Hochschule 30.04.2010, 19:46 Uhr

Ein Studium, das Natur und Technik verbindet

Hochschulen bieten zahlreiche Studiengänge mit technischer Vertiefung an. Wolfgang A. Herrmann, Präsident der Technischen Universität München, erläutert, warum seine Hochschule einen anderen Weg geht und sich für den Studiengang „Ingenieurwissenschaften“ entschied, der nicht spezialisiert, sondern weit über die Ingenieurwissenschaften hinausreicht.

VDI nachrichten: Die TU München bietet ab kommendem Wintersemester das Bachelor-Studium „Ingenieurwissenschaften“ an, ohne die sonst übliche Spezialisierung etwa auf Maschinenbau oder Verfahrenstechnik. Soll dabei so etwas wie ein Allgemeinmediziner neben den Fachärzten herauskommen?

Herrmann: Mit dem Vergleich kann ich gut leben, wenn Sie damit die Grundeinstimmung auf den weiten Horizont meinen. Wirklich Neues entsteht zwischen den klassischen Disziplinen, dort wo sich Mathematik, Informatik, die Naturwissenschaften und die Medizin treffen, um technische Realisierungen hervorzubringen. Aus dem Allgemeinmediziner wird rascher ein Spezialist als umgekehrt.

Wen sprechen Sie mit „Ing.-Bachelor total“ vor allem an?

Mit dem neuen Studiengang sprechen wir ausgeprägt mathematisch-naturwissenschaftliche Talente an, die später einmal als Ingenieure tätig sein wollen, ohne sich bereits bei Studienbeginn auf ein bestimmtes Fach festlegen zu müssen. Wer sich für die Biologie begeistert, sollte nicht nur Insekten fangen, sondern aus dem Vorbild der Natur technische Lösungen ableiten. Solche Begabungen suchen wir.

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Gibt es für Ihren Breitenversuch bereits Vorbilder?

Nein, nicht in dieser Herangehensweise. Der Bachelor-Studiengang „Allgemeine Ingenieurwissenschaften“ an der TU Hamburg-Harburg konzentriert sich auf die physikalisch-mathematischen Grundlagen für die eher klassischen Disziplinen. Dieser Ansatz ist in einer kleinen TU vernünftig. Demgegenüber verfolgen wir eine konsequente Politik der Verschränkung der Ingenieurdisziplinen mit den Naturwissenschaften und der Medizin, weil unser Portfolio das hergibt. Vor allem die obligatorische Einbeziehung der Biowissenschaften ist neu und wird die Ingenieurdisziplinen von morgen maßgeblich mitgestalten.

Mit wie vielen Studenten starten Sie den Versuch?

Wir rechnen mit einem großen Ansturm, wollen aber zunächst nur 100 bis 150 Studienanfänger in einer strengen Auslese aufnehmen, tadellose Schulleistungen vorausgesetzt.

Wann müssen sich diese Studenten mit Generalisten-Anspruch doch für eine bestimmte Ausrichtung entscheiden?

Das dritte Studienjahr ist individuell gestaltbar. Damit wollen wir dem Verschulungstrend entgegenwirken. Die Studenten müssen aber auch wissen, was sie wollen. Wir bieten Vertiefungsrichtungen an und zielen damit vor allem auf Schnittstellen wie Mechatronik, Werkstofftechnik, Software-Engineering, Medizintechnik und Technische Neurobiologie. Dem fertigen Bachelor stehen rund 25 Masterprogramme zur Auswahl.

Wie organisieren Sie das fakultätsübergreifende Studium?

Wir haben die neue Munich School of Engineering (MSE) eingerichtet. Dort kombinieren wir das erfolgreiche Instrument eines wissenschaftlichen Zentralinstituts – als Forschungsplattform in neuen Gebieten zwischen den Fakultäten – mit einer „Studienfakultät“. Diese ist zuständig für die Studienorganisation, die Stundenpläne, die Prüfungsordnung und die Zulassung der Studierenden. Die MSE wird von einem Forschungsdirektor und einem Studiendekan geleitet. Ein Teil der Lehrkapazität stammt aus vorhandenen Lehrstühlen und sieben neu eingerichteten Professuren. Darüber hinaus übernehmen „Mentoratslehrstühle“ weitere betreuende und qualifizierende Funktionen. Das sind Kolleginnen und Kollegen aus mehreren Fakultäten, die schon heute in Grenzgebieten ihrer Disziplinen arbeiten und deshalb die neue Kultur der MSE prägen werden.

Ist der „Mentoratslehrstuhl“ mehr als ein Werbegag?

Ja, die neun Mentoratslehrstühle machen das neue Studienangebot zu ihrer Sache. Sie bürgen für dessen Geist und Qualität. Sieben Professuren kommen als Extraordinariate hinzu. Damit erreichen wir ein Betreuungsverhältnis, das die besten internationalen Standards nicht fürchten muss. Und die Studierenden müssen als Hilfskräfte für ihre Nachfolger aus den ersten Semestern Verantwortung übernehmen. Auch wir haben einst von den älteren Kommilitonen gelernt. Das schafft Zusammenhalt und Identität.

Ebnet die Generalistenausbildung auch den Weg in die Spitzenforschung?

Das erklärt sich von selbst: Wer mit einem breiten Wissensfundus antritt, ist am besten für die Mitwirkung an komplexen ingenieurwissenschaftlichen Forschungsansätzen konditioniert. Spitzenforschung entfaltet sich aus der teamfähigen Lösung komplexer Fragestellungen. Darin liegt der Erfolg forschungsgetriebener Unternehmen, und dieses Prinzip müssen wir an den Universitäten einüben.

HERMANN HORSTKOTTE

Ein Beitrag von:

  • Hermann Horstkotte

    Hermann Horstkotte ist freier Journalist und  lehrte als Privatdozent an der RWTH Aachen. In Bonn arbeitet er als Bildungs- und Wissenschaftsjournalist.

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