Reskilling als Antwort auf den Fachkräftemangel
Unternehmen stehen vor der Aufgabe, dynamische Reskilling-Prozesse zu entwickeln, um ihren Mitarbeitern die Anpassung an die neuen Arbeitsanforderungen zu ermöglichen. Warum sind tiefgreifende Umschulungsmaßnahmen so wichtig?
In Anbetracht des Fachkräftemangels und der rapiden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt stehen Unternehmen vor der Herausforderung, bestehende Kompetenzlücken zu schließen und ihre Mitarbeiter*innen auf die neuen Anforderungen vorzubereiten. Eine aktuelle Studie des Weltwirtschaftsforums prognostiziert, dass in vier Jahren 2 Prozent der heutigen Jobs obsolet sein werden. Um die in Zukunft erforderlichen Kompetenzen zu vermitteln, sind umfassende Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, auch bekannt als Re- oder Upskilling, von entscheidender Bedeutung.
Im folgenden Interview spricht Christophe Zwaenepoel, Managing Director DACH bei der auf MINT-Fachkräfte spezialisierten Personalberatung SThree zu diesen Themen. Er erklärt, wie Unternehmen am besten solche Reskilling-Prozesse implementieren können. Darüber hinaus erklärt er im INGENIEUR.DE-Interview, in welchen Bereichen sich Jobs voraussichtlich am stärksten verändern werden und welche Schlüsselkompetenzen zukünftig besonders gefragt sein werden.
Herr Zwaenepoel, was genau verstehen Sie unter Reskilling und Upskilling?
Die Begriffe Re- und Upskilling bezeichnen tiefgreifende Umschulungsmaßnahmen hin zu einem neuen Job – häufig mit einem deutlich höheren technologischen Anteil. Sie zielen darauf ab, Menschen in die Lage zu versetzen, mit veränderten Anforderungen an ihr Stellenprofil umzugehen. Nötig wird dies, wenn sich ein Berufsbild beispielsweise durch die Digitalisierung so stark verändert, dass einzelne Seminare oder klassische Fortbildungen, die einen bestimmten Kompetenzbereich adressieren oder vorhandenes Wissen vertiefen, schlichtweg nicht mehr ausreichen, um die notwendigen Fähigkeiten zu vermitteln.
Wie wichtig sind Reskilling-Initiativen für Unternehmen, um mit den Veränderungen am Arbeitsmarkt Schritt zu halten?
Ein stückweit variiert die Relevanz solcher Maßnahmen entsprechend der jeweiligen branchenspezifischen Anforderungen. Doch grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Bereitschaft, die Kompetenzen der Beschäftigten kontinuierlich weiterzuentwickeln, für die Wettbewerbsfähigkeit jedes Unternehmens wichtiger wird. Gerade die wachsenden Einsatzmöglichkeiten generativer KI führen uns vor Augen, dass sich potenziell jeder Tätigkeitsbereich durch Technologie verändern kann – längst gilt das nicht mehr nur für praktische Tätigkeiten in der Fertigung, sondern auch für die digitale Planung in der Konstruktion oder sogar die Programmierung der Software, die dabei zum Einsatz kommt.
Welche Jobs sind besonders gefährdet?
Am stärksten dürften sich Bereiche verändern, in denen Menschen repetitive Aufgaben mit hohem Standardisierungsgrad erledigen. Der Future of Jobs-Bericht des Weltwirtschaftsforum (WEF) nennt hier vor allem Tätigkeiten in der Verwaltung, z. B. Sachbearbeiter*innen für Rechnungswesen und Buchhaltung, Beschäftigte in administrativen Bereichen wie Dateneingabe, Materialerfassung oder Lagerverwaltung oder auch Kassierer*innen und Ticketverkäufer*innen. Gemein ist diesen Berufen, dass sie wenig soziale Interaktion und Kreativität erfordern. Im Umkehrschluss dürften genau dies die Aspekte sein, die stärker in den Fokus menschlicher Arbeit rücken dürften. Ich bin aber überzeugt: Wenn Unternehmen dem Wandel mit Offenheit und Lernbereitschaft begegnen, liegt darin mehr Chance als Gefahr.
Datenkompetenz für Ingenieurinnen und Ingenieure
Was meinen Sie, welche Fähigkeiten müssten Ingenieure und Ingenieurinnen demnächst haben oder neu erlernen?
