Geleit für „Arbeiterkinder“ im Uni-Dschungel
Das „Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende“ der Studentenvertretung (AStA) an der Universität Münster kümmert sich um „Arbeiterkinder“. Mit im Bunde ist der Soziologiepromovent Andreas Kemper. Er kritisiert, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland nicht etwa wie Geschlecht oder Hautfarbe als Diskriminierung wahrgenommen wird.
VDI nachrichten: Welche Aufgaben hat sich das AStA-Referat gestellt, in das Sie gewählt wurden?
Kemper: Es handelt sich um ein Antidiskriminierungsreferat mit dem Ziel, Bildungsbarrieren abzubauen, damit mehr „Arbeiterkinder“ studieren können. Wir machen zwar auch persönliche Beratung und helfen in Einzelfällen, aber eigentlich ist es ein bildungspolitisches Referat. Zu den Aufgaben zählt die die Aufklärung über Bildungsbenachteiligung, damit Problemlagen bewusst werden. Des Weiteren helfen wir bei der Mobilisierung und Vernetzung von Arbeiterkindern im Bildungsbereich und informieren über Lobby-Arbeit zugunsten von Arbeiterkindern in Institutionen.
Warum halten Sie ein derartiges Referat an den Hochschulen für notwendig?
Es gibt etliche Studien, die eine Bildungsbenachteiligung von Arbeiterkindern nachweisen. Das fängt an beim Elterngeld und geht weiter über die Notengebung in der Schule. Schulformempfehlungen sind sozial ungerecht, teuer bezahlte Nachhilfe gehört zum Standard, an den Unis folgen Studiengebühren und Verschuldung durch Bafög. Der Sozialwissenschaftler Michael Hartmann wies nach, dass selbst bei Promovierten die soziale Herkunft durchschlägt. Systematische Benachteiligungen haben in den 70er- und 80er-Jahren zu diversen Selbsthilfe-Referaten an den Hochschulen geführt: Es gibt Referate für ausländische Studierende, für Frauen, für Schwule und Lesben, für behinderte und chronisch kranke Studierende. Es lag nahe, eine Selbstorganisierung von Arbeiterkindern einzurichten.
Sie verwenden den Begriff „Klassismus“. Was ist darunter zu verstehen?
„Klassismus“ meint Vorurteile, Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund von klassenspezifischen Gründen. Wenn jemand abwertend behandelt oder benachteiligt wird, nur weil er vermeintlich oder wirklich einer anderen sozialen Klasse angehört, dann ist das Klassismus. Dieser findet sich in Institutionen wie der Justiz, im Gesundheits- und im Bildungssystem.
Wie werden Studierende aus Arbeiterhaushalten benachteiligt?
Arbeiterkinder haben schon einen Hürdenlauf hinter sich, wenn sie mit dem Studium beginnen. Sie sind oft älter und nicht passgenau auf das Studium ausgerichtet, sondern kommen über den zweiten oder dritten Bildungsweg. Sie lassen sich stärker vom Uni-Bluff einschüchtern, treten weniger souverän auf, lassen sich stärker verunsichern. Ihre Finanzen sind oft prekär. So müssen zwei Drittel der Arbeiterkinder neben dem Studium jobben, Studierende aus wohlhabenderem Elternhaus nur zu einem Drittel. Mit der Verdichtung des Studiums durch den Bologna-Prozess ist das ein klarer Nachteil.
Kälte und Anonymität des Studiums wirken sich auf Arbeiterkinder negativer aus als auf Akademikerkinder. Arbeiterkindern fällt es schwerer, Kontakte zu Professoren aufzubauen und umgekehrt bauen diese schneller Kontakte zu Akademikerkindern auf. Arbeiterkinder sind daher vor allem in Fächern wie Ingenieurwissenschaften oder Sozialpädagogik zu finden, wo es „wärmer“ zugeht als in Fachbereichen wie Jura.
Gibt es große Unterschiede bei den Fakultäten, etwa zwischen Geisteswissenschaften und Ingenieurwissenschaften?
Ja. Abgesehen von Medizin studieren Arbeiterkinder eher Fächer, mit denen man später praktisch etwas machen kann. Maschinenbau und Sozialpädagogik unterscheiden sich da nicht großartig, in beiden Fällen ist greifbar, warum man studiert. Es scheint auch so, als würden die Arbeiterkinder mithilfe ihres Studiums ihrem Herkunftsmilieu etwas zurückgeben wollen. Dies zeigt sich daran, dass Arbeiterkinder in den praktischer ausgerichteten Fachhochschulen häufiger zu finden sind als in den theoretischer orientierten Hochschulen.
Wie könnte man Diskriminierung verhindern oder kompensieren?
Es gab in den 70er- und 80er-Jahren viele kompensatorische Maßnahmen – vom Erziehungsgeld bis zu den Gesamthochschulen. Das wird wieder zurückgefahren. Es geht also um die Durchsetzung bereits erprobter Modelle.
In den USA gibt es die Organisation der „Akademiker mit Arbeiterhintergrund“. Was ist darunter zu verstehen?
Die „Working Class/Poverty Class Academics“ sind ein informeller Zusammenschluss von Hochschullehrenden, die aus dem Arbeitermilieu stammen. Sie führen einmal im Jahr eine Tagung durch, wo es hauptsächlich um die verschiedenen Facetten von Bildungsbenachteiligung geht.
Warum gibt es bei uns keinen derartigen Zusammenschluss?
Ich denke, in Deutschland gibt es eine politische Zweiteilung: Die Neue Soziale Bewegung arbeitet mit politischen Strategien der Selbstorganisation von betroffenen Gruppen, hat sich aber vom „Proletariat“ verabschiedet die alten sozialen Bewegungen wie Gewerkschaften und SPD beziehen sich zwar auf die Arbeiterschaft, scheinen aber nicht viel von einer Selbstorganisation aufgrund der sozialen Herkunft zu halten. Daher fallen hier die Arbeiterkinder als politisches Subjekt unter den Tisch.
Sie organisieren in diesem Jahr Jahr eine Konferenz in Münster. Um was geht es?
Bei der Working Class Academics wird es um einen Vergleich der verschiedenen nationalen Bildungssysteme gehen. Eine Arbeitsgruppe wird sich zudem mit Möglichkeiten der Promotionsförderung für Arbeiterkinder in Deutschland befassen. Und es werden die neuen Projekte für Arbeiterkinder vorgestellt. RUDOLF STUMBERGER
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