European Spallation Source (ESS): Neuer Neutronen-Beschleuniger
Die Öresundregion zwischen Kopenhagen und der südschwedischen Stadt Malmö musste als Standort für innovative Technologien erst erfunden werden. Das geschah im Jahr 2000 mit dem Bau der Öresundbrücke. Seitdem kommen Forschungsinstitute und Unternehmen aus aller Welt hierher. Jüngste Erfolgsmeldung
Der Begriff Spallation lässt sich als „Absplitterung“ ins Deutsche übertragen. Es handelt es sich um eine Quelle für Neutronenstrahlung. Protonen, die zusammen mit Neutronen Atomkerne bilden, werden mit hoher Geschwindigkeit auf geeignetes Zielmaterial geschossen, wo sie wie Projektile einschlagen und beim Aufprall Neutronen herausschlagen.
Auch die Technik, die bei der ESS zum Einsatz kommen soll, funktioniert nach diesem Prinzip. Aus einer Eisenquelle werden Protonen auf eine Reise in eine 700 m lange Röhre geschickt, wo sie gebündelt und mit starken Magneten beschleunigt werden.
ESS soll Neutronen und Protonen auf 90 % Lichtgeschwindigkeit beschleunigen
In der ESS sollen die Protonen eine Geschwindigkeit erreichen, die etwa 90 % der Lichtgeschwindigkeit entspricht. Als Material, aus dem die Neutronen herausgeschossen werden sollen, haben sich die Planer für das Metall Wolfram entschieden. Es befindet sich in einem zylinderförmigen Behälter, „target“ genannt, am Ende der Beschleunigerröhre.
Die gewonnenen Neutronen treten nach dem Aufprall in verschiedenen Richtungen entlang bestimmter Bahnen aus, an denen sich die Forscher mit Messstationen einrichten werden. Bis zu 22 Varianten von Neutronenstrahlung sollen entstehen, vom „thermalen“ Neutronenstrahl (im kurzen bis mittleren Wellenlängenbereich) bis hin zu „kalten“ Neutronenstrahlen (mit langen Wellenlängen). Damit kann die ESS von reiner Grundlagenforschung bis zur industriellen Anwendung eine große Bandbreite an Interessen bedienen.
Mit der ESS erhoffen sich die Wissenschaftler vor allem in der Materialforschung neue Erkenntnisse. Mit einem Neutronenstrahl kann man tief ins Innere von Materialien hineinschauen, ohne deren Struktur zu schädigen. Denn Neutronen sind elektrisch neutral geladen und können somit in Strukturen aus positiv geladenen Protonen und negativ geladenen Elektronen vordringen, ohne mit ihnen elektrisch zu interagieren.
Es ist, als lege man Materie unter ein Mikroskop, mit dem man bis auf atomare Ebene hinabschauen kann. Einzelne Molekülstränge werden sichtbar, und sogar die Beschaffenheit der Verbindungen einzelner Atome und Moleküle untereinander kann untersucht werden. Winzige Haarrisse in sensiblen Bauteilen, etwa beim Flugzeugbau, will man damit erkennen, bevor es zu Unfällen kommt. Die Industrie erhofft sich Innovationen bei der Entwicklung von Kunststoffen, die Grundlagenforscher neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Nanotechnik. Selbst in der Archäologie sind Anwendungen denkbar.
Colin Carlile gerät ins Schwärmen, wenn er von den Möglichkeiten der neuen Neutronenquelle spricht. Der 66-jährige Brite hat an den Universitäten von Leicester und Birmingham studiert und sich dabei schon früh auf Neutronen- und Reaktorphysik spezialisiert. Seit 2007 leitet er das ESS-Projekt. „Die Materialforschung“, sagt er, „ist eines der Gebiete, auf denen wir Europäer weltweit führend sind. Mit der Neutronenquelle in Lund werden wir unsere Führungsposition noch ausbauen.“
European Spallation Source (ESS): Baubeginn 2013
Der Baubeginn ist für Anfang 2013 geplant. Erste Neutronen könnten ab 2019 fließen, die gesamte Anlage soll dann 2025 betriebsbereit sein.
Bisher wurden Neutronen vor allem durch Kernspaltung in Reaktoren gewonnen – mit den bekannten Problemen und Risiken. Die Spallationstechnik bietet eine Alternative dazu. Zwar fällt auch bei ihr Radioaktivität an, doch in verschwindend geringer Menge. Die benötigten Teilchenbeschleuniger erfordern eine ständige Energiezufuhr wird sie unterbrochen, stoppt der Prozess sofort. Die Gefahr einer unkontrollierten nuklearen Kettenreaktion ist somit ausgeschlossen.
Mit gebündelter „gepulster“ Neutronenstrahlung, bei der isochromatische, also gleichschnelle Neutronenbündel entstehen, was in einigen Bereichen der Materialforschung von Bedeutung ist, bietet die ESS eine Bandbreite an Anwendungsmöglichkeiten, die Neutronenstrahlen aus Forschungsreaktoren nicht bieten können. Für die meisten Wissenschaftler und Politiker ist die Spallationstechnik daher längst mehr als nur eine Alternative.
Die ESS ist ein europäisches Projekt. Siebzehn europäische Staaten sind als Partnerländer beteiligt, darunter Deutschland. „Nach heutigem Stand gehen wir von 1,5 Mrd. € Baukosten aus“, erklärt Direktor Carlile. „Davon tragen Dänemark und Schweden allein 50 %.“ Das deutsche Bundesforschungsministerium hat 2010 einen Anteil von 15 Mio. € zugesagt.
Der Entscheidung für Lund als Standort der neuen europäischen Neutronenquelle ging ein erbitterter Bewerberwettstreit voraus. Bis zuletzt kämpften Spanien und Ungarn um den Zuschlag deren Standorte in Bilbao und Debrecen erwogen sogar eine Kooperation, um die Rivalen aus Dänemark und Schweden auszustechen, die sich von Beginn an als gemeinsame Gastgeber präsentierten.
Deutschland verhielt sich bei dem Ringen um das neue Technologiezentrum für viele Beobachter überraschend passiv. Der Grund hierfür wurde schnell klar: Die deutsche Bundesregierung gab einem weiteren Forschungsreaktor in Garching bei München den Vorzug. Der „FRM II“ der TU München ging im März 2004 in Betrieb und ist mit 20 MW der leistungsstärkste aller deutschen Forschungsreaktoren.
Heute mutet die Technik der Kernspaltung zur Neutronengewinnung eher überholt an. Zwar ist die Reaktortechnik, was die Energie der Neutronenstrahlung angeht, der Spallationstechnik überlegen, doch mit den vielen Anwendungsmöglichkeiten bei minimalem Risiko und ohne die Probleme der Entsorgung radioaktiven Mülls erscheint die Spallation als die Technologie der Zukunft.
Neutronen-Gewinnung: Spallations-Technik am ESS gilt als Technik der Zukunft
Bislang wird die Forschung mit Neutronen aus Spallationsquellen weltweit von zwei Instituten dominiert, dem SNS in den USA und J-Parcs in Japan. Das SNS erreicht 1,4 MW Leistung, J-Parcs 1 MW. Hinzu kommt das Sinq in der Schweiz mit 0,75 MW und die inzwischen veraltete Pionieranlage Isis in Großbritannien mit 160 kW.
Die ESS in Lund soll 5 MW erreichen, nach einer Erweiterung könnte dies sogar noch übertroffen werden. Damit, so Direktor Carlile, werde die ESS für Grundlagen- wie auch für angewandte industrielle Forschung weltweit die erste Adresse sein.
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