Grundlage der momentan viel beachteten KI-Anwendungen ist ein wachsender Datenbestand. Diesen effizient nutzen zu können, wird unter ökonomischen Gesichtspunkten immer wichtiger – nicht nur in technischen Berufen, aber besonders dort. Somit wird Datenkompetenz auch für Ingenieurinnen und Ingenieure zunehmend relevant. Gemeint ist damit die Fähigkeit, Daten analysieren, interpretieren und daraus Handlungsentscheidungen ableiten zu können. Damit verbunden gewinnen auch Kreativität und analytisches Denken zunehmend an Bedeutung, ebenso wie Empathie: Sich in ein Problem hineinzuversetzen und die richtigen Fragen zu stellen, ist oft der erste Schritt zur Lösung. KI-Anwendungen können im Anschluss oft dabei helfen, aber wir müssen sie erst auf die richtige Fährte setzen, bevor sie loslaufen können. Daneben werden Soft Skills wie Resilienz, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität wichtiger. Sie ermöglichen Menschen, sich in volatilen Umfeldern zurechtzufinden und auch in unbekannten Situationen souverän zu agieren.
Wie können Unternehmen sicherstellen, dass ihre Mitarbeiter*innen, die von Jobverlust bedroht sind, die Möglichkeit haben, neue Fähigkeiten zu erlernen und sich für zukünftige Arbeitsplätze zu qualifizieren?
Um das frühzeitig zu erkennen, sollten Unternehmen zunächst eine gründliche Bestandsaufnahme durchführen. Feedbackgespräche und Leistungsbeurteilungen helfen, sich ein Bild davon zu machen, wie es um die Kompetenzverteilung innerhalb der Belegschaft bestellt ist. Ein solches Talent Mapping zeigt, wo Lücken bestehen und es Weiterbildungsbedarf gibt. Darauf aufbauend lassen sich individuelle Kompetenzprofile erstellen und mit den jeweiligen Team-Mitgliedern zusammen Entwicklungspläne erarbeiten, um die nächsten Schritte zu konkretisieren. Wie gut die so definierte Weiterbildung funktioniert, ist anschließend auch eine Frage der Infrastruktur. Um diese zu schaffen, können Unternehmen z. B. Weiterbildungs- und Lernbudgets zur Verfügung zu stellen, mit denen Beschäftigte individuell an Fortbildungen teilnehmen oder sich Zugang zu einschlägiger Fachliteratur und kostenpflichtigen Lerninhalten beschaffen können. Zudem brauchen Mitarbeitende Zeit, um Lerneinheiten wahrzunehmen und ihr neu erworbenes Wissen im Rahmen praktischer Übungen anzuwenden. Hierfür können Unternehmen ihren Teams beispielsweise explizit ein entsprechendes Stundenkontingent zur Verfügung stellen. Auch durch die gelebte Kultur können Unternehmen dazu beitragen, die Lernbereitschaft zu fördern. Wenn es einem Arbeitgeber gelingt, bei seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein neugieriges und offenes Mindset zu kultivieren, profitiert davon auf lange Sicht die Organisation als Ganzes.
Reskilling als ein Investment
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Umsetzung von Reskilling-Programmen in Unternehmen?
Reskilling ist für beide Seiten zunächst einmal ein Investment. Arbeitgeber müssen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die zeitlichen Kapazitäten einräumen, um an entsprechenden Schulungsmaßnahmen teilzunehmen. Darüber hinaus müssen sie damit rechnen, dass die Weiterbildungsteilnehmenden in ihrer neuen Rolle nicht ab Tag eins voll einsatzfähig sind und zunächst einen Moment brauchen, um sich zurechtzufinden. Die betreffenden Beschäftigten müssen sich auf die neue Herausforderung einlassen, bereit sein, zu lernen und die damit verbundenen Mühen auf sich zu nehmen. Richtig umgesetzt eröffnet Reskilling am Ende jedoch eine Win-Win-Situation, da das Unternehmen Kompetenzlücken gezielt schließen kann und das Team sich weiterentwickelt
Welche Rolle spielen Technologie und Automatisierung bei der Veränderung von Arbeitsplätzen und Berufsbildern?
Über alle bisher durchlebten industriellen Revolutionen hinweg waren Technologie und Automatisierung wesentliche Treiber der Veränderung prävalenter Arbeitsrealität, und auch jetzt treiben sie einen grundlegenden Wandel voran. Schauen wir genau hin, setzt sich dabei das altbekannte Muster fort: Monotone Routineaufgaben werden automatisiert, sodass sich der Fokus menschlicher Arbeit hin zu Tätigkeiten mit höherer Wertschöpfung verschiebt. Dies wertet die menschliche Arbeitskraft auf, zwingt uns aber zugleich, uns weiterzuentwickeln. Bei alledem hat Automatisierung das Potenzial, den Einzelnen zu entlasten, um sich anspruchsvolleren Tätigkeiten zu widmen, etwa der Optimierung von Prozessen oder der strategischen Geschäftsentwicklung. Dadurch verändert sich die Rolle des Menschen in der Arbeitswelt weg von einer schaffenden, hin zu einer steuernden.
Wir haben von gefährdeten Jobs gesprochen. Welche Rolle wird dabei die KI z.B. ChatGPT spielen und wie kann man sich auch in diesem Bereich weiterbilden?
