„Agiles Projektmanagement bedeutet eine hohe Disziplin“
Agile Methoden lösen das klassische Projektmanagement zunehmend ab. Wir haben mit Phil Hermanski, Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik, gesprochen, warum vor allem der Mittelstand von agilen Prozessen profitieren kann.
ingenieur.de: Warum ist agiles Projektmanagement heute so relevant?
Phil Hermanski: Agiles Projektmanagement ist dann sinnvoll, wenn Situationen zunehmend komplizierter oder sogar komplex werden, sodass wir externe Auswirkungen auf unsere Entwicklung und wiederum dessen Wirkung auf den Markt gar nicht mehr im Voraus bestimmen können. Das „was wollen meine Kunden“ und das „wie genau setze ich das eigentlich um“ ist daher heutzutage immer schwieriger im Voraus zu beantworten. Die meisten werden den Begriff VUCA kennen, der für volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) steht. Vuca verdeutlicht die schnelle Veränderung und die damit einhergehende „Komplexität“. Agiles Projektmanagement unterscheidet sich nun insofern von klassischem Projektmanagement, als dass wir Projekte nicht mehr im Detail mehrere Monate oder Jahre vorausplanen, sondern uns einen Rahmen setzen, innerhalb dessen wir in kurzen Zyklen, iterativ und in interdisziplinären Teams gemeinsam mit den potenziellen Nutzern Lösungen entwickeln. Wir versuchen von Zyklus zu Zyklus zu lernen und dadurch Fehler möglichst gering bzw. klein zu halten. Zusammengefasst lässt sich sagen: Agiles Projektmanagement unterstützt uns durch kurze Zyklen und möglichst viel Feedback dabei in Umgebungen mit vielen Unsicherheiten Fehler möglichst gering zu halten.
Inwieweit verbessern agile Methoden Prozesse in der Praxis?
Es ist wichtig zu schauen, wann und wo agile Methoden überhaupt sinnvoll angewendet werden können. Bei sich ständig wiederholenden Tätigkeiten oder Prozessen, in denen ich sowohl das „wie“ als auch das „was“ sehr genau weiß sowie beantworten kann brauche ich nicht zwingend agile Methoden anzuwenden. Da ist klassisches Projektmanagement weitaus effizienter. Agile Methoden verbessern jedoch dann die Praxis, wenn ich mich mit neuen oder sich schnell ändernden Situationen auseinandersetzen muss. Dann setze ich mir kürzere Bearbeitungszyklen, hole mir häufiger Feedback vom Nutzer ein und bewege mich somit Schritt für Schritt weiter. Ich laufe im Zweifelsfall nicht zu lange in die falsche Richtung, was im betriebswirtschaftlichen Umfeld leider bedeutet, dass ich zu lange „Geld“ verbrenne, und sei dies „nur“ durch meine vergebliche Arbeitszeit.
Wie kann der Mittelstand insbesondere von agilen Methoden profitieren?
Der Mittelstand hat häufig die Grundsituation, dass er einfach schneller ist. Es gibt weniger Hierarchien und auch weniger definierte Prozesse. Unter Umständen gibt es diese theoretisch, die Praxis sieht aber häufig anders aus, das steht jedoch auf einem anderen Blatt. Das heißt, eine große Grundlage für den Einsatz agiler Methoden ist gegeben. Agile Methoden versuchen zusätzlich Lösungen mit möglichst wenig Reibungsverlust zu entwickeln. Besonders im Mittelstand, wo finanzielle Mittel häufig nicht mit der Gießkanne verteilt werden können, ist dies ein hoch relevanter Aspekt. Man muss jedoch auch dazu sagen, dass agile Methoden Ressourcen benötigen. Hierzu werden häufig die operativen Mitarbeiter eingesetzt, da besonders in kleineren Betrieben keine Projektmanager tätig sind, die sich mit übergreifenden Themen beschäftigen können. Das kann natürlich zunächst eine Herausforderung darstellen. Ich muss mir also etwas umfassender Gedanken machen, wie ich mein Personal einsetzen will, um zu einer agile(re)n Organisation zu kommen.
Haben Sie Tipps, wie sich vor allem ältere Mitarbeiter flexibel umstellen können?
