Wer krank ist, zahlt selbst? Deutschlands Krankenstand kostet Milliarden
Der hohe Krankenstand in Deutschland sorgt zunehmend für Besorgnis – nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch in der Wirtschaft.
Inhaltsverzeichnis
Im Handelsblatt-Interview hatte Allianz-CEO Oliver Bäte vor einer Überlastung der Sozialsysteme gewarnt. Der Krankenstand in Deutschland ist deutlich angestiegen. Der Allianz-Chef betrachtet die steigenden Fehltage als ein erhebliches Kostenproblem und unterbreitet einen kontroversen Vorschlag. „Ich schlage vor, den Karenztag wieder einzuführen. Damit würden die Arbeitnehmer die Kosten für den ersten Krankheitstag selbst tragen“, sagte er gegenüber dem „Handelsblatt“.
„Arbeitgeber zahlen in Deutschland pro Jahr 77 Milliarden Euro Gehälter für kranke Mitarbeiter. Von den Krankenkassen kommen noch mal 19 Milliarden Euro hinzu. Das entspricht rund sechs Prozent der gesamten Sozialausgaben“, erklärte Oliver Bäte.
Die IG Metall nannte es unverschämt und fatal, den Beschäftigten vorzuwerfen, sie würden absichtlich krank machen. „Wer Karenztage aus der Mottenkiste holt, greift die soziale Sicherheit an und fördert verschleppte Krankheiten“, warnte Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. „Die deutsche Wirtschaft gesundet nicht mit kranken Beschäftigten, sondern im Gegenteil mit besseren Arbeitsbedingungen.“
Krankschreibungen in Deutschland
Laut dem Statistischen Bundesamt waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 2023 im Schnitt 15,1 Tage krankgemeldet.
Die Krankenkasse DAK-Gesundheit meldete sogar höhere Werte: Mehr als die Hälfte der DAK-Versicherten hatte 2023 mindestens eine Krankschreibung. Im Jahresdurchschnitt kam dies auf 20 Fehltage pro Person.
Die Techniker Krankenkasse (TK), Deutschlands größte Krankenkasse, meldete einen Rekord-Krankenstand unter ihren versicherten Erwerbstätigen. Von Januar bis November 2023 waren diese im Schnitt 17,7 Tage krankgeschrieben – der höchste Wert bisher. In den gleichen Zeiträumen der Vorjahre lag der Krankenstand etwas niedriger: 17,4 Fehltage im Jahr 2022 und 13,2 Tage im Jahr 2021.
Auch im Vergleich zur Zeit vor der Coronapandemie war der Krankenstand deutlich gestiegen. 2019 waren es in den ersten elf Monaten durchschnittlich 14,1 Fehltage. Grundlage der Daten waren die rund 5,7 Millionen bei der TK versicherten Erwerbstätigen.
„Hauptdiagnose für die Fehltage sind nach wie vor Erkältungskrankheiten wie zum Beispiel Grippe, Bronchitis und auch Coronainfektionen“, erklärte TK-Vorstandschef Jens Baas. „An zweiter Stelle stehen psychische Diagnosen wie Depressionen oder Angststörungen, an dritter Stelle Krankschreibungen aufgrund von Muskelskeletterkrankungen.“, wurde er von der dpa zitiert.
Eine aktuelle bundesweite Umfrage im Auftrag der TK zeigt, dass viele Menschen in Deutschland verantwortungsbewusst mit Erkältungen umgehen und versuchen, andere nicht anzustecken. Bereits bei den ersten Anzeichen einer Erkältung, wie Kopf- und Halsschmerzen oder Schnupfen, geben 77 Prozent der Befragten an, soziale Kontakte, wenn möglich, zu meiden.
Warum „Präsentismus“ so gefährlich ist
Gleichzeitig warnt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) davor, dass immer mehr Beschäftigte in Deutschland trotz Krankheit arbeiten.
„“Präsentismus“, also krank bei der Arbeit zu erscheinen, ist branchenübergreifend weit verbreitet“, wird Anja Piel von der DGB-Führung von der dpa zitiert. Piel betonte, dass die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ein wichtiges Gut sei, gerade angesichts der Tatsache, dass immer mehr Menschen trotz Krankheit arbeiten.
Piel widersprach dem Vorschlag von Oliver Bäte und sah keinen Handlungsbedarf bei Krankschreibungen. Sie verwies auf Daten der OECD, die keinen deutlichen Anstieg der Fehlzeiten in Deutschland zeigen – weder im Vergleich mit anderen EU-Ländern noch im Laufe der Zeit.
Piel verwies auf eine repräsentative Umfrage, wonach bereits vor der Corona-Pandemie etwa 70 Prozent der Beschäftigten mindestens einmal im Jahr krank zur Arbeit gegangen seien und im Schnitt fast neun Arbeitstage pro Jahr trotz Krankheit gearbeitet hätten. Sie betonte, dass Präsentismus der eigenen Gesundheit schade und zudem zu Ansteckungen unter Kolleginnen und Kollegen oder zu Unfällen führen könne, was hohe Folgekosten nach sich ziehe.
Problem für den Wirtschaftsstandort Deutschland
Der hohe Krankenstand in Deutschland sorgt immer wieder für Diskussionen. Denn: Das Ausmaß wird in der Studie „Hoher Krankenstand drückt Deutschland in die Rezession“ deutlich aufgezeigt. Deutschland verzeichnete im vergangenen Jahr mit einem Rückgang von 0,3 % bei der Wirtschaftsleistung das schlechteste Ergebnis im Euroraum und gehört auch weltweit zu den Schlusslichtern. Die Industrie hat Schwierigkeiten, mit den stark gestiegenen Kosten und den Veränderungen im globalen Umfeld zurechtzukommen. Zusätzlich liegt der Krankenstand auf Rekordniveau: Hohe Arbeitsausfälle führten zu großen Produktionsverlusten. Wäre der Krankenstand nicht so hoch gewesen, wäre die deutsche Wirtschaft um fast 0,5 % gewachsen. Durch den hohen Krankenstand verliert Deutschland rund 26 Milliarden Euro an Einkommen – auch für die Krankenversicherung und Steuereinnahmen gehen Milliarden verloren.
Mercedes-Benz-Chef Ola Källenius sieht die vielen Krankentage deutscher Arbeitnehmer als Problem für den Wirtschaftsstandort. Er erklärte, dass der Krankenstand in Deutschland unter gleichen Produktionsbedingungen oft doppelt so hoch sei wie im Ausland, was wirtschaftliche Folgen habe. Auch Tesla-Chef Elon Musk hatte den hohen Krankenstand im Autowerk Grünheide während der Sommermonate kritisiert. (mit dpa)
Ein Beitrag von: