Erfinden als Schulfach
Fachkräftemangel in technischen Berufen ist ein internationales Problem. Als probates Gegenmittel gilt es, Mädchen und Jungen frühzeitig an Naturwissenschaften und Technik heranzuführen. Im schwedischen Schülerwettbewerb „Finn upp“ wird das seit Ende der 70er-Jahre erfolgreich praktiziert. Aber auch in Deutschland gibt es immer mehr Initiativen, um Technik in Schulen zu etablieren. Ein Lagebericht.
Süßes Parfüm liegt in der Luft. Jungs poltern. In Trauben stehen halbwüchsige Schüler zusammen. Viele nutzen die kurze Pause für Blicke auf ihre Smartphones. Alltag in der Torsviks Schule im Stockholmer Vorort Lidingö.
Als Lehrer Kim Coquenlin den Technikraum aufschließt, folgen die 15- und 16-Jährigen und verteilen sich erstaunlich diszipliniert auf ihre Plätze. „Finn upp“ steht auf dem Stundenplan. Ein nationaler Erfinderwettbewerb für Schüler der Jahrgangsstufen 6 bis 9, der seit drei Jahrzehnten ausgetragen wird. Rund 1000 der 4000 schwedischen Schulen machen mit und haben Finn upp fest in ihrem Curriculum verankert.
Irgendwann in diesem Jahr wird die 50 000ste Idee eingehen. Pro Runde, bei der nach Regionalwettbewerben alle drei Jahre nationale Sieger mit umgerechnet 350 € bis 1770 € prämiert werden, gehen rund 6000 Ideen ein, hinter denen meist zwei bis dreiköpfige Teams stehen. In den Jurys sitzen Ingenieure, Architekten und Naturwissenschaftler.
„Innovation verändert unsere Umwelt ständig. Wir wollen unseren Schülern vermitteln, dass sie diese Veränderungen konsumieren oder gestalten können. Sie sollen lernen, dass Innovation nicht in höheren Sphären geschieht, sondern jeder und jede dazu beitragen kann, Produkte zu optimieren“, hat Coquenlin vor der Stunde erklärt.
Jetzt begrüßt er die Schüler und gibt ihnen ihre Erfindungsskizzen zurück, die er über das Wochenende begutachtet hat. Finn upp ruft 12- bis 16-Jährige dazu auf, Probleme im Alltag zu identifizieren und Lösungen zu entwickeln. So wie Anna Axelson, Siegerin von 2006. Die begeisterte Sportlerin hatte sich geärgert, dass Trinkflaschen oft nicht unter den Wasserhahn passen. Ihre Idee: ein zweiter Drehverschluss an der Flaschenseite. Heute sind ihre waagerecht füllbaren Trinkflaschen im Handel. Die Fußball-Nationalmannschaft Schwedens nutzt sie.
In den Siegerlisten des Wettbewerbs gibt es Dutzende zündender Ideen. Strohhalme, die sich teilen, damit Freunde ihr Trinken teilen können. Joghurt-Tetrapacks mit mittiger Sollbruchstelle, um Joghurtreste auslöffeln zu können. Ein Adapter, der Akku-Schrauber und Silikonkartuschen verbindet, fürs bequeme Verfugen ohne Handkrämpfe. Natürlich dürfen Smartphones nicht fehlen. Letztes Jahr schaffte es das Trio Josefine Myrberg, Anna Olsson und Ebba Petterssons mit einem Adapter aufs Siegerpodest, der es Freunden erlaubt, die Batterieladung ihrer Phones zu teilen und sich dann gemeinsam zur nächsten Steckdose zu retten. Nicht minder praktisch: Sara Bomans Idee einer Lautstärke-Anzeige in Kopfhörerkabel, die mit Ampelfarben bewusst macht, wann der Hörgenuss gefährlich laut wird.
Auffällig, wie viele Mädchen sich in den Siegerlisten finden. Seit 1991 haben sie bei Finn upp regelmäßig die Oberhand, 58 % der Teilnehmer sind weiblich. Coquenlin erklärt das damit, dass Schweden „Technik“ Ende der 70er-Jahre zum obligatorischen Unterrichtsfach machte. Die konkrete Beschäftigung mit technischen Fragen nehme Vorurteilen und unreflektiert übernommenen Geschlechterrollen den Raum. Vielleicht hätten die Erfolge der Mädchen den Grund, dass ihre Perspektive und ihr Herangehen an Innovation bisher wenig Raum in Produktentwicklungen hatte. Erst jetzt, wo sie im Rahmen von Finn upp massenhaft erfinden, tritt das verschüttete Potenzial zutage.
Coquenlin hat es in den Finn upp Stunden leicht, die Schüler zu motivieren. Schulungen und Materialien der Wettbewerbsorganisatoren helfen. Vor allem aber ist es das Interesse der Schüler selbst. „Sie mögen diese Stunden“, hat er vorhin berichtet. Und das ist nun zu sehen. Sobald alle ihre Ideenskizzen zurückhaben, setzen an den Tischen Diskussionen darüber ein.
Dem ausländischen Besuch berichten die Teenager dann stolz in fließendem Englisch von ihren Erfindungen. Alexander Pagot (15) plant, Scanner in Notebooks zu integrieren. Eine Klappe fürs Display, eine weitere für den Scanner. Wie er darauf kam? „Ich hatte im Urlaub von Hand einen langen Text geschrieben, den ich mit Freunden teilen wollte“, erzählt er. Doch er war zu müde, ihn noch einzutippen. Einen Scanner suchte er an Papas Notebook vergeblich.
