„Breite Widerspruchswelle gegen Eingruppierung“
Alle Beschäftigten müssen neu eingruppiert werden. Dabei komme es vielfach zu Abstufungen, viele Mitarbeiter würden über Jahre keine Lohnsteigerung mehr bekommen, fürchtet die IG Metall.
Faire Bezahlung für alle Beschäftigten und die Aufhebung der über 100-jährigen Zweiklasseneinteilung von Arbeitern und Angestellten – mit diesem hohen Anspruch wird in den nächsten Monaten in vielen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie (M+E) der ERA-Tarifvertrag umgesetzt.
ERA steht für Entgeltrahmenabkommen und ist ein äußerst kompliziertes Vertragswerk, auf das sich die Tarifvertragsparteien 2002 in Baden-Württemberg nach jahrelangen Verhandlungen geeinigt hatten. Für die Betriebe eine Mammutaufgabe, denn es müssen alle Beschäftigten neu eingruppiert werden.
Mittlerweile haben alle Tarifregionen der M+E-Industrie einen jeweils für ihr Gebiet zugeschnittenen ERA abgeschlossen. Den Einführungszeitpunkt für das neue Entgeltsystem bestimmen die Arbeitgeber. Bundesweit werden ein Viertel bis ein Drittel der Metall- und Elektrounternehmen bis zum Jahresende den ERA eingeführt haben, schätzt Reinhard Bahnmüller vom Forschungsinstitut für Arbeit, Technik und Kultur (F.A.K.T.) der Uni Tübingen. Bahnmüller begleitet zusammen mit Kollegen die ERA-Einführung und wertet sie für die Tarifvertragsparteien aus.
Die großen Leuchttürme der M+E-Industrie wie DaimlerChrysler, Bosch oder Siemens werden im kommenden Jahr das neue Entgeltsystem einführen. Bei DaimlerChrysler soll es zum 1. Januar 2007 offiziell in Kraft treten. Bereits jetzt werden die Eingruppierungsmitteilungen an die Mitarbeiter verschickt. Die Beschäftigten haben die Möglichkeit, Widerspruch gegen ihre Eingruppierung bei einer paritätisch besetzten Kommission einzureichen. Arbeitnehmervertreter rechnen mit einer „breiten Widerspruchswelle“. Viele Arbeitgeber versuchten nach „Gutsherrenart“ ERA einzuführen oder lehnen die Einrichtung einer paritätisch besetzten Einspruchskommission ab, sagt Kai Bliesener, Sprecher des IG Metall Bezirks Baden-Württemberg.
IG Metall und der Arbeitgeberverband Südwestmetall waren sich grundsätzlich einig, dass betriebliche Streitigkeiten über die Eingruppierung durch die Kommission gelöst werden sollten. Nun wollten die Arbeitgeber und Südwestmetall die Arbeitsaufgaben alleine bewerten.
Von einem „Großreinemachen“ bei den Entgeltstrukturen will die IG Metall aber nicht sprechen. Dennoch rechnen Gewerkschafter damit, dass „Strukturprobleme“ auftauchen und der Widerstand und die Proteste in den Betrieben zunehmen könnten. In zahlreichen Fällen komme es zu deutlichen Abgruppierungen und damit zu einer Absenkung der Entgelte.
Dies treffe alle Ebenen im Unternehmen, vom Ingenieur bis zur Sekretärin, beobachten Arbeitnehmervertreter. Es sei jedoch noch zu früh, das Verhalten einiger schwarzer Schafe zu verallgemeinern. Erste Erkenntnisse, ob ERA zu einer flächendeckenden Senkung der Löhne führt, lägen frühestens im nächsten Jahr vor, sagen Gewerkschaftsvertreter.
Probleme gebe es bei Siemens. Gewerkschafter und Betriebsräte klagen, dass ein Großteil der Mitarbeiter in Tarifgruppen eingestuft würden, die weit unter den jetzigen Gehältern lägen. „Der überwiegende Teil wird in Zukunft wohl schlechter eingruppiert sein“, meint ein Betriebsrat.
Betroffene berichten von Unterschieden von 500 € im Monat und mehr. Wer durch ERA schlechter eingruppiert wird, behält zwar sein früheres, höheres Entgelt, aber das wird mit Lohnsteigerungen verrechnet. An einigen Münchner Standorten von Siemens werde es wohl fünf bis sechs Jahre dauern, bis Lohnerhöhungen wieder auf dem Konto der Beschäftigten ankämen, meint ein Betriebsrat.
Siemens weist die Kritik zurück. Das Unternehmen setze lediglich das bestehende Tarifrecht um, sagt ein Firmensprecher. Nach dem ERA-Tarifvertrag dürften die Personalkosten insgesamt nicht steigen. So müsse es zu Umverteilungen innerhalb der Belegschaft kommen.
Auch der Arbeitgeberverband Gesamtmetall räumt ein, dass es durch ERA „im Einzelfall“ zu Abgruppierungen kommen könne, vor allem, wenn ein Mitarbeiter bisher „fälschlich“ zu hoch eingruppiert worden sei.
Damit ERA für die Unternehmen keine zusätzlichen Kosten verursacht, wurde in der Tarifrunde 2002 beschlossen, von den Lohnerhöhungen bis 2005 2,79 % auf ein betriebliches Konto fließen zu lassen, um daraus die Kosten für die Höhergruppierung einzelner Arbeitnehmer zu bestreiten.
So wurde beispielsweise bei Opel dieser millionenschwere ERA-Topf als Arbeitnehmerbeitrag zum Zukunftsvertrag verwendet. Begründung: Die Einführung von ERA erfolge bei Opel ohne Zusatzkosten. „Es kommt in vielen Fällen zu einer Vermischung von Problemen, die nichts miteinander zu tun haben“, sagt der ERA-Experte der IG Metall, Christian Brunkhorst.
Opel, so die IG Metall, sei mittlerweile kein Einzelfall. Auch andere Unternehmen bedienen sich aus den ERA-Töpfen und nutzen das Instrument zur Senkung der Lohnkosten.
Es wird sich in den nächsten Wochen zeigen, ob die hohen Ziele des ERA – Entgeltgerechtigkeit, zeitgemäße Entlohnung und Verankerung von Leistungsbestandteilen – tatsächlich als positiv von den Arbeitnehmern gewertet werden.
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