Operation an der Narbe der Nation
Das Jobprofil von Günter Schlusche umschreibt eine komplizierte Gratwanderung. Künstlerischer Anspruch, kombiniert mit einem besonderen Gespür für die deutsche Geschichte, zugeschnitten auf die Bedürfnisse einer kritischen Öffentlichkeit und einer halben Mio. Besucher pro Jahr.
„Mich hat es immer interessiert, nicht nur vorgefertigte Wege zu erforschen“, sagt der promovierte Architekt und Stadtplaner. Sein Arbeitsplatz, das Areal, eine Art raumgreifendes Outdoor-Museum, befindet sich auf dem ehemaligen Mauerstreifen an der Bernauer Straße. Dort gibt es neben zusammenhängenden Mauerresten noch Überbleibsel der komplexen Grenzanlagen, die die Bürger der DDR und der Bundesrepublik 28 Jahre lang voneinander trennten.
Anders als an der „Eastside Gallery“ in Berlin-Friedrichshain, wo Künstler die Mauerstücke (bunt) gestaltet haben und am touristisch-kitschig anmutenden Checkpoint Charlie (Kreuzberg) verkörpert das Gelände an der Bernauer Straße die ernsthaftere, geschichtliche Auseinandersetzung.
Ausgegrabenes Kellergeschoss soll an den Bau der „Berliner Mauer“erinnern
Auch fanden hier zum Zeitpunkt des Mauerbaus die emotionalsten menschlichen Szenen statt. So etwa an der Bernauer Straße 10 a, wo Menschen aus den Fenstern sprangen, um dem Sozialismus zu entfliehen. In der Nacht zum 13. 8. 1961 fingen DDR-Soldaten an, im Rahmen der „Operation Rose“ den Stacheldraht auszurollen und die Fenster des Grenzhauses zuzumauern, das längs der Frontlinie stand. Wo einst jenes Haus stand, wurden nun (zum 50. Jahrestag) die Reste des wiederentdeckten Kellergeschosses freigelegt – quasi ein Exponat. Schautafeln mit Fotos erzählen die Geschichte.
Günter Schlusche spricht von „Ausgrabung“ und vergleicht die Hausreste mit einem versunkenen Schiff, das wieder an die Oberfläche gehoben wurde. „Dies ist zwar kein griechischer Tempel, aber es ist auch Archäologie“, so der Architekt. „Unsere Grundidee war, dass wir nicht die Grenzanlagen rekonstruieren wollten und das Gelände nicht noch einmal überformen, sondern freilegen, lesbar machen. Daher ist es eher zurückhaltend gestaltet.“ Denn, so der Architekt: „Die Mauer ist ja gefallen, es war ein Akt der Befreiung.“
Neben dem verbliebenen Kellergeschoss zeigen Spuren auf dem Rasen des ehemaligen Todesstreifens, wo ein Fluchttunnel gen Westen entlangführte, daneben der Stasi-Tunnel. Der Ausbau des 1,4 km langen Streifens folgt in Etappen, bis 2015 (siehe Kasten). Das Projekt kostet insgesamt 13,5 Mio. € und wird aus EU-Mitteln, Bundes- und Berliner Landesgeldern finanziert. „Dies sind nur die Baukosten – ohne Grundstückskosten“ unterstreicht der Kurator, und er berührt einen heiklen Punkt. „Studiert man das Grundbuch, bekommt man profunde Einblicke in die deutsche Geschichte – mit all ihren Verwerfungen.“ Der ehemalige Grenzstreifen betrifft die Rechte von über hundert Eigentümern und Erbengemeinschaften.
Während der DDR-Zeit enteignete man viele Familien, andere mussten ihr Land schon während der Nazizeit zwangsweise abtreten. „Die Verhandlungen sind kompliziert und zeitaufwendig“, sagt Schlusche. Die Wieder-Eigentümer, die ihr Land nun für die Gedenkstätte verkaufen, tun dies heute allerdings freiwillig – oder eben auch nicht. Den gründlichen und sensiblen Umgang mit Geschichte lernte der Kurator Anfang der 70er-Jahre. Er studierte Architektur an der TU Berlin sowie Stadtentwicklung an an der London School of Economics (LSE). Als Deutscher in London musste er sich all den kritischen Fragen stellen, die seine ausländischen Kommilitonen an ihn hatten – zur Hitlerzeit in Deutschland, dem Alltag der Nazis, den Mitläufern, dem Holocaust. Vergangenheitsbewältigung hieß das Gebot. Günter Schlusche fing an, sich intensiver mit den jüdischen Themen in Deutschland zu befassen, Juden während der Nazizeit und auch danach. Er engagierte sich später in Vereinen zur jüdischen Geschichte in Berlin, z. B. beim „Haus Wolfenstein“ in Berlin-Steglitz (eine mit Spiegeln verkleidete Gedenkwand erinnert dort an die frühere Synagoge und an die Deportation der Berliner Juden). Der Architekt interessiert sich vor allem für Aspekte der Alltagsgeschichte – wie es der Schriftsteller Victor Klemperer in seinen Tagebüchern exemplarisch getan hat („Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten“).
Eine halbe Mio. Menschen besuchen jährlich die Gedenkstätte „Berliner Mauer“
Von 1996-98 koordinierte Schlusche den Wettbewerb für das (zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz gelegene) Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Und bis 2005 war er dann auch für Planung und Bau des Entwurfs von Peter Eisenmann verantwortlich. Beide Gedenkstätten stellen einen Kurator allerdings vor ganz unterschiedliche Herausforderungen. „An der Bernauer Straße setzen wir uns, anders als bei der Nazi-Historie, mit einem Teil der Geschichte auseinander, der erst 22 Jahre vorbei ist. Der Boden ist also noch heiß.“ Einfühlungsvermögen ist gefragt: Die Gedenkstätte in eine eng bebaute Nachbarschaft integrieren, in der Anwohner auf beiden Teilen der Mauer ganz unterschiedliche Sichtweisen hatten und haben, mit denen sie sich identifizieren.
Nach der Wiedervereinigung dauerte es immerhin 15 Jahre, bis man sich überhaupt für das kollektive Erinnern an die Mauer entschloss. Inzwischen wächst das internationale Interesse: Eine halbe Mio. Besucher zählt die Gedenkstätte pro Jahr, Tendenz steigend. „Nirgendwo sonst hat sich die Weltgeschichte so dramatisch und absurd im täglichen Leben zugespitzt wie hier an der Berliner Mauer“, sagt Schlusche. So inspirierte die Mauer einst US-Präsidenten zu weltpolitischen Reden über die Freiheit. Günter Schlusche dagegen beleuchtet heute die Mauerreste auch von einer ganz profanen Seite: Es geht darum, wie brüchig der Stahl ist und wie rostig die Armierungen. Und wie das Denkmal gegen Kipprisiko mit Bodenankern gesichert werden kann.
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