-Balance auch in Bewerbungsgesprächen ein zentrales Thema ist: 52 % der Recruiter und Personalverantwortlichen geben an, dass dieses Thema am häufigsten angesprochen wird. Danach folgen Homeoffice, Remote Work und flexible Arbeitszeiten sowie eine attraktive Vergütung, die jeweils von 45 % der Befragten als wichtig genannt werden.
„Diese Ergebnisse zeigen uns, dass Beschäftigte in Deutschland weniger denn je bereit sind, ihr Privatleben ihrem Job unterzuordnen, es sei denn, die Bedingungen stimmen“, kommentiert Thomas Kindler. „Unternehmen haben wirksame Mittel in der Hand, um den Fachkräftemangel abzufedern. Anreize für Mehrarbeit wie attraktive Vergütungen und Arbeitszeitmodelle mit möglichst viel Flexibilität zahlen auf die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen ein. Hier ist ein Umdenken gefragt – und das besser heute als morgen.“
Wunsch nach mehr Flexibilität, Work-Life-Balance und persönlicher Entfaltung
Auch laut einer Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigen Deutsche ein geringeres Interesse an längeren Arbeitszeiten.
Die Wunscharbeitszeit der jungen Leute spiegelt oft ihre Bedürfnisse nach Flexibilität, Work-Life-Balance und persönlicher Entfaltung wider. Viele junge Menschen streben nach Arbeitsmodellen, die es ihnen ermöglichen, ihre Arbeitszeit an ihre individuellen Lebensumstände anzupassen, sei es durch Teilzeitbeschäftigung, flexible Arbeitszeiten oder Remote-Arbeit. Diese Flexibilität wird oft als entscheidender Faktor für die Zufriedenheit am Arbeitsplatz angesehen und kann dazu beitragen, dass junge Talente motiviert und produktiv bleiben. Denn: Unternehmen, die diese Bedürfnisse erkennen und entsprechende Arbeitszeitmodelle anbieten, können sich als attraktive Arbeitgeber positionieren und von einem engagierten und loyalen Mitarbeiterstamm profitieren.
In der letzten Zeit wird aber oft angenommen, dass die junge Generation viel mehr Wert auf ihre Freizeit legt bzw. dass junge Menschen weniger arbeiten möchten. In der Realität zeigt sich jedoch, dass das Interesse an einer bestimmten Arbeitszeit bei jungen Arbeitnehmern im Laufe der Zeit abnimmt. Diese Entwicklung ist aber laut der Studie nicht ausschließlich bei der jungen Generation zu beobachten, sondern betrifft auch ältere Arbeitnehmende.
Von daher entsteht die Frage: Besteht tatsächlich bei heutigen Berufsanfängern eine geringere Bereitschaft, Zeit für ihre berufliche Laufbahn aufzubringen, verglichen mit früheren Generationen?
Die Untersuchung des IW zu diesem Thema basiert auf regelmäßigen Umfragen unter zehntausenden Arbeitnehmern im Rahmen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) mit seinem umfangreichen sozialwissenschaftlichen Datensatz.
Rückgang der gewünschten Arbeitszeit auch bei älteren Mitarbeitenden
Diese Analyse nach Altersgruppen zeigte tatsächlich einen Rückgang der gewünschten Arbeitszeit über den Zeitraum von 2007 bis 2021 um mehr als 3 Wochenstunden. Aber, wie bereits erwähnt, es betrifft nicht nur die jüngste Altersgruppe. Sogar bei den Altersgruppen der 26- bis 40-Jährigen (um etwa 2 Wochenstunden) und der über 40-Jährigen (um knapp 3 Wochenstunden) wurde ein Rückgang der durchschnittlich bevorzugten Arbeitszeit festgestellt.
Die Analyse schloss abhängig Beschäftigte ein, jedoch keine Schüler, Studenten und Auszubildende. Es wurden auch bei der Auswertung geringfügig Beschäftigte einbezogen, da die Ausübung eines Minijobs ebenfalls eine Ausdrucksform der gewünschten Arbeitszeit sein kann. Die Wunscharbeitszeit im SOEP wurde unter dem Hinweis abgefragt, dass sich der Lohn entsprechend ändern würde, wenn von der tatsächlichen Arbeitszeit abgewichen wird.
Arbeitszeitwünsche junger Arbeitnehmer sinken stärker bei niedrigen Löhnen
Eine genauere Analyse junger Arbeitnehmer zeigte, dass die gewünschte Arbeitszeit besonders stark bei Beschäftigten mit niedrigen Stundenlöhnen gesunken ist. Zwischen 2007 und 2021 sank die Wunscharbeitszeit der jungen Arbeitnehmer im unteren Viertel der Lohnskala um 6,3 Wochenstunden, während sie im oberen Viertel nur um 3,0 Stunden sank. Ebenso nahm die Arbeitszeit stärker ab bei jungen Arbeitnehmern ohne Berufsausbildung im Vergleich zu denen mit Hochschulabschluss.
Im SOEP werden auch die Erwerbswünsche von nicht erwerbstätigen Jugendlichen wie Schülern oder Studenten analysiert. Diese können angeben, ob sie in Zukunft lieber Vollzeit oder Teilzeit arbeiten möchten. Zwischen 2017 und 2021 ist bei jungen Menschen unter 30 Jahren ein Rückgang des Wunsches nach Vollzeitbeschäftigung von 62 auf 48 Prozent zu beobachten.
SOEP eine Langzeitstudie, die in Deutschland durchgeführt wird. Sie untersucht die Lebensbedingungen von Privathaushalten über einen längeren Zeitraum hinweg und bietet Daten zu Themen wie Arbeit, Bildung, Einkommen, Gesundheit und Lebenszufriedenheit. Das SOEP wird vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) durchgeführt und ist eine der wichtigsten Datenquellen für die empirische Sozialforschung in Deutschland.
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