Abbrecherquoten in den Ingenieurwissenschaften jahrelang falsch berechnet
Seit Jahren kämpfen Wirtschaft, Hochschulen und Verbände darum, mehr junge Menschen in ingenieurwissenschaftliche Studiengänge und dort zu einem Abschluss zu bringen. Denn die Hälfte aller Ingenieurstudierenden brechen ihre akademische Ausbildung im Laufe der Zeit ab, so hieß es. Doch diese Zahlen waren wohl falsch.
Lange Zeit galten hohe Abbruchquoten in den technischen Studiengängen den Hochschulen als Dorn im Auge. Nicht unbedingt, weil sie um die akademische Zukunft der Abgänger fürchteten, sondern weil eine hohe Abbruchrate in der Statistik nach institutionellem Misserfolg aussieht und die Wirtschaft, die händeringend nach technischen Akademikern sucht, zur Verzweiflung brachte.
Doch eine neue Studie der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, kurz acatech, zeigt, dass die Abbruchquote in den Ingenieurwissenschaften nicht so hoch liegt wie vormals angenommen. Grund ist eine neue Zählmethode, die sich eher an der akademischen Realität orientiert.
Studie berücksichtigt erstmals akademischen Alltag
Auf dem Papier wirkt ein Studienabbruch nie positiv. Denn die Studierenden brechen ihr Studium meist aus Gründen ab, die abgefedert werden könnten. Ob finanzielle Engpässe oder familiäre Situationen, in solchen Sonderfällen wäre eine Änderung des Studiensystems wünschenswert, um flexibler reagieren zu können. Auch Implementierungen wie das Bachelor- und Master-System in Deutschland hatten ursprünglich zum Ziel, die Abbrecherquoten zu senken, indem der Abschluss früher und praxisnäher verliehen wird. Gerade in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen ist dieser Plan bisher nicht aufgegangen.
Zusätzlich wurden Studierende in bisherigen Studien auch dann als Abbrecher gewertet, wenn sie nur die Fachrichtung wechselten oder ihr Studium an einer anderen Hochschule fortsetzten. Nun ist eine fachliche Neuorientierung oder ein Hochschulwechsel aus privaten Gründen oder zugunsten besserer Bildungsangebote natürlich kein Studienabbruch im eigentlichen Sinne. In der neuen acatech-Studie, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, wurden solche Wechsler folgerichtig auch nicht mehr als Studienabbrecher gezählt. Das Resultat ist eine Abbrecherquote von 21 bis 23 Prozent bei 50.000 Studierenden der Ingenieurwissenschaften in den Wintersemestern 2008/09 und 2011/12.
Zwar ist die Quote immer noch recht hoch, wenn jeder fünfte Studierende sein Studium abbricht, doch der Prozentsatz liegt niedriger als vormalig angenommen. Immerhin hatte das Deutsche Zentrum für Hochschulforschung noch 2012 eine Abbrecherquote von 48 Prozent in den grundständigen Ingenieurstudiengängen ermittelt. Dieser paukenschlag hat dazu geführt, dass vielerorts Informationsveranstaltungen ausgebaut und Einführungssemester etabliert wurden, sodass vier Jahre später „nur“ noch 32 Prozent der Ingenieurstudierenden an Universitäten, bzw. 33 Prozent der Ingenieurstudierenden an Fachhochschulen ihre Ausbildung an den Nagel hängten.
Nun liegt es an den Universitäten, die von acatech ausgewerteten Daten künftig konkret umzusetzen und die Gründe für Abbrecher besser zu beleuchten. Denn häufig lässt sich ein tatsächlicher Studienabbruch frühzeitig verhindern.
Die häufigsten Gründe für einen Studienabbruch
Obwohl die Studie von acatech sich nur mit den Ingenieurwissenschaften befasste, dürften die Gründe für abgebrochene Studiengänge in anderen Fachrichtungen ähnlich aussehen. Ingenieurstudierende brechen ihr Studium besonders häufig aus diesen Gründen ab:
Bei vielen Studierenden dauert es einige Semester, ehe sie feststellen, dass der Studiengang nicht zu ihnen passt. Viele junge Menschen orientieren sich nach der Schule außerdem zu früh in Richtung Studium und wechseln mit falschen Erwartungen an die Hochschule oder sind den Anforderungen des akademischen Alltags in der Praxis (noch) nicht gewachsen. Dieses Problem, so bestätigen Experten, hat sich mit dem verkürzten Abitur und den immer jünger werdenden Studienanfängern tatsächlich verschärft. Schließlich leiden auch die Leistungen unter mangelnder Motivation, das ungeliebte Studienfach abzuschließen. In den Ingenieurwissenschaften dürfte das besonders gravierend sein, weil das Studium als besonders herausfordernd gilt.
