Studium nach der Flucht: „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal ein Flüchtling werde.“
In Deutschland studieren aktuell laut dem Deutschen akademischen Austauschdienst DAAD etwa 9000 geflüchtete ukrainische Studierende – rund 2000 davon einen Ingenieurs-Studiengang. Viele sind aktiv, organisieren und engagieren sich in studentischen Initiativen. Wie geht es ihnen heute, zwei Jahre nach dem russischen Angriffskrieg? Ingenieur.de hat nachgefragt.
Ich treffe Sofia Chybisova im Café auf dem Campus der FH Potsdam. Die 19-jährige studiert hier seit zwei Jahren die Fachrichtung „STADT | BAU | KULTUR“. Bei der Recherche nach ukrainischen geflüchteten Studierenden, die sich in Initiativen organisieren, waren die FH Potsdam sowie der DAAD sehr hilfsbereit. Frau Chybisova meldete sich auf einen Aufruf. Sie will einen Beitrag leisten, sie will ihre Geschichte erzählen, eine Geschichte über ihr Land.
Sofia Chybisova ist Teil der studentischen Initiative Airlift, gegründet von fünf ukrainischen Studierenden. Sie organisieren Fotoausstellungen über ihr Heimatland, Fotos aus friedlichen Zeiten. Die Fotos werden in der High Society versteigert, die Einkünfte an ukrainische Krankenhäuser gespendet. Über 16.000 Euro konnten sie schon spenden, allein mit drei Auktionen. Eine Wahnsinns-Leistung, über die auch überregional die Presse berichtete.
Sofia Chybisova spricht perfektes Deutsch, sogar das :innen in „Professor:innen“ spricht sie mit. Ja, das hat sie ihrem progressiven studentischen Umfeld hier zu verdanken, lacht sie.
Sie und ihre Familie kommen ursprünglich aus Luhansk im Osten der Ukraine. Als es dort 2014 immer mehr Unruhen und Unterdrückung durch die russische Besatzung gab, zogen sie nach Kiew. Sie hat eine drei Jahre jüngere Schwester, ihr Vater ist Chirurg im Krankenhaus, ihre Mutter Logopädin.
Nun sitzen wir in der Fachhochschule Potsdam und trinken zusammen einen Milchcafé.
Ab dem Tag der Invasion war Covid vergessen
Wie war das für sie, als am 24.02.2022 in ihrer Heimat der Krieg ausbrach?
„Für uns kam es total unerwartet. Ich bin die Nacht vorher super spät ins Bett gegangen, meine Eltern weckten mich. In dem Moment, wo wir aufwachten, konnte niemand glauben, dass es passiert ist. Es gab Gerüchte, aber wir dachten, wir leben in einer progressiven Welt mitten in Europa! Es war wie ein Traum, einfach nicht real.“
Was oft vergessen wird: Wie der Rest der Welt kam die Ukraine gerade aus einer Pandemie, war also vorher bereits im Ausnahmezustand und erschöpft. Ihr Opa und Vater, beide Ärzte im Krankenhaus, hatten bis dahin unermüdlich gegen Corona gekämpft. Nun ging es nahtlos weiter mit der Versorgung verwundeter Soldaten. „Ab dem Tag der Invasion war Covid vergessen.“
Der Vater ist wehrpflichtig, wird aber wie der Opa dringend als Arzt gebraucht. „Sie leben quasi im Krankenhaus“, so Sofia Chybisova. Ihre Oma will ohne ihren Mann nicht das Land verlassen. Also flieht zwei Wochen später die Mutter mit ihren beiden Töchtern. „Alles ging superschnell. Meine Mutter sagte eines Tages spontan: Heute fahren wir los.“ Ihre Stimme zittert, als sie vom Abschied erzählt. Ob die Großeltern mütterlicherseits noch lebten, wussten sie zu dem Zeitpunkt nicht. Sie wohnten in einer Stadt nahe Kiew, die früh angegriffen wurde, der Kontakt zu ihnen brach ab. „Meine Mutter erfuhr erst hier in Deutschland, dass ihre Eltern überlebt haben. Sie wurden über den Green Corridor von freiwilligen Helfern evakuiert.“
Sie fuhren zunächst 13 Stunden im völlig überfüllten Zug an die polnische Grenze, wollten das Land eigentlich erst gar nicht verlassen. Später entscheidet die Mutter: Wir fahren weiter zu Freunden nach Köln, dort ist es sicher.
Ein halbes Jahr wohnt die junge Studentin mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester im Flüchtlingsheim. „Es war ein Lager mit separaten Räumen“, erzählt sie.