Wichtig ist, dass allen Mitarbeitern, nicht nur den Älteren, von Beginn an klar kommuniziert und informiert wird, warum agiles Arbeiten heutzutage in bestimmten Bereichen zunehmend relevant ist. Auch eine transparente Verknüpfung mit der strategischen Ausrichtung des Unternehmens kann sinnvoll sein, genauso wie Schulungen. Ein zielgruppengerechtes Storytelling oder sogar Changemanagement ist hier aus meiner Sicht hoch relevant. Es sollte also die Frage beantwortet werden: Was unterscheidet „früher“ von „heute“ und warum gibt es eigentlich agiles Arbeiten und was ist der Vorteil des Ganzen. Generell möchte ich daher auch gar nicht hart unterscheiden zwischen älteren und jüngeren Mitarbeiter, denn wo soll da die Grenze sein?
Was macht für Sie ein agiles Unternehmen aus?
Ein agiles Unternehmen kennzeichnet aus meiner Sicht eine grundlegende Sache, die die meisten bereits aus dem Lean Management kennen dürften: Der offene Umgang mit Fehlern oder besser noch der Fokus auf ständigem Lernen aller Beteiligten. Außerdem der offene und interdisziplinäre Umgang zwischen allen Abteilungen. Einzelne Parteien arbeiten nicht gegeneinander, sondern die andere Sichtweise, die der Kollegen aus dem Marketing oder dem Vertrieb hat, wird für den Entwickler als weiterer, interessanter Aspekt hoch geschätzt und fließt in die Entscheidungsfindung mit ein. Es sind für mich eher diese Aspekte, die Agilität ausmachen, als Post-It’s oder Kollaborationssoftware – auch wenn dies beides wunderbare Tools für die tägliche Arbeit sind.
Mit welchen Hürden sehen sich Unternehmen im Zuge von agilen Arbeitsweisen konfrontiert?
Ganz klar der Unwissenheit und den vielen Mythen über Agilität. Agilität wird heutzutage noch von zu vielen als Synonym für Kurzfristigkeit bei einer gewissen Planlosigkeit verwendet. Dies ist jedoch in keinster Weise der Fall! Agiles Arbeiten bedeutet mit seinen vergleichsweise kurzen Zyklen oder Sprints eine hohe Disziplin, denn es soll in regelmäßigen, vergleichsweise kurzen Abständen ein werthaltiges oder nutzenbringendes Ergebnis präsentiert werden. Besonders dieser enge, stabile Arbeitsrahmen mit festen Teams bietet eine gewisse Sicherheit im Unsicheren Umfeld. Um jedoch noch alltägliche Hürden zu nennen: Dies kann einerseits die Änderung des Mindsets auf Seiten des Managements sein, dem ich eben nicht zwei Jahre im Voraus genau sagen kann, was passieren wird. Andererseits kann das anfängliche Finden eines gemeinsamen Arbeitsmodus in interdisziplinären Teams, zusätzlich zum operativen Tagesgeschäft, eine Herausforderung darstellen.
Gibt es hier besondere Unterschiede zwischen Konzernen und kleinen und mittleren Unternehmen?
Es kommt aus meiner Sicht gar nicht so stark darauf an wie groß ein Unternehmen ist, sondern eher wie das Unternehmen kulturell geprägt ist. Das ist sicherlich auch ein Punkt, der für eher klassisch geprägte Hierarchien und Manager zutrifft. Denn agiles Arbeiten bedeutet eben auch einen Teil der Kontrolle an seine hochspezialisierten und motivierten Mitarbeiter abzugeben und sich selbst stärker in die Richtung des Servant Leaderships zu entwickeln. Stark verkürzt basiert diese „dienende“ Führungsrolle darauf Regeln und einen Arbeitsrahmen festzulegen, weiterhin aber eher als Trainer, Coach oder Mentor aufzutreten, um die Mitarbeiter, die schließlich als Experten in ihrem Feld eingestellt wurden, dazu zu befähigen ihr volles Potenzial entfalten zu können. Um konkrete Unterschiede zu nennen haben Konzerne aber sicherlich größeren Kommunikations- und Abstimmungsaufwand zwischen Ihren agilen Teams. Bei kleineren Unternehmen steht hingegen eher die Herausforderung, dass es aufgrund der Personalkapazitäten wenig bis keine Mitarbeiter gibt, die rein nach agilen Methoden arbeiten können, im Vordergrund. Denn agiles Arbeiten bedeutet im optimalen Fall auch wenig bis gar kein Multiprojektmanagement. Und das ist eben bei vielen kleineren Unternehmen schwierig, da Mitarbeiter häufig für viele unterschiedliche Themen zuständig sind. Ich möchte damit jedoch nicht sagen: Agil, ganz oder gar nicht. Jeder muss sich zunächst mit den Methoden und Tools auseinandersetzen und dann den für sich richtigen Modus finden.
