04.03.2011, 01:00 Uhr

Zu alt?

Mein Freund Eduard ist seit 15 Jahren bei einem mittelständischen Unternehmen beschäftigt und leitet dort seit fünf Jahren den Vertrieb. Bis vor einem Jahr hat ihm seine Arbeit Spaß gemacht. Sowohl zum Geschäftsführer und seinen Mitarbeitern als auch zu den Kunden hatte er ein gutes Verhältnis. In den letzten Monaten war Eduard zunehmend unzufrieden, ging nicht mehr gern zur Arbeit und hatte manchmal sogar Magenschmerzen. Was war passiert? „Es hat einen Wechsel in der Führung gegeben und jetzt wird mit unheimlich viel Druck gearbeitet“, berichtet er. „Meine Mitarbeiter sollen jeden Besuch bei Kunden genau dokumentieren, über ihre Arbeitszeiten genau Rechenschaft ablegen und die Umsatzziele, die ich ihnen vorgeben muss, sind im Grunde völlig unrealistisch. Es hat in den letzten Jahren alles gut funktioniert und ich musste kaum Kontrolle ausüben, das ist jetzt anders und dieser permanente Zwang zu kontrollieren, widerspricht meiner eigenen Grundhaltung. Ich kann doch nicht an andere weitergeben, wozu ich selbst nicht stehe. Ich weiß doch, dass meine Mitarbeiter viel bessere Leistungen bringen, wenn sie sich frei bewegen und eigenverantwortlich handeln können. Es ist wirklich schrecklich, was da im Moment passiert und all meine Gespräche mit der Geschäftsleitung sind erfolglos geblieben. Jetzt sagen sie mir sogar nach, ich sei nicht loyal und das schmerzt, denn ich habe immer im Sinne des Unternehmens gehandelt.“

Auf die Frage, was er denn nun unternehmen wolle, weiß Eduard keine Antwort. Er fühle sich, als stecke er in einer Sackgasse. „Hast du schon einmal darüber nachgedacht zu wechseln?“, frage ich ihn. „Klar, habe ich das, aber das ist doch zwecklos, denn erstens weiß ich ja nicht, welche Schikanen mich in anderen Unternehmen erwarten und zweitens – und das ist das eigentlich Entscheidende – finde ich in meinem Alter doch nichts Neues mehr.“ Ich kann ihn nicht überzeugen, dass er mit seinen 48 Jahren noch jede Menge Perspektiven hat. Er fühlt sich zu alt für einen Wechsel.

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So wie Eduard geht es vielen: Sie halten eine unbefriedigende Situation aus, nehmen in Kauf, dass ihre Gesundheit Schaden nimmt, aus Angst, sie könnten keine neue, erfüllendere Aufgabe mehr finden. Aber sind die Sorgen nicht auch berechtigt? Gerade in einer Gesellschaft, in der es scheinbar immer noch einen Jugendkult gibt? Und ab wann ist man denn definitiv zu alt? Um eine Fußballkarriere zu starten mit 20, um als Fotomodell zu arbeiten mit 30, um sich beim Escort-Service zu bewerben mit 40, um Junior-Supporter in einem High-Technology-Unternehmen zu werden mit 50, um in einer Baumfäller-Kolonne zu arbeiten mit 60. Allerdings ist man mit 20 zu jung Vorstandsassistentin zu werden, mit 30 zu jung, sich als Seelsorger zu bewerben, mit 40 zu jung, Bundespräsident zu werden, mit 50 zu jung, um Papst sein zu können. Und mit 60? Ja, da wäre das alles möglich, wenn nicht die vielen „Wenn und Aber“ im Kopf wären.

Welche dieser Unterscheidungen spielen für den erwünschten Job aber wirklich eine Rolle? Was unterscheidet denn tatsächlich einen 48-Jährigen von einem 28-Jährigen? Gut, beim Fußball stellen Ältere fest, dass Sie nicht mehr so laufstark sind wie früher, beim Blick in den Spiegel stellen die meisten Männer fest, dass der Traum vom Waschbrettbauch ausgeträumt ist und die meisten Frauen, dass die vielen Diäten über die Jahre doch nicht so erfolgreich waren. Da sind Falten, wo früher ein niedliches Grübchen war, da schimmert die rosige Kopfhaut, wo früher krauses Haar das Haupt geziert hatte. Ja, das sind wirklich Veränderungen, aber brauchen Sie die 10,5 Sek. auf hundert Meter für den Gang zum Kopierer? Macht der Waschbrettbauch das Gespräch mit dem Kunden leichter? Sorgen die Falten dafür, dass Sie bei einer Präsentation schlechter abschneiden?