Ist das nicht alles ein Schock? „Meine Mutter ist ein sehr positiver Mensch, sie kommt mit allen Umständen zurecht. Sie fand schnell Freunde im Flüchtlingsheim, sie unternahmen viel.“
Eines Tages spricht sie die Managerin eines privaten Campus in Köln an: Sie könne auch als Studentin auf dem Campus wohnen. So zieht sie aus, raus dem Flüchtlingsheim. „Für meine Mutter war es okay. Ich war die, die am besten Deutsch konnte in meiner Familie. Sie wusste, ich komme zurecht.“
Das klingt resilient, optimistisch. Chancen ergreifen, positiv bleiben. Freundschaften schließen und sich gegenseitig helfen. Ja, hier musste man das Leben neu starten, aber es ging.
Ihre Mutter und Schwester kehren bald darauf zurück in die Ukraine, nach Hause. Sofia Chybisova dagegen bleibt und schreibt verschiedene deutsche Unis an, ob sie bei ihnen ihren Studiengang weiterstudieren könne. „Nur die FH Potsdam hat sich persönlich gemeldet und nicht nur eine automatische Antwortmail geschickt.“
Ältere Studierende in Deutschland
Was ist hier in Deutschland anders, im Unterschied zur Ukraine?
„In der Ukraine studierst du, wenn du zwischen 17 und 22 bist. Hier gibt es Studenten, die zum Teil über 30 sind. Darüber hab ich erstmal gestaunt. Die Deutschen sind freundlich, aber nicht überherzlich. Und von hier aus finde ich das Gefühl und die Sorge um die Heimat schwierig: Ich sehe nur die schlimmen Nachrichten und habe Angst. Die Sorge um die Ukraine treibt mich hier um, weil ich nicht da bin. Es ist paradox.“
„Unsere Ingenieure wissen, wie wichtig es ist, die Netzwerke zu sichern.
Sie beheben das superschnell.“
Wie ist es denn in der Ukraine gerade?
„Der Osten ist am meisten betroffen. Aber unserer Familie geht es gut, unsere Häuser sind in Ordnung. Es gibt bei meiner Familie ab und zu Angriffe auf Netzwerke, mal haben sie keinen Strom oder kein Wasser. Aber unsere Ingenieure beheben das superschnell. Sie wissen, wie wichtig es ist, die Netzwerke zu sichern. Einige unserer Ingenieure fahren durchs Land und reparieren, was kaputt ist.“
Ich will wissen, wie sie zu Airlift gekommen ist, der studentischen Initiative, in der sie aktiv ist. „Ich liebe das Fotografieren. Das wusste auch ein Klassenkamerad, der sich bereits in der Initiative engagiert hatte. Er fragte, ob ich mitmachen will. Die Leute kennen die Ukraine vom Krieg her, wir wollten ihnen die schöne Seite der Ukraine zeigen.“
Sofia Chybisova ist auch mit mehreren Bildern beteiligt, die auf der Grünen Woche und in der Presse gezeigt wurde. Eins zeigt Kiew im Winter, vor Kriegsausbruch – idyllisch, ruhig, modern. „Nach der ersten Versteigerung im Dezember 2022 machten wir über 5000 Euro, die spendeten wir für Generatoren für ein Krankenhaus in der Ost-Ukraine.“
Ich bin beeindruckt, wie positiv Sofia Chybisova und ihre Familie geblieben ist. Was hat sie für Träume?
Studium in Deutschland abschließen
Ich will mein Studium hier abschließen. Ich bin super dankbar, dass ich die Fachhochschule Potsdam gefunden habe. Ich helfe hier selbst, arbeite jetzt im International Office, helfe anderen beim Ankommen. Ich organisiere auch Projekte für Jugendliche in Potsdam. Ich kenne nun beide Kulturen und kann anderen helfen.“
„Meine Träume sind nicht zerbrochen, sie haben sich nur geändert.“
Ihr Fazit?
Ich hätte nie gedacht, dass ich mal ein Flüchtling werde. Aber das bin ich, und ich werde das jetzt immer in meiner Biografie haben. Die Erfahrungen, die ich gemacht habe, will ich nutzen, Menschen zu verbinden. Meine Träume sind nicht zerbrochen, sie haben sich nur geändert.
Und auf die nächste Initiative hat sie auch schon ein Auge geworfen: „Repair Together“ ist eine internationale Organisation mit allein 40.000 Followern auf Instagram, die den Wiederaufbau der Ukraine zur großen Party macht: Die einen bauen ein Haus wieder auf, dazu legt ein DJ auf. „Da würde ich gern mitmachen“, schwärmt Sofia Chybisova.
Es würde ihren Willen, Menschen miteinander zu verbinden und zu helfen, nur unterstützen.
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