Haben Sie ein Best Practice, wo agiles Arbeiten besonders gut gelungen ist?
Es kommt immer ein wenig darauf an, in welchem Umfang das Thema betrieben werden soll. In meiner Tätigkeit beim Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik bin ich auch im Digital Hub Logistics in Dortmund aktiv. Dort geben wir Innovationsteams aus Unternehmen Raum und Unterstützung für Ihre Innovations- und Entwicklungsaktivitäten mit Fokus auf marktzentrierte, digitale Innovationen und Geschäftsmodelle. Die BEUMER Group hat dort als klassisches Maschinenbauunternehmen mit der BG.evolution ein festes Team von circa 5 Leuten gegründet, das vollständig im Agilmodus arbeitet und ergänzende, digitale Mehrwertprodukte zum klassischen Produktportfolio der Beumer Group entwickelt. Ein anderes Unternehmen, die BEULCO GmbH & Co. KG, ebenfalls ein produzierendes Unternehmen aus unserem Hub, ruft neben seinen Tätigkeiten in Dortmund an seinem Stammsitz in Attendorn mit umfassenden Changemaßnahmen die agile Organisation aus. Insofern gibt es völlig unterschiedliche Ansätze agilen Arbeitens. Was jedoch beide Unternehmen gemeinsam haben: Es gibt den vollen Support der Geschäftsführung, sowie eine umfassende Strategie.
Sie sind ja Innovationscoach bei Digital in NRW. Was leistet die Initiative genau?
Die Initiative Digital in NRW ist Teil des BMWi-Programms Mittelstand Digital, das noch bis Ende 2020 läuft. Kleine und mittlere Unternehmen sollen durch die Initiative auf dem Weg der zunehmenden Digitalisierung unterstützt werden. Im Vordergrund steht hier das Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“, denn Digitalisierung lässt uns nun mal nicht mehr los. Die Möglichkeit des Home Office auf Basis von VPN, Webex etc. bei entsprechenden Berufsgruppen in Zeiten von Corona ist ja nur ein sehr kleiner Ausschnitt der Digitalisierung. Wir unterstützen KMU durch unterschiedlichste, fast bürokratiefreie Formate. Dazu gehören zum Beispiel Informationsvorträge bei Industrie- und Handelskammern, Führungen durch die Forschungs-Demozentren unserer Partner in Ostwestfalen-Lippe, Aachen und Dortmund, themenspezifischen Ein- bis Zweitagesworkshops oder auch kleine Umsetzungsprojekte. Da das Programm völlig kostenfrei und unverbindlich ist kann ich nur jedes KMU dazu auffordern, sich das Programm anzuschauen und auf uns zuzukommen. Wir sind außerdem Teil eines ganzen Netzwerks in Deutschland, insofern sollte für jedes Unternehmen, unabhängig von Branche und Region, etwas dabei sein.
Wie lange dauert denn so ein Weg hin zur agilen Arbeitskultur?
Das lässt sich pauschal überhaupt nicht sagen, denn eine Kultur kann nicht so einfach „angewiesen“ oder „vorgegeben“ werden, sondern es handelt sich um ein tief verwurzeltes, wertebasiertes Gefüge. Wie gesagt, wenn bestimmte Grundpfeiler wie Offenheit, Lehrbereitschaft, Empathie etc. bereits vorhanden sind, ist der Weg zur Agilität vergleichsweise schneller, als wenn ich ein Unternehmen habe, das sich zwar mit Design Thinking und Jira brüstet, in dem die Mitarbeiter jedoch versuchen Fehler möglichst unter der Teppich zu kehren.