Um diesem Problem Herr zu werden, müssten sich Hochschulen und Gymnasien stärker dafür engagieren, bei Informationsangeboten zusammenzuarbeiten und den Schülern stärkere Anreize zu liefern, sich ein genaues Bild über das gewünschte Studienfach zu machen. Doch nicht nur Hochschulen sind gefragt, auch die Länder können mehr dafür tun, die Abbruchquoten zu senken. Wichtig ist, dass Hochschulen mehr Freiheiten bei der Gestaltung der Eignungsvoraussetzungen und der Prüfungsordnung erhalten. So könnten die Hochschulen ihre Erfahrungen praxisnah umsetzen und müssten nicht auf eine vom Land verordnete Anwesenheitspflicht oder Studienhöchstdauer bestehen. Die acatech Studie legt nahe, dass sich dies positiv auf die Abbrecherquoten auswirkt.
Späte Studienabbrüche als besondere Herausforderung
Besonders schmerzhaft sind Studienabbrecher für Hochschulen in den späteren Phasen des Studiums. Ein Abbruch ohne Abschluss kann für viele Studierende ein harscher Knick in der Karriere sein, vor alle wenn die Praxiserfahrung für den direkten Einstieg ins Erwerbsleben fehlt. Dabei besitzen Studierende höherer Semester natürlich auch ohne absolvierte Abschlussprüfung oder -arbeit ein umfangendes Fachwissen. In Teilen hat die Wirtschaft bereits erkannt, dass diese Abbrecher ohne Abschluss in nicht-akademischen, aber durchaus technischen Positionen als wertvolle Fachkräfte eingesetzt werden können. Und aus Sicht des Studierenden oder Arbeitnehmers hat sich die Einsicht eingestellt, dass sich Abschlüsse auch zu einem späteren Zeitpunkt an Abendschulen oder Fernuniversitäten nachholen lassen.
Natürlich bedarf es auch in diesem Punkt einer engeren Zusammenarbeit von Hochschulen und Wirtschaft. Vor allem in den Ingenieurwissenschaften, in denen Fachkräfte heiß begehrt sind. Die neue Studie von acatech betont aber auch, dass die Studierenden selbst stärker Eigenverantwortung übernehmen müssten. Denn obwohl die Verschulung des Studiums mit Bachelor und Master vielen Studierenden nahelegt, sie müssten sich nur für die richtigen Kurse eintragen, erscheinen und Leistungen einreichen, fordert ein Studium stets ein hohes Maß an persönlicher Verantwortlichkeit. Eine akademische Neuorientierung ist zwar Katastrophe, allerdings kann sie ein spürbares Hindernis für die spätere Karriere sein, wen sie allzu spät im Studienverlauf erfolgt.
Mehr Erfolg ohne Geradlinigkeit – Abbruch als Teil der akademischen Laufbahn
Auch für Studierende ist ein Abbruch des Studiums häufig keine leichte Entscheidung. Ob private, akademische, fachspezifische oder sogar finanzielle Gründe zum Studienabbruch zwingen, für keinen Studierenden ist die Exmatrikulation ein belangloser Schritt. Doch wie die acatech-Studie zumindest für die Ingenieurwissenschaften belegt, ist nicht jeder Abbruch gleich ein Ende der akademischen Laufbahn. Häufig liefert ja gerade ein gescheitertes (Erst-) Studium den Anreiz, die Fachrichtung zu wechseln und sich eine neue Karriere aufzubauen. Und ein Wechsel der Hochschule kann in vielen Fällen (beim Wechseln des Wohnorts etwa) erforderlich sein oder bietet einfach nur bessere Perspektiven und die gewünschte akademische Spezialisierung. Ein Abbruch ist in einer akademischen Karriere also noch lange kein Versagen und die Studie von acatech bietet wichtige Ansatzpunkte, wie Institutionen Abbrechern ihrer Situation entsprechend helfen und sie bei der Neuausrichtung ihrer Karriere unterstützen können.
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