Spektakuläre Bibliothek in China: Im weißen Meer der Bücher
Sie ist wie eine Kathedrale des Buches: Wie eine Landschaft mit Terrassen voller Bücher schwingen sich die Regale bis hinauf zur Decke. Von außen lässt ein „Auge“ den Blick ins Innere schwingen, auf eine große Kugel im Zentrum der weißen Pracht. Niederländische Architekten haben im chinesischen Tianjin eine Bibliothek entworfen, die einen schieren Besucheransturm auslöst.
Es ist doch eine gute Nachricht, dass im Zeitalter von Kindle und E-Books noch immer neue Bibliotheken gebaut werden und dass sich kreative Architekten und Stadtplaner Besonderes einfallen lassen, um dem traditionellen Buch aus Papier eine würdige Unterkunft zu bieten. Das jüngste Beispiel in der Reihe sehenswerter Bibliotheken steht im chinesischen Binhai, einem Industrievorort der Hafenstadt Tianjin, gut 100 Kilometer südöstlich von Peking. Die Bibliothek hat Platz für 1,2 Millionen Bücher. Zum Vergleich: Das ist genau so viel wie in der vor wenigen Jahren neu gebauten Stadtbibliothek in Stuttgart.
Kugel-Auditorium ist Pupille im Auge der Bibliothek
Der Entwurf für das Gebäude, das Teil des neuen Binhai Kulturzentrums mit fünf Gebäuden wird, kam vom Rotterdamer Architekturbüro MVRDV. Die drei Inhaber Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries gehören zu den erfolgreichsten niederländischen Architekten und haben bereits in China und auch in Tianjin gebaut.
Allerdings noch nie so schnell. Zwischen den ersten Entwürfen und dem fertigen Bibliotheksneubau lagen nur drei Jahre – für die Holländer eine Rekordzeit. Beteiligt waren außerdem Stadtplaner vor Ort, ein Design-Institut, Inneneinrichter, Lichtplaner und ein Unternehmen, das auf Stahldesign spezialisiert ist.
„Das Innere der Bibliothek mit seinen fortlaufenden Regalen ist fast wie eine Höhle“, sagt Winy Maas. Das Volumen des Gebäudes sei vorgegeben gewesen, ebenso wie ein Auditorium, erzählt der Architekt. „Also haben wir das runde Auditorium einfach in das Gebäude ‚gerollt‘ und dafür Platz gemacht.“ Diese Kugel liegt nun also, weiß und lichtdurchflutet, im Zentrum der Gebäudehülle. Die Grundfläche der Bibliothek beträgt 33.700 qm.
110 Personen kann das Auditorium bei Veranstaltungen aufnehmen und signalisiert damit auch, dass eine moderne Bibliothek nicht nur Bücher und andere Medien anbietet, sondern eine wichtige Funktion als Kulturzentrum erfüllt. Von außen erscheint der Ball, hinter der ellipsenförmigen Aussparung in der Glasfassade, wie eine Pupille. In der Bevölkerung heißt die Bibliothek deshalb nur noch „das Auge“.
Die Regale sind zugleich Wegenetz und Sitzplatz
Rund um das Auditorium schwingen sich die Bücherregale terrassenförmig nach oben, bis unter die Decke der Bibliothek. Aber hier sind Regale nicht nur Orte, wo man Bücher aufstellt. Ähnlich wie in einem Stadion haben die Architekten die Regalböden auch als Wegenetz konstruiert, auf dem man sich bei Bedarf und direkt neben den Büchern setzen kann. „Wir haben das Gebäude geöffnet und innen einen urbanen Ort geschaffen“, sagt Winy Maas. „Die Bücherregale sind großartig zum Sitzen und sie erschließen zugleich die oberen Etagen. Die verschiedenen Blickwinkel und geschwungenen Formen sollen dazu anregen, sich zu begegnen, zu diskutieren, zu lesen, zu sitzen oder zu gehen.“
In den insgesamt fünf oberirdischen Etagen umfasst die Bibliothek hinter den Regalwänden außerdem Lesesäle, Lounge-Bereiche, Konferenzräume und Büros. Auf dem Dach haben die Besucher auch im Freien Rückzugsmöglichkeiten und können zwischen zwei Terrassen wählen. In einer unterirdischen Ebene sind Lagerräume für Bücher untergebracht und außerdem ein großes Archiv sowie ein Veranstaltungsraum.
Wie kommt man an die Bücher ganz oben? Gar nicht.
Wer sich beim Anblick der Regalterrassen, die bis hinauf zur gewölbeartigen Decke reichen, nun aber fragt, wie er an ein Buch kommen soll, das dort hoch oben steht, hat den Schwachpunkt in der Konstruktion entdeckt. Den Zugang zu diesen Büchern gibt es nicht, jedenfalls noch nicht. Die Architekten hatten geplant, diese Regalreihen über dahinter liegende Räume zu erschließen.
Der Plan wurde aber, so schreibt MVRDV auf der Projektseite, von den Verantwortlichen vor Ort und gegen den ausdrücklichen Rat der Architekten, nicht umgesetzt. Die Einhaltung des engen Zeitplans sei offenbar wichtiger gewesen, bedauert das Architekturbüro. Sie hoffen darauf, dass ihre ursprüngliche Vision der Bibliothek eines Tages doch noch umgesetzt wird. Bis dahin müssen wohl die bedruckten Aluminium-Platten, die Buchrücken imitieren, die Stellung halten.
Die Touristen hält das offenbar nicht von einem Besuch ab. Die Bibliothek wurde Anfang Oktober dieses Jahres eröffnet und hatte in der ersten Woche rund 10.000 Besucher täglich. An manchen Wochenenden tummeln sich 18.000 Menschen im „Auge“.
Ebenfalls ein spektakuläres Gebäude für die Kultur ist der neue Louvre Abu Dhabi. Über dieses fantastische Museum lesen Sie hier.
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