Agile Methoden kommen ja oft in der IT zum Einsatz. Was schätzen IT-Manager und Ingenieure daran?
Das ist den Charakteristika der Softwareentwicklung geschuldet. IT-Entwicklung ist eben schon immer oder häufig eine hoch komplizierte Angelegenheit. Mehrere Entwickler aus unterschiedlichen Bereichen müssen miteinander Hand in Hand arbeiten und die anvisierte, eventuell völlig innovative Lösung dazu noch so umsetzen, dass ein potenzieller Nutzer einen Mehrwert davon hat und die Usability stimmt. Nichtsdestotrotz muss man auch zugeben, dass das Arbeiten nach agilen Methoden im reinen Softwarebereich bisher noch einfacher ist als im Bereich der Hardwareentwicklung, da das regelmäßige Ausrollen von Updates leichter ist. Sofern man sich jedoch in der Prototypen-Phase befindet, gibt es aus meiner Sicht auch im (kombinierten) Soft- und Hardwareumfeld der IoT-Entwicklung keine Ausreden mehr, nicht auf agile Methoden zu setzen. Besonders da wir uns vermehrt von einer Technology-Push zu einer hoch dynamischen Market-Pull Situation entwickeln, in der wir teils komplizierte bis komplexe Lösungen regelmäßig mit unseren Kunden und Nutzern abstimmen müssen, bekommen Entwickler durch diese Methoden Sicherheit, dass die Lösungen in die richtigen Richtungen entwickelt werden.
Kommen Scrum, Kanban und Co. bereits in den Lehrplänen der Unis zum Einsatz?
Das ist bisher nur sehr sporadisch, freiwillig als zusätzliches Seminar oder in hochspezialisierten Fachbereichen der Fall. Aus meiner Sicht sollten jedoch alle im betriebswirtschaftlichen oder technologischen Umfeld agierenden Studiengänge agile Methoden oder Frameworks in den Standardlehrplan aufnehmen. So wie klassisches Projektmanagement bisher der zentrale Ansatz war sind agile Methoden die Tools der Zukunft. Auch wenn sie nicht immer zwingend zum Einsatz kommen müssen, sollte jeder Student eine umfassende „Methoden-Toolbox“ besitzen, damit er flexibel die richtigen Werkzeuge zum richtigen Zeitpunkt wählen kann.
Was muss in der Ingenieurausbildung noch getan werden, damit Jungingenieure schnell agil arbeiten können?
Ich denke, dass der Nachwuchs heutzutage bereits vermehrt mit solchen Themen groß wird. IT bekommt einen immer größeren Stellenwert und damit werden auch entsprechend Methoden flächendeckend bekannter. Außerdem finde ich die Komplexitätstheorie einen hoch spannenden Bereich der Wissenschaft, der es uns erleichtert unsere heutige Welt sowie den Kern agiler Methoden zu verstehen. Neben diesen beiden Faktoren möchte ich aber noch einmal das Thema Empathie betonen, was ja besonders im Design Thinking eine zentrale Rolle spielt. Anderen Fachbereichen, Kunden und Lieferanten wirklich zuzuhören und auch verstehen zu wollen, warum sie so handeln wie sie handeln und was für sie wirklich wichtig ist: das ist für mich ein essentieller Punkt. Daher könnte ich mir gut vorstellen, dass bereits im Studium vermehrt interdisziplinäre Veranstaltungen stattfinden, die auch direkt durch die Nutzung von modernen IT-Kollaborationstools unterstützt werden.
Ihr Kurzausblick: Wie arbeiten wir 2030?
Digitaler und schneller. Ich hoffe auch empathischer und in flächendeckender Form „besser“ – was immer das aus den unterschiedlichen Perspektiven heißen mag. Technologisch dreht sich momentan natürlich viel um die Stichworte Plattformen, Künstliche Intelligenz, Augmented Reality, Virtual Reality sowie Internet-of-Things und eingebettete Systeme. Aber wie genau unser Arbeitsalltag dadurch in 10 Jahren beeinflusst wird, kann ich bei den zunehmend schneller werdenden Entwicklungen nicht sagen.
Weitere Infos finden interessierte KMU hier.
Danke für das Interview!
Dieses Interview wurde schriftlich geführt.
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