Mit ihren wachsenden Kompetenzen dringt generative KI in Bereiche vor, die bislang klassischerweise den Wissensarbeitern vorbehalten waren – denken wir an das Rechtswesen, den Journalismus oder die Informatik. Hier erstellen und prüfen KI-basierte Tools bereits Texte, schreiben Code oder beantworten Fragen. Jetzt geht es darum, die damit verbundenen Chancen zu identifizieren und zu nutzen. Dafür sollten Unternehmen prüfen, welche Routineaufgaben sich mithilfe solcher Tools schneller und effizienter erledigen lassen und wo die menschliche Arbeitskraft stattdessen sinnvoller eingesetzt werden kann. Da die Entwicklung vieler Anwendungen in diesem Bereich noch am Anfang steht, gibt es keinen bewährten Weg, sich einzulernen. Sicher ist Ausprobieren ein sinnvoller Ansatz. Momentan entwickelt sich z. B. das Prompt Engineering, also das Formulieren möglichst effizienter Anweisungen für sprachbasierte KI-Anwendungen, zu einem eigenständigen Tätigkeitsbereich. Das unterstreicht, dass hier gerade viel im Werden ist. Diese Entwicklungen zu beobachten und die Einsatzpotenziale im eigenen Unternehmen oder Zuständigkeitsbereich mitzudenken und auszuloten, hilft, auf dem aktuellen Stand zu bleiben.
Welche Maßnahmen können Unternehmen ergreifen, um sicherzustellen, dass sie über die richtigen Talente mit den benötigten Fähigkeiten verfügen?
Am Anfang steht ein gründliches Talent Mapping, um zu erkennen, welche Kompetenzen schon in-house vorhanden sind und welche extern hinzugeholt werden müssen. Somit brauchen Unternehmen einen zweiseitigen Ansatz: Zum einen gilt es, die Fähigkeiten bestehender Team-Mitglieder mithilfe von Re- und Upskilling (weiter-)zu entwickeln und so in-house Themenexpert*innen aufzubauen. Zum anderen bleiben externe Fachkräfte für bestimmte Bereiche weiterhin relevant. Grundlage einer effektiven und nachhaltigen Personalstrategie ist daher, die bestehende Bedarfslage gut zu kennen und dadurch gezielt auf Veränderungen der Anforderungen reagieren zu können.
Welche Rolle spielen Bildungseinrichtungen bei der Entwicklung von Kompetenzen für die Arbeitswelt der Zukunft?
Bildungseinrichtungen spielen diesbezüglich in zweierlei Hinsicht eine wesentliche Rolle. Zum einen natürlich mit Blick auf die Kompetenzvermittlung an sich: Wenn Digitalkompetenzen wie Datenanalyse oder Programmiersprachen schon in der Schule unterrichtet werden, hilft das jungen Menschen, ein technisches Grundverständnis für ihre berufliche Entwicklung auszubilden. Zum anderen sollten Bildungseinrichtungen möglichst klischeefrei an diese Themen heranführen, um bestehende Stereotype abzubauen und Berührungsängste gar nicht erst aufkommen zu lassen. Gerade Mädchen trauen sich oftmals im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich weniger zu, als sie tatsächlich könnten. Somit liegt auch in der Verantwortung der Bildungseinrichtungen, Kinder unabhängig ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder ihres Hintergrundes zu ermutigen und zu fördern.
Sich auf neue Lösungen einlassen
Welche Trends und Entwicklungen sollten Unternehmen berücksichtigen, wenn sie ihre Reskilling-Programme planen?
Laut Future of Jobs-Report wird es bis 2027 rund 30 Prozent mehr Stellen für Datenanalysten, Machine Learning-Spezialist*innen und Cybersicherheitsexpert*innen geben. Auch bei Tätigkeiten mit Nachhaltigkeitsbezug wächst der Bedarf: So werden Unternehmen künftig mehr Expertinnen und Experten brauchen, die ihnen dabei helfen, Emissionen zu bilanzieren, klimaschonende Technologien zu implementieren und so ihre Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Themen- und Technologieexpertise in diesen Bereichen werden somit wichtiger. Solche mittel- bis langfristigen Entwicklungen sollten Unternehmen im Blick behalten, wenn sie Weiterentwicklungsinitiativen planen.
Was würden Sie den angehenden Ingenieuren und Ingenieurinnen aus Ihrer Sicht empfehlen?
Neugierig zu bleiben und die Bereitschaft sowie Freude am lebenslangen Lernen nicht zu verlieren. Mit dieser Grundhaltung ist schon viel gewonnen. Denn mit welchen Technologien Ingenieurinnen und Ingenieure in Zukunft arbeiten werden, ist aktuell noch gar nicht absehbar. Wichtig ist, sich im entscheidenden Moment auf neue Lösungen einzulassen, den Umgang damit zu lernen und sie effektiv für den eigenen Vorteil zu nutzen.
Ein Beitrag von: