Luftig-zarte Gewebe aus Roboterhand nach dem Vorbild der Natur
Technik trifft Natur: Im Innenhof eines Londoner Museums steht derzeit ein luftig-leichter Pavillon nach dem Vorbild von Käferflügeln. Entworfen haben ihn Computer, gebaut Roboter. Diese wiederum stammen aus den Laboren Stuttgarter Wissenschaftler. Noch bis zum 6. November können Besucher den Elytra Filament Pavillon anschauen, nutzen – und ihm sogar beim Wachsen zusehen.
Wenn Computer- und Robotertechnik auf Vorbilder aus der Natur treffen entsteht oftmals Faszinierendes. Wie sich derzeit im Innenhof des Victoria & Albert Museums in London betrachten, betreten und sogar nutzen lässt: In eindrucksvollem Kontrast zur viktorianischen Fassade des Museums steht dort ein Pavillon aus spinnwebenartig umhüllten Sechseck-Formen, die wabenartig zusammengefügt auf einigen wenigen dünnen Stützen ruhen. Geplant haben das luftig-leichte Dach Computer, gebaut Roboter.
Jüngstes Projekt von ICD und ITKE aus Stuttgart
Die wiederum gehorchen den Befehlen Stuttgarter Wissenschaftler: Beim Elytra Filament Pavillon – so der Name des Gebildes – handelt es sich um das jüngste Projekt des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen (ICD) und des Instituts für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart. Gemeinsam forschen sie seit mehreren Jahren am Zusammenspiel von Architektur, Bauingenieurwesen und bionischen Konstruktionen.
Die Anforderungen, die sich die Entwickler dieses sanft gewölbten Baldachins gestellt hatten, war Stabilität trotz Leichtigkeit, eine gekrümmte Konstruktion, die sich an die Umgebung anpasst und ohne hohe Material- und Arbeitskosten für Schalung und Konstruktion auskommt. Die Antwort fanden sie wieder einmal im Tierreich: Der Pavillon folgt den Formprinzipien der Deckflügel von Käfern. Auch diese sind durch eine Verfestigung der Strukturproteine und der Auffüllung mit Chitin leicht, gerundet und ziemlich stabil, womit sie ein wichtiges Element des Exoskeletts sind.
Kernlose Wickeltechnik formt ein wahres Leichtgewicht
Statt Protein und Chitin nutzen die Forscher Karbon- und Glasfasern. Mittels einer speziellen kernlosen Wickeltechnik, die an einigen wenigen Punkten an leichten, dreidimensionalen Rahmen aus doppelstöckigen Sechsecken ansetzt, weben die eingesetzen Roboter einzelne Waben. Diese fügen sich zu dem schützenden Gebilde zusammen.
Die Reihenfolge – in der die Fasern an bestimmten Stellen angelegt werden – bestimmt, wie die Fläche hinterher aussieht. Aus zunächst gerade gespannten Fasern werden so Bögen, daraus wiederum individuell gekrümmte Flächen – und das alles, ohne eine formgebende Schalung nutzen zu müssen. Mit einer Fläche von derzeit rund 200 m2 und einem Gewicht von gerade einmal 2,5 t ist der Pavillon geradezu federleicht.
Pavillon passt sich den Gegebenheiten an
Derzeitige Größe? Keine genauen Angaben: Denn der lokal installierte Roboter der Institute bastelt eifrig weiter an zusätzlichen Elementen. Dabei passt er sich dem Nutzungsverhalten und den offenkundigen Bedürfnissen der Besucher an, die ein Computer anhand von Besucherverhalten, dem Klima vor Ort und der Spannung im bereits bestehenden Konstrukt ermittelt.
In die Carbonfaserstruktur integrierte Sensorsysteme erheben die benötigten Daten, ein Wachstumsalgorithmus wertet sie aus. Fertige Bauteile werden direkt in das Dach eingefügt: Besucher erleben unmittelbar, wie das Gebäude unter Berücksichtigung ihrer Ansprüche und der räumlichen und klimatischen Gegebenheiten gleichermaßen wächst.
Ausstellung zur kreativen Kraft der Ingenieurskunst
Dass der Pavillon noch bis zum 6. November ausgerechnet im Innenhof des Victoria & Albert Museums steht, dem frei zugänglichen John Madejski Garden, hat einen Grund: Das Museum konzentriert sich allgemein auf die Zusammenhänge zwischen Materialisierungsprozessen und ihre Auswirkungen auf Kunst und Design. In der Ausstellung „Engineering Season 2016“ rückt das jährlich von 3,3 Millionen Menschen besuchte Museum speziell die kreative Kraft der Ingenieurwissenschaften einschließlich ihrer Auswirkungen auf den Alltag in den Fokus.
Die Forschung zur Wickeltechnik, die die Stuttgarter schon seit 2011 betreiben, ist zudem alles andere als Selbstzweck: Die Teams der beiden Institute wollen durch ihren integrativen Ansatz und die Kombination von computerbasiertem Entwurf sowie die robotergestützte Fertigung eine Brücke zwischen Architekten, Biologen, Bauingenieuren und Flugzeugkonstrukteuren bauen, um neue Wege in der Konstruktion und Gestaltung zu gehen.
Bionische Vorgänger aus Stuttgart
Der Pavillon in London ist dementsprechend auch nicht das erste bionische Konstrukt auf Roboter- und Computerbasis, das das ICD und das ITKE auf die Beine stellen: Bereits 2014 präsentierten sie einen freitragenden Holzpavillon nach dem Vorbild eines Seeigels, Ende 2015 ließ das ICD Roboter Säulen aus dornenförmigen Elementen auf- und wieder abbauen.
Und vor wenigen Monaten verblüfften die beiden Institute mit einem Gebäude aus zusammengenähten Holzplatten – wieder nach den Vorbild eins Seeigels.
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