Schauen Sie sich dagegen mal Ihre Ohren an! Sind die nicht gewachsen? Und genau die brauchen Sie, um die Wünsche Ihres Chefs, Ihrer Mitarbeiter, Ihrer Kunden zu hören! Und wie sieht es mit Ihren Augen aus? Na gut, sie brauchen eine Sehhilfe. Aber davon abgesehen, sind Sie nicht besser in der Beobachtung geworden? Ihr Mund? Die Zahnspange haben Sie hinter sich gelassen und bis zu den Dritten haben Sie noch Zeit – vielleicht kommen sie Dank guter Zahnärzte auch nie -, der Mund kann also alles sagen, was Sie wollen. Nur, dass er das nicht mehr tut, weil Sie sensibler geworden sind und Fettnäpfchen schon erkennt, bevor Sie hineintappen. Ihre Intuition? Die hat sich in den letzten Jahren richtig gut entwickelt – dank vielfältiger Erfahrung – und läuft jetzt zur Höchstform auf. Das Gehirn? Ja, das Gehirn. Haben wir nun endlich etwas gefunden, bei dem sich ein 48-Jähriger nicht mit einem 28-Jährigen messen kann? Zugegeben, es fällt ihm schwerer, sich Vokabeln einzuprägen und er braucht länger, ein Gedicht auswendig zu lernen und manchmal vergisst er etwas, schlimmstenfalls sogar den eigenen Hochzeitstag. Andersherum versteht er komplexe Zusammenhänge sehr gut, kann selektieren in wichtige oder unwichtige Informationen und Neues gleich in einen sinnvollen Zusammenhang stellen, weil er mit der Zeit von einem Theoriehirn zu einem Praxishirn geworden ist. Genau diese praktische Fähigkeiten braucht es in seinem neuen Job, wobei er auf seinen reichen Erfahrungsspeicher und den Abgleich mit Vergleichssituationen zurückgreift. Alles in allem hat der 48-Jährige also die besten Voraussetzungen!

Was sollte einen neuen Arbeitgeber also sonst noch davon abhalten, genau Sie einzustellen? Die kürzere Zeit, die Ihnen für ihn und sein Unternehmen bis zur Rente bleibt? Wenn er einen 57-Jährigen einstellt, dann weiß er, dass er ihn noch zehn Jahre lang auf seiner Gehaltsliste hat. Zehn Jahre sind eine verdammt lange Zeit, und wer garantiert Ihnen denn, dass es genau dieses Unternehmen in zehn Jahren noch gibt? Das Risiko, das Sie eingehen, erscheint mir höher als das des Arbeitgebers. Welches Unternehmen plant denn heute noch über einen Fünf-Jahres-Zeitraum hinaus? Und weiß Ihr zukünftiger Chef denn bei einem 28-Jährigen, ob er länger als zehn Jahre bleibt? Im Übrigen: Wenn der junge Mann länger bleiben sollte, wird er für seine Beständigkeit am Ende noch bestraft, denn sein Lebenslauf wird ihn in den Augen einiger Arbeitgeber als unflexibel gelten lassen.

So weit, so gut, sagen Sie jetzt vielleicht und sind geneigt, mir augenzwinkernd zu folgen. Wie aber sieht es mit Krankheiten aus? Gut, lassen Sie uns überlegen: Mit 20, 30 oder 40 waren wir auch einmal krank, allerdings war das Risiko, an den Folgen unserer Lebensweise (falsche Ernährung, wenig Bewegung, negatives Denken) ernsthaft zu erkranken, geringer. Wobei ich ja eher geneigt bin, der Theorie zu folgen, dass viele Menschen erst oder nur dann erkranken, wenn sie keine sinnvolle Aufgabe, keine Bestätigung mehr finden und somit Zeit haben, über Krankheiten nachzudenken und sie schließlich auch zu bekommen. Aber Hand aufs Herz: Haben wir nicht früher auch einmal „krankgemacht“, weil wir am Abend vorher abgestürzt sind, weil wir Liebeskummer hatten oder weil der Chef uns einfach auf den Nerv ging? Haben wir nicht einmal eine schnöde Erkältung zu einer gefährlichen Influenza und einen gereizten Magen zu einem quälenden Magen-Darm-Infekt gemacht? Ich tue das heute nicht mehr. Wenn ich, was allerdings deutlich seltener vorkommt, abgestürzt bin, orientiere ich mich an dem Motto: „Wer feiern kann, kann auch arbeiten“, und wenn ich eine Erkältung habe, denke ich nur: „Was von allein kommt, geht auch von allein wieder“ oder auch „Beachtung schafft Verstärkung, Nichtbeachtung Befreiung.“ Ich habe weniger Liebeskummer und kann damit besser umgehen, und ich werde höchstwahrscheinlich nicht mehr schwanger. Meinen Sie nicht auch, dass all dies das leicht erhöhte Risiko zu erkranken, mehr als ausgleicht? Von den Risikosportarten des 28-Jährigen wollen wir in diesem Zusammenhang nicht einmal reden!

