Geringe Einkommen hinterlassen Bildungsarmut
Gute Bildungsangebote schließen die soziale Schere, meinen viele Politiker. Das allein reicht nicht, erwidert die Soziologin Heike Solga. Bildung greife erst dann, wenn die materiellen Unterschiede zwischen den Familien geringer würden. Deutschland aber gehe im Gegensatz zu Skandinavien einen Weg, der Bildungsunterschiede durch Einkommensspreizungen vergrößere.
Solga: Es kommt auf die Definition von „soziale Schere“ an. Wenn es um Teilhabechancen am gesellschaftlichen Leben geht, wäre „Ja“ die Antwort. Je geringer die Bildungsunterschiede, um so mehr haben alle Menschen die gleichen Startchancen. Wird „soziale Schere“ anhand der Einkommen und Vermögensverteilung definiert, hieße die Antwort „Nein“, denn diese wird davon bestimmt, wie viele gut oder schlecht bezahlte Arbeitsplätze es gibt. Ob also alle ihren akademischen Abschluss in ein hohes Einkommen ummünzen können, hängt davon ab, ob es genug gut bezahlte Arbeitsplätze gibt.
Nein, nicht unbedingt. Es gibt in Deutschland hoch anerkannte Berufe im mittleren Qualifikationsbereich, für die sich Jugendliche nicht mit einem Studium qualifizieren müssen. Der Fachkräftemangel droht zudem nicht so sehr auf der akademischen Ebene, sondern viel stärker auf der Ebene des beruflichen Bildungssystems. Ich würde jungen Menschen raten, sich dort ausbilden zu lassen, wo ihre Interessen liegen.
Wir brauchen tatsächlich mehr Investitionen in den unterschiedlichen Bildungsbereichen. Gleichwohl müssen wir uns mehr Gedanken über Bildungsstrukturen, -ideologien und -ziele machen. Zudem wird das vorhandene Geld nicht immer effektiv eingesetzt. So fließt viel Geld ins Übergangssystem, in berufsvorbereitende Maßnahmen. Diese Maßnahmen sind zu wenig an die Berufspraxis gekoppelt und motivieren zu wenig, da ihr erfolgreicher Abschluss nicht mit einer Garantie für einen Arbeitsplatz verbunden ist. Das frustriert junge Menschen. Stattdessen müssten wir mehr Geld in vollzeitqualifizierende Ausbildungen stecken.
Bildung kann nur vorsorgend sein, wenn bestehende Risiken von einem nachsorgenden Sozialstaat abgesichert sind. Es wird immer Menschen geben – und da kann die Bildung noch so gut sein –, die etwa aus gesundheitlichen oder familiären Gründen sowie wegen geringer Arbeitsmarktnachfrage nicht an der Erwerbstätigkeit teilnehmen oder deren Löhne zu gering sind. Es reicht nicht zu sagen: Hättet Ihr in Bildung investiert, dann wäre das nicht passiert. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, fordert daher einen „Sozialstaat auf zwei Beinen“, und zwar auf zwei gleich starken Beinen: mit größeren Bildungsinvestitionen und mit einer ausreichenden Absicherung von Risiken – dies bedarf auch einer angemessenen Umverteilung.
Fakt ist, dass die Einkommensspreizungen zunehmen. Überträgt man diese Entwicklung auf die Familien, wachsen entsprechend die Unterschiede in den Ressourcen für Kinder, die zu einem Auseinanderklaffen der Bildungsschere führen. Wenn hingegen die Ungleichheiten innerhalb einer Elterngeneration gering sind, sind auch die Bildungsunterschiede bei den Kindern gering. Denkt man über Bildungsreformen für die Leistungsschwächeren nach, geht das nicht ohne Einbeziehung der Eltern – und zwar in materieller und motivationaler Hinsicht.
Ein gutes Beispiel ist Skandinavien. Dort ist Bildungspolitik stärker durch Solidarität als durch Konkurrenz geprägt als hierzulande.
Das Problem ist, dass Themen wie Arbeitsmarktflexibilisierung und Lohnflexibilisierung, die direkt für die „soziale Schere“ verantwortlich sind, über die eindimensionale Forderung nach „mehr Bildung“ aus dem Blickfeld geraten. Zum anderen sind, wie erwähnt, Erwerbsarbeit und Einkommen der Eltern auch wichtige Faktoren für die Bildungserfolge der Kinder. Wenn diese nicht berücksichtigt werden, wird die vermeintlich beste Bildungspolitik scheitern.
Wenn in der Elterngeneration materielle und kulturelle Ressourcen fehlen, kann die Schule das nur partiell kompensieren.
Nein, es hängt nicht alles am Geld, es geht auch um Strukturen und Inhalte. Wie die Forschung zeigt, geht die Einteilung in unterschiedliche Schultypen nicht zwangsläufig mit entsprechenden Kompetenzunterschieden einher. Sie zementiert zudem starke soziale Abschottungen und damit fehlen soziale Durchmischung und Solidaritätsmodelle. Außerdem müssen wir mehr über die Heterogenität und Individualität von Kindern nachdenken als über das „richtige“ und „falsche“ Einsortieren nach Bildungs- und Karrierewegen.
Ja. Unsere Bildungspolitik ist stark auf Chancengleichheit fokussiert. Chancengleichheit verlangt, dass der Bildungszugang sich nicht mehr so stark nach der Herkunft richtet, sondern Personen mit gleichen Kompetenzen sollen generell die gleichen Chancen haben. Der Zugang zu den vorhandenen Plätzen soll gerechter geregelt sein.
Ja, aber der Wettbewerb zwischen Kindern bzw. ihren Eltern wird damit im Bildungssystem nicht verringert. Es sollte auch um Quantitäten gehen, etwa um die Anzahl der Gymnasialplätze oder der Ausbildungsplätze. Politik sollte allen bestmögliche Bildung erschließen, um die Bildungsarmut zu verringern. Der mittlere Abschluss muss Mindeststandard sein. Dahinter steht die Frage: Wie viele gering Qualifizierte können wir uns leisten? Uns ist es in den vergangenen 30 Jahren nicht gelungen, den Anteil der Ungelernten in Höhe von 15 % am Arbeitsmarkt zu verringern. Diesen Aspekt zu betonen, wäre der bessere Weg des vorsorgenden Sozialstaats, als nur das Ziel der Chancengleichheit.
Allen die Erschließung ihres Bildungspotenzials zu ermöglichen, heißt nicht, dass alle einen Hochschulabschluss vorweisen müssen. Solange wir die Stellen im mittleren Segment mit guten Löhnen attraktiv ausstatten, wird es interessierte Jugendliche mit unterschiedlichen Interessen und Talenten für viele Berufe geben. WOLFGANG SCHMITZ
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