„Demokratie und Rechtsstaat kann man ökonomisch nicht messen“
Der Staat habe sich durch Steuersenkungen und den Verkauf öffentlicher Unternehmen selbst entmachtet, kritisieren der ehemalige Bundesverfassungsrichter Siegfried Broß und der Frankfurter Sozialwissenschaftler Tim Engartner. Broß schlägt die Einrichtung von Fonds vor, mit denen der Staat seine Steuerungsfähigkeit behalten könne.
VDI nachrichten: Leben wir in einer Demokratie oder in einer Rating-Republik?
Broß: Wir leben in einer sehr geschwächten Demokratie, die maßgeblich von Rating-Agenturen und intransparenten Finanzakteuren beherrscht wird.
Engartner: Die Macht der Anleger ist sehr groß. Das spüren derzeit vor allem die Menschen in Südeuropa, wo Kreise aus Finanzeliten versuchen, die Herrschaft über diese Länder zu gewinnen und wo überlegt wird, die Inseln Kreta, Korfu und Kos zu privatisieren.
Wie konnten die Finanzmärkte, also die Anleger, so große Macht gewinnen?
Broß: Zunächst ist der Staat jahrzehntelang schlechtgeredet worden. Er gilt als verkrustet und unmodern, Beamte als dumm, faul und gefräßig. Hinzu kommt, dass die Politik staatliche Tätigkeiten immer weiter zurückgenommen hat und große Teile der öffentlichen Daseinsversorgung privatisiert und damit dem Markt übergeben worden sind.
Hat der Staat durch eine expansive Ausgabenpolitik solchen Privatisierungen nicht Vorschub geleistet?
Engartner: Es gibt eine chronische Unterfinanzierung der einzelnen Gebietskörperschaften. Der Körperschaftssteuersatz wurde von 40 % auf 15 % abgesenkt, in einigen Städten und Gemeinden lag der Gewerbesteuerhebesatz zwischenzeitlich sogar bei 0 %. Damit haben Kommunen selbst dafür gesorgt, dass ihnen der finanzielle Handlungsspielraum entzogen wurde.
Broß: Man muss nicht privatisieren, auch wenn der Staat knapp bei Kasse ist. Der Staat kann auch Steuern erhöhen. Aber in Deutschland wird gern das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Zudem wird völlig übersehen, dass bei Privatisierungen Werte wie Rechtsstaat, Demokratie, Sozialstaat berührt werden. Und die kann man ökonomisch nicht messen.
Halten Sie Privatisierungen überhaupt für sinnvoll?
Engartner: Der Staat darf sich nicht weiter selbst entmachten. Es gibt Kernbereiche der Daseinsvorsorge, z. B. die Wasser- und Energieversorgung, aber auch der öffentliche Personennahverkehr und Bildungseinrichtungen, die muss man zwingend öffentlich betreiben, damit sie den grundrechtlichen Anforderungen genügen. Dagegen ist es m. E. keine hoheitliche Aufgabe, Autobahnraststätten zu betreiben oder ein Ballett zu unterhalten, wie dies die Deutsche Reichsbahn einst tat.
Broß: Heute lehne ich Privatisierungen strikt ab. Wir können nicht mehr privatisieren, weil wir keine sachgerechte Überwachung sicherstellen können. Der Staat hat sich mit Privatisierungen vom Wohlwollen privater Dritter abhängig gemacht, die er weder überwachen noch steuern kann. Zudem sind die Mitspieler abhanden gekommen, die verantwortungsbewusst und am Gemeinwohl ausgerichtet sind. Auf Unternehmerseite herrschte damals ein anderes Denken als heute.
Was hat sich denn geändert?
Broß: Die Haltung der Unternehmen. Früher wollten Unternehmen mit Privatisierungen auch Geld verdienen, aber nicht um jeden Preis. Geändert hat sich auch die Politik, die den Staat verschlankt hat. Dabei wurde übersehen, dass das Sozialstaatsgebot in einem direkten Zusammenhang mit der Menschenwürde steht, wie sie im Grundgesetz festgeschrieben ist. Dazu gibt es Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die in den vergangenen Jahren von der Politik nicht beachtet wurden. Privatisierungen begünstigen auch Korruption, wie ich immer wieder feststelle, wenn ich andere Länder beim Aufbau demokratischer Ordnungen berate.