Der 48-Jährige ist also unterm Strich der perfekte Kandidat und hat seinen Preis – einen höheren Preis als der jüngere Vergleichskandidat! Und hier unterscheiden wir Menschen uns eben von einem Auto: Je älter wir werden, desto höher ist unser Wert. Und dieses hochpreisige Modell Mensch kann sich nicht jedes Unternehmen leisten. Das tut uns leid, aber dafür können wir auch nichts. Es wird also einige Unternehmen geben, die sich kein erstklassiges, erfahrenes Modell leisten können und weil die Vertreter dieser Unternehmen genau das nicht zugeben wollen – die meisten jedenfalls -, drehen Sie den Spieß einfach um und sagen: „Sie sind zu alt!“ Die einfache Formel lautet also: Sind die zu arm, sind wir zu alt. Wenn wir das wissen, brauchen wir uns von entsprechenden Sätzen nicht mehr verunsichern zu lassen, sondern können unbehelligt nach den Unternehmen Ausschau halten, die sich uns erlauben können und bereit sind, in Manpower-Werte zu investieren. Es mag nicht immer – ohne Fehltritte – gelingen, diese Unternehmen auf Anhieb zu finden, aber schon der Text der Anzeige liefert Ihnen bei aufmerksamem und kritischem Lesen wertvolle Tipps.

Das Einzige, was meinen Freund Eduard und viele andere Menschen also trennt von der Erfüllung ihrer Berufswünsche, ist das eigene Denken und Sprechen, denn sie alle denken und sprechen „Altdeutsch“. Sie kennen „Altdeutsch“ nicht? Haben Sie je den Satz gehört: „Wenn du mit 50 morgens aufwachst und es tut dir nichts weh, dann bist du tot“? Das ist Altdeutsch in Perfektion. Natürlich gehören auch andere Vokabeln dazu, wie zum Beispiel: „Das trägt man in meinem Alter nicht mehr“. „So was ist nichts mehr für mich“. „In unserem Alter darf einem auch schon mal was weh tun“. „Komm du erst mal in mein Alter“. „Als ich in deinem Alter war, da hab ich auch so manche Dummheit gemacht“. „Für mein Alter sehe ich doch eigentlich noch ganz passabel aus“ oder „Das fällt mir heute alles schwerer als in der Jugend“. Wenn Sie solche Sätze denken oder gar aussprechen, dann haben Sie die besten Voraussetzungen geschaffen, bald wirklich zu alt zu sein, denn mit Altdeutsch beschleunigen Sie den Prozess des Alterns rapide. Stellen Sie doch einfach mal das in Frage, was Sie mit irgendeiner Zahl verbinden. 20: Da hat man noch Träume. 30: Baum pflanzen, Haus bauen, Sohn zeugen. 40: Wegen des Haarausfalls und der Gewichtszunahme muss man froh sein über das, was man hat. 50: lächerlicher zweiter Frühling oder ernsthafte Ermüdungserscheinungen. 60: warten auf die Rente und Enkelsitting. 70: Krückstock statt Woodstock. 80: Doktors Liebling und warten auf Joe Black. 90: six feet under … Das alles sind Assoziationen, die im 21. Jahrhundert nicht mehr bestehen und sich nur noch halten, weil wir daran glauben.

Mir fällt beispielsweise ein 32-Jähriger ein, der mir zu alt wäre, weil er alles schon weiß, alles schon kann und keine Fragen stellt, und ich habe einen 68-jährigen Bekannten, der wäre mir zu jung, weil er (immer noch) keine Manieren hat und sich (immer noch) für den Mittelpunkt des Universums hält. Altsein ist nur eine fiktive Idee in Ihrem Kopf, für die es Bestätigungen und Ausnahmen gibt, je nachdem, was Sie sehen wollen. Und wenn es Ihnen nicht gelingt, sich von der Vorstellung einer Zahl zu lösen, dann schlage ich das vor, was immer schon geholfen hat, wenn etwas nicht mehr den gewünschten Nutzen gebracht hat: Eine Inflation! In Ihrem Fall eine Altersinflation in Form einer neuen Lebenszahlwährung. Da wir meist ohnehin erst nach mindestens einer Wiederholung aus Erfahrungen lernen, bietet sich eine Halbierung geradezu an. Eduard ist demnach nicht mehr 48 Jahre alt, sondern er hat 24 PAEKs (PAEK = Punkte auf Erfahrungskonto). Sie sind 56 Jahre alt? Dann haben Sie 28 PAEKs. Ich fürchte, damit sind Sie für eine verantwortungsvolle Position noch ein wenig zu jung! Und der arme Eduard muss wohl oder übel noch ein paar PAEKs warten bis er mit der Karriere- und Familienplanung anfangen kann. Zum Trost sei ihm gesagt: Auch die geringen PAEKs haben ja ihre Vorteile. Eduard! Wie steht’s um deine Träume?

www.schmidt-partner-solingen.de

Ein Beitrag von:

  • Renate Eickenberg

    Renate Eickenberg ist Coach, Beraterin sowie Autorin. Sie prüft für Ingenieure und Ingenieurinnen Bewerbungsunterlagen und gibt in Ihren Artikeln Karrieretipps.

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