Sitznachbar Rami Kourkjian, ein 16-jähriger Iraker, der mit seinen Eltern 2008 nach Schweden gekommen ist, tut sich schwer, seine Idee auf Englisch zu beschreiben. Ohne zu zögern, bietet sich Pagot als Übersetzer an. „Rami hat Probleme mit dem Aufstehen“, berichtet er, „darum will er eine smarte Matratze entwickeln, die zum Wecken wahlweise per Flüssigkeit gekühlt wird oder über Aktoren anfängt zu rütteln.“ Beide lachen. Rami lässt noch ausrichten, dass er später Ingenieurwissenschaften studieren will.
Ein paar Sitzplätze weiter verteidigt Nils Wikström anhand einer komplizierten Skizze seine Idee: ein Gemüseschneider, der mit Rundmessern ganze Gurken und Möhren in Scheiben schneiden soll. Den Abstand der Messer soll ein Schiebemechanismus variabel halten. Aus Umweltgründen plant er ein Gehäuse aus Holz. Sein Sitznachbar mäkelt: „Gemüseschneider gibt es schon in allen Varianten. Außerdem wird es länger dauern, das Teil zu reinigen, als die Gurke mit dem Messer zu schneiden“. Wikström verweist auf Spülmaschinen, doch dazu passt Holz nicht.
Hier passiert genau das, was Lehrer Coquenlin so wertvoll findet. „Erfinden heißt, eine Idee ausarbeiten, sie gegen Kritik verteidigen, verbessern, wieder verteidigen und so lange zu optimieren, bis sie überzeugt“, sagt er. Und wenn Schüler Ideen haben, die es längst gibt? – „Dann lobe ich sie. Denn sie haben etwas erfunden, das viele Menschen brauchen und das sich deshalb durchgesetzt hat“, erläutert er. Er motiviere die Schüler in solchen Fällen, über Verbesserungen des „Wettbewerberprodukts“ nachzudenken.
Kinder sind bereit, sich Technik spielerisch zu nähern, sie unbeeinflusst von etablierten Denkschemata zu hinterfragen. „Je eher sie damit anfangen, desto freier ist ihr Denken“, sagt Coquenlin. Diese Unabhängigkeit, die Fähigkeit, über das Bestehende heraus zu denken, sei eine zentrale Voraussetzung für Innovation. Statt sie durch erwachsene Kritik zu vernichten, gelte es, zu motivieren und behutsam zu hinterfragen.
Erkenntnisse, die auch hierzulande angekommen sind. Zum Klassiker „Jugend forscht“ gesellen sich immer mehr Wettbewerbe und Initiativen, die den kindlichen Forscherdrang teils schon im Vorschulalter aufgreifen und so Begeisterung für Naturwissenschaften und Technik wecken. Ein probates Mittel gegen den Fachkräftemangel, sofern es gelingt, die Kinder mit entsprechender Neigung in der Schule bei der Stange zu halten. Ein Schlüssel dazu ist praktischer Unterricht.
Junge Disziplinen haben es oft besonders schwer, ihren Fachkräftebedarf zu decken. Die Unternehmen, die im CFK-Valley Stade Leichtbau betreiben, können ein Lied davon singen. Das Bildungsbüro des Landkreises hat nun die Initiative ergriffen und zusammen mit dem Ingenieurbüro Polymer Composite Consulting des promovierten Leichtbau-Ingenieurs Hauke Lengsfeld die „CFK Kiste“ entwickelt – eine Faserverbund-Fortbildung für Lehrer und Schüler (s. Kasten unten).
Eine Schule, die bereits damit arbeitet, ist die Schule am Auetal in Ahlerstedt bei Stade. Gerd Iffland hat mit zwei Kollegen tief in die Kiste geschaut, um im Technikunterricht den Umgang mit Kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffen (CFK) vermitteln zu können. An der Oberschule können Neunt- und Zehntklässler zwischen den Profilen Technik, Fremdsprachen oder Gesundheit und Soziales wählen. Das Land schreibt diese Optionen im Curriculum vor.
Gerd Iffland hat die CFK-Fortbildung schon vor einem Jahr absolviert – und verbindet im Technikunterricht nun Leichtbau mit Fragen der Energieerzeugung. Mit Zehntklässlern baut er CFK-Rotoren für Kleinwindräder, die Nabendynamos antreiben sollen. Ein Ziel: die Schüler sollen lernen, welcher Aufwand hinter der Stromerzeugung aus Wind steckt. Aber natürlich geht es um mehr. Nach Jahrgangsstufe 10 werden viele von ihnen eine Lehre beginnen, sie sind auf der Suche nach beruflichen Optionen.
Iffland und seine Kollegen beobachten einen spannenden Trend. Im ersten Jahrgang nach der niedersächsischen Reform haben 15 Jungen und nur ein Mädchen das Profil Technik gewählt. „Im zweiten Jahrgang ist das Verhältnis beinahe ausgeglichen“, berichtet er. Wie in Schweden scheint es sich herumzusprechen, dass Technikunterricht cool ist – und auch Mädchen hier Einiges reißen können. „Das Schablonen-Denken bricht auf“, freut er sich. PETER TRECHOW
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