Die Hochschule 2.0 ruft die Kommilitonen zu Hilfe
Bei Deutschlands technikbegeisterten Hochschullehrern macht sich Goldgräberstimmung breit. Die Hochschulen entdecken die soziale Komponente der Onlinewelt für sich. Vorlesungen und Seminare werden kombiniert mit neuen Medien und sozialen Netzwerken. Das ist nicht nur interaktiv, es könnte auch eine neue Dimension für die Hochschullehre bedeuten, meinen Experten.
Von einem „radikalen“ Veränderungsprozess für die akademische Ausbildung spricht die Leuphana-Universität in Lüneburg. Seit Anfang Januar hat sie eine eigene „Digital School“ im Lehrportfolio. Auf ihrer Onlineplattform werden Studieninhalte und Lehrmaterialien speziell für Teilnehmer im Internet aufbereitet.
Für Studierende soll es so möglich sein, weltweit von jedem Ort zu jeder Zeit kostenlos Zugang zum Lehrangebot der Hochschule zu haben. Präsenzveranstaltungen vor Ort sind nicht notwendig. Der Kontakt zum Professor, Vorlesung, Nachfragen, Tests, Teamarbeit zu bestimmten Aufgaben – alles online.
An der Leuphana setzt man große Erwartungen in das neue Format. Denkbar sei, künftig nicht nur Kurse, sondern ganze Onlinestudiengänge anzubieten, betont Vizepräsident Holm Keller.
Interaktive Lehrangebote gibt es viele in Deutschland. Eine Vorreiterrolle nahm das Hasso-Plattner-Institut (HPI) der Universität Potsdam ein. Schon im September 2012 startete hier der erste kostenfreie Onlinekurs. Im Technikjargon spricht man auch von „MOOCs“ (Massive Open Online Courses).
Das wirklich Neue der onlinebasierten Lehrangebote im Unterschied zu herkömmlichen E-Learning-Formaten ist HPI-Chef-Meinel zufolge die soziale Komponente. „Bislang dachte man, es genüge, Lernenden alles Material in Form von Videos oder Textdokumenten bereitzustellen. Man ging davon aus, dass jeder selbstbestimmt an jedem Ort zu jeder Zeit lernen könne“, sagte Meinel.
Doch es gebe nur wenige Menschen, die so autodidaktisch lernen wollen und können. „Viel typischer ist es, in Gemeinschaft zu lernen. In der Interaktion entsteht Motivation. Und genau dieses soziale Element liefern die neuen interaktiven Onlinekurse. In den Diskussionsforen kann man sich mit Kommilitonen und dem Professor austauschen. Die Gemeinschaft der Lernenden wird in der Community spürbar“, so Meinel.
Der IT-Experte ist sicher, dass sich das neue Lehrformat nicht nur auf Universitäten beschränken wird, das ganze Bildungssystem werde verändert.
Das bestätigt das Beispiel der IMC AG aus Saarbrücken, die jüngst eine hochschulübergreifende Plattform startete. Angeboten werden vor allem deutschsprachige „akademische Kurse für Mitarbeiter in Unternehmen“, also sogenannte Corporate-MOOCs.
Studierenden stünden die Kurse zwar auch offen, sie seien aber nicht primär die Zielgruppe, heißt es. An dieser MOOCs-Initiative beteiligt sind aktuell die Universität des Saarlandes, die Technische Universität München sowie die Universität Hamburg-Harburg. „Unser Ziel ist es, Weiterbildung breitflächig anzubieten und so dazu beizutragen, das Fachkräftethema in Deutschland durch Top-Bildungsangebote zu entschärfen. Wir planen, dieses Jahr bis zu 20 Kurse anzubieten und suchen dazu weitere Hochschulpartner“, sagt Volker Zimmermann, Vorstand der IMC AG.
Die Hochschule 2.0 nimmt Fahrt auf. Inspiriert wurde der deutsche Bildungsmarkt von den jüngsten Entwicklungen an US-Universitäten. Auch hier heißt der Trend seit gut einem Jahr, eine globale Hochschulcommunity mit interaktiven Lehrangeboten zu rekrutieren.
Als wichtigster Innovationstreiber gilt die private Online-Akademie Udacity, gegründet von dem gebürtigen Deutschen und früheren Stanford-Professor Sebastian Thrun 2012 und hervorgegangen aus seiner Hochschulvorlesung „Einführung in Künstliche Intelligenz“.
Thrun hatte die Lehrmaterialien als Onlinekurs veröffentlicht und auf Anhieb rund 160 000 Kursteilnehmer aus 190 Ländern erreicht. Kurz danach ließ er sich von seinen Lehrverpflichtungen entbinden und gründete Udacity.
Inzwischen zählt die Plattform rund 400 000 registrierte Studierende. Im Laufe des letzten Jahres kamen mächtige Konkurrenten hinzu: Das MIT und Harvard starteten gemeinsam die Online-Lehrplattform edX, für die sich bislang 350 000 Studierende einschrieben.
Thruns ehemalige Stanford-Kollegen gründeten zudem die Plattform Coursera, die bereits nach einem halben Jahr 1,7 Mio. Einschreibungen in diversen Kursen verbucht. Alle Angebote sind gratis. Angesichts des enormen Zulaufs spricht Stanford-Präsident John Hennessy davon, dass auf die Hochschulen ein „digitaler Tsunami“ zukomme.
Im Vergleich dazu mögen die deutschen Initiativen bescheiden ausfallen. Doch klar ist: Die digitalen Angebote markieren einen Umbruch, dessen Folgen derzeit noch nicht umfassend abgeschätzt werden können.
Auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat das enorme Veränderungspotenzial der neuen Medien in der Lehre erkannt. Sie empfiehlt deshalb, dass der Versorgung mit aktueller IT-Infrastruktur an den deutschen Hochschulen Priorität eingeräumt und die Informationskompetenz nicht nur der Studierenden, sondern vor allem auch der Lehrenden und der Mitarbeiter angesichts des rasanten Technikwandels langfristig „up to date“ gehalten werden müsse. CHRISTINE XUAN MÜLLER
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