Engartner: Politiker denken in Legislaturperioden. In solchen Zeiträumen kann man mit dem Verkauf von Stadtwerken, Wohnungsbau- oder Verkehrsgesellschaften auf einen Schlag hohe Einmaleinnahmen erzielen, um die klammen Kassen zu füllen. Dabei bleiben jedoch die Folgeeffekte meist unberücksichtigt. Als Kunden freuen wir uns über sinkende Gebühren, doch über Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen wir für jene, die dadurch ihre Arbeit verlieren oder in prekäre Arbeit abrutschen. Was betriebswirtschaftlich effizient ist, kann volkswirtschaftlich vollkommen ineffizient sein.
Broß: Privatisierungen und Arbeitsmarktreformen sind Teil des Umbaus der Deutschland AG. Und diese Reformen haben dazu geführt, dass es in Deutschland mehr als 7 Mio. prekäre Arbeitsverhältnisse und rund 15 % Arme gibt. Das verursacht enorme Ausfälle bei Steuer- und Sozialkassen. Im Alter muss dann der Steuerzahler über die Sozialhilfe die klägliche Rente aufstocken. Wenn man die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung aufmacht, sieht alles ganz anders aus. Das ist auch das Unredliche an dieser Debatte.
Ökonomen sagen, dass es ohne die Agenda-Politik und die „Verschlankung“ des Staates weniger Arbeitsplätze gebe.
Broß: Da werden Ursache und Wirkung verwechselt. Einerseits kam es durch diese Reformen, die im demokratisch-rechtsstaatlichen Sinne keine sind, zu einem Boom, andererseits kam es dadurch zu einer Spaltung der Gesellschaft. Die Menschen werden herabgewürdigt und instrumentalisiert. Gerade das steht im Widerspruch zum Prinzip des Sozialstaats und der Menschenwürde. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts steht die kapitalistische Wirtschaftsstruktur mit unserer Verfassung im Einklang, was aber nicht mit der Verfassung in Einklang steht, ist die Beschäftigung in abhängigen Verhältnissen zu Niedrigstlöhnen, von denen die Menschen auskömmlich nicht leben können.
Heißt das, mit den Reformen wird Verfassungsrecht gebrochen?
Broß: Das Verfassungsgericht hat schon in einem Urteil in den 50er-Jahren festgestellt, dass soziale Gerechtigkeit eines der Grundprinzipien des Staates ist und dass die Wirtschaftsordnung nicht nach den Wünschen einer Klasse gestaltet werden kann. Diese Prinzipien müssen beachtet werden, auch wenn der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum hat. Alles, was für ein menschenwürdiges Dasein erforderlich ist und das der einzelne nicht sicherstellen kann, fällt in die Verantwortung des Staates. Das erst schafft eine stabile Gesellschaft als Grundlage von Rechtsstaat und Demokratie. In den vergangenen 30 Jahren ist eine Funktionselite herangewachsen, die von allem nur den eigenen Vorteil und den Preis kennt, aber von nichts mehr den Wert. Das zeigt sich deutlich an der rücksichtslosen Haltung von Banken, wo riesige Verluste zu Lasten der Menschen, auch der Armen, aufgetürmt wurden, während sich Banker nicht genieren, Millionen Euro an Boni zu verlangen, auch mithilfe von Gerichten.
Haben Privatisierungen und der Rückzug des Staates die Standortbedingungen in Deutschland verbessert?
Broß: Nein, denn jetzt definiert nicht mehr der Staat und die dazu berufenen Organe wie Regierung und Parlament die Standortbedingungen, sondern private Dritte. Sie entscheiden über Energiekosten, Wasserpreise und Beförderungsentgelte. Die Menschen sind dem Preisdiktat der Anbieter ausgeliefert. Der Staat kann die Preise nicht vorschreiben, und wenn er es macht, lässt man die Infrastruktur verlottern, um die Gewinne zu sichern. Diesen Mechanismus beobachte ich nicht nur in Deutschland, sondern weltweit bei privatisierten öffentlichen Leistungen.
Wer hat versagt?
Broß: In den Parlamenten und bei den Politikern hat keiner mehr den Mut gehabt, darüber nachzudenken, ob das alles so richtig ist, was sie selbst machen. Die Empfehlungen von Rating-Agenturen oder Unternehmensberatungen wurden betrachtet wie ein Evangelium. Zudem gibt es in Berlin und in Brüssel eine finanzstarke Lobby, die ihre Sonderinteressen erfolgreich durchsetzt.
Engartner: Auch die einer Monokultur entsprungenen Glaubenssätze der Mainstream-Ökonomen haben sich als anfällig erwiesen. Man sollte daher immer zusehen, dass in der Wissenschaft Pluralismus Platz hat. Das war lange nicht opportun. In der Regel wird versucht, Meinungen innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin zu homogenisieren und geschlossen nach außen aufzutreten.
Broß: Jetzt zeichnet sich offenbar eine Wende ab. Die Diskussion um den Euro-Rettungsschirm zeigt, dass jenseits ideologischer Debatten versucht wird, aus unterschiedlichen politischen Lagern die Argumente in den Mittelpunkt zu rücken.
Engartner: In der Gesellschaft gibt es die Tendenz zur Hyper-Individualisierung mit einer starken Fokussierung auf das Selbst. Einige Beispiele aus der Werbung: „Unter dem Strich zähl“ ich“, „Weil ich es mir wert bin“, „Habe gerade einen wichtigen Menschen getroffen: mich“. Gesellschaftliche Zusammenhänge geraten immer mehr aus dem Blick. Zudem führt die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich dazu, dass die Reichen nach neuen Anlagemöglichkeiten suchen und die Gewinnerwartungen jetzt höher sind als früher.
Wie kann der Staat seine Handlungsfähigkeit wiedergewinnen?
Engartner: Wir müssen uns zunächst der Frage stellen, wie man eine intellektuelle Wende vollzieht. Die Vorstellung, dass der Staat es grundsätzlich nicht besser könne, muss der Vergangenheit angehören. Es gibt ja hoch erfolgreiche kommunale Unternehmen, die auch dazu beitragen, die Infrastruktur, z. B. Bildung und Kultur, für alle finanzierbar zu machen. Es ist auch nicht immer so, dass nur die Bürger gegen Privatisierungen auf die Barrikaden gehen. In Potsdam waren dies örtliche Unternehmen, die sich gegen die Privatisierung der Wasserversorgung stemmten. Sie wollten nicht innerhalb von zwei Jahren dreimal erhöhte Wasserpreise zahlen.
Broß: Mit einem Fondsmodell, das ich entworfen habe, kann der Staat stabil und steuerungsfähig gehalten und ihm die Macht zur Selbstdefinition gegeben werden, die er für die Sicherstellung seiner Aufgaben braucht. Dieses Modell wurde von mehreren Seiten mit spitzem Stift durchgerechnet und für plausibel und tragfähig befunden.
Wie sieht das Modell aus?
Broß: Die Sektoren, privatisierte und öffentliche, werden in Fonds eingebracht, die im Besitz der öffentlichen Hand bleiben. Der Betrieb kann dann privatisiert werden, aber der Staat behält die Steuerungsfähigkeit. An diesen Fonds können Anteilsscheine ausgegeben werden zu einem dauerhaft gewährleisteten Zinssatz. Die Bürger hätten eine sichere private Anlageform, z. B. fürs Alter, das der Spekulation entzogen ist. Ein solches Fondsmodell braucht kein Rating und liefert sich auch nicht internationalen Finanzmärkten aus, die es zum Spielball ihrer Interessen machen könnten. Damit gestaltet der Staat wieder die Standortbedingungen in Deutschland.
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