Interview 24.11.2023, 11:00 Uhr

Robotik und Medizin: Sensorgesteuerter ExoRobot noac macht ermüdungsfreie Operationen möglich

Mutter und Unternehmerin Sabrina Hellstern erkannte als Vertriebsmitarbeiterin für Medizinprodukte das Problem: Rückenbeschwerden bei Chirurg*innen, die oft zu schmerzlindernden Medikamenten griffen, was viele letztlich aus dem Beruf drängte. In nur 15 Monaten entwickelte sie mit einem Team von Ingenieuren den noac – einen sensorgesteuerten ExoRobot für ermüdungsfreie Operationen, über den sie in einem Interview mit ingenieur.de spricht.

Gründerinnen: Sabrina Hellstern und Claudia Sodha.

Gründerinnen: Sabrina Hellstern und Claudia Sodha.

Foto: Christof Mattes

Frau Hellstern, wie kamen Sie auf die Idee, einen sensorgesteuerten ExoRobot für chirurgische Eingriffe zu entwickeln? Gab es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis oder eine Herausforderung, die Sie dazu inspiriert hat?

Die Motivation zur Entwicklung von noac hat sich aus einem wirklichen Need heraus ergeben, mit dem ich im Rahmen meiner Arbeit im medizinischen Vertrieb immer wieder konfrontiert wurde. Hier bin ich regelmäßig im Kontakt mit Chriurg*innen, die wirklich sehr frustriert über ihre aktuelle Situation sind. Sie operieren täglich mehrere Stunden, teilweise am Stück, und leiden hierbei körperlich. Während der stundenlangen Operationen müssen sie unnatürliche Körperhaltungen einnehmen, die einerseits zu Muskelermüdung und einem Leistungsabfall über den Tag hinweg führen. Das ist nicht nur während der Operation problematisch, sondern hält auch langfristige Negativfolgen bereit: Es entstehen häufig Muskel- und Skeletterkrankungen und 40 Prozent der Operierenden nehmen regelmäßig Schmerzmittel, um weiter ihre Arbeit leisten zu können.

Es ist tragisch zu sehen, wie wir in einem so wichtigen Markt, der durchaus technologisiert ist, teilweise noch Verhältnisse sehen, wie sie vor 150 Jahren Standard waren. Das schadet nicht nur den wichtigen Fachkräften, die Leben retten sollen, sondern auch direkt den Patient*innen. Durch die abnehmende Leistung steigt die Gefahr von Behandlungsfehlern, die direkt auf Kosten der Patienten gehen. Aber auch Kliniken haben mit den Auswirkungen davon zu kämpfen: Hohe Kosten durch Behandlungsfehler, hohe Kosten durch den Ausfall ohnehin schon knapper Fachkräfte sowie rechtliche Schwierigkeiten. Denn eigentlich haben Chirurg*innen laut Arbeitsschutzgesetz Anspruch auf eine ergonomische Arbeitsumgebung. Zusammenfassend lässt sich sagen: Unsere Motivation, Mission und unser Antrieb ist es, Menschenleben zu retten. Dafür möchten wir alles gegeben haben und es schaffen, wirklich etwas zu verändern.

Crossover Studie der Neurologie und Arbeitsmedizin

Können Sie uns mehr darüber erzählen, wie der Entwicklungsprozess von noac ablief? Welche Herausforderungen gab es dabei und wie haben Sie diese gemeistert?

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Wir sind komplett gebootstrapped gestartet und haben dennoch von Beginn an Wert darauf gelegt, auch als Startup so effizient und zielgerichtet zu arbeiten wie der professionelle Mittelstand. Innerhalb von 24 Monaten haben wir ein völlig neuartiges Produkt mit Zulassung als Medizinprodukt entwickelt. Es folgten erste Wirksamkeitsnachweise im Rahmen einer randomisierten Crossover Studie der Neurologie und Arbeitsmedizin an der Universitätsklinik in Tübingen. Auch die Patentanmeldung war ein wichtiger strategischer Schritt. 4 Patente sind bereits erteilt und 32 weitere, eigenständige Patente sind schon bestätigt und in der Erteilung. Wir erhielten eine Pre-Seed Finanzierung, mit der wir 3,2 Millionen Euro einsammeln, die Marke noac eintragen konnten und Anfang 2021 dann das Patent auf das Herzstück von noac erhielten.

Bei Medizinprodukten gibt es natürlich noch weitere wichtige Schritte, wie beispielsweise der First Human Trial, den wir wieder an der Universitätsklinik in Tübingen durchgeführt haben. Fast noch essenzieller war allerdings die erfolgreiche Zertifizierung als Medizinprodukt. Die europäische Medizinprodukte-Verordnung hat uns vor eine unserer größten Herausforderungen gestellt. Hier gibt es wirklich hohe Hürden, die man selbst in den niedrigen Risikoklassen erfüllen muss – das kostet natürlich Zeit und finanzielle Ressourcen. Seit 2023 haben wir nun aber die Zertifizierung. Jetzt geht es darum, noac in D-A-CH groß zu machen und dann in die USA zu expandieren. Interesse gibt es auch schon aus den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Inwiefern trägt noac dazu bei, die Arbeitsbedingungen für Chirurg:innen zu verbessern? Welche konkreten Probleme im Bereich der Rückenprobleme und Schmerzmittelabhängigkeit konnte noac bisher lösen oder mildern?

noac löst eines der größten Probleme in Operationen. Während der teilweise stundenlangen OPs stehen Chirurgen*innen in sehr unnatürlichen und gesundheitsschädigenden Zwangshaltungen und ihre Muskeln ermüden mit jeder Stunde mehr. Als langfristige Folge leiden 75 Prozent der Operierenden unter Muskel- und Skeletterkrankungen und ihre Leistung nimmt direkt in der jeweiligen Operation und über den langen Tag in der Klinik kontinuierlich ab. Das ist so ein großes Problem, weil es nicht nur Chirurg*innen betrifft, sondern sich auch direkt auf die Patient*innen auswirkt. Je stärker die Muskeln über den Tag ermüden, desto mehr nimmt die chirurgische Präzision ab – das begünstigt Behandlungsfehler, die Patient*innen auch nachhaltig schädigen können. Der Exo-Robot entlastet die Beinmuskulatur und den Oberkörper um bis zu 100%, folgt Chirurg*innen in jede gewünschte Position und verringert damit Schmerzen und körperliche Ermüdung während der OP. So macht noac OPs für Patient*innen und Operierende gleichermaßen sicherer.

Neue Freiheit im OP

Welche Rolle spielt die Technologie hinter noac bei der Hybridchirurgie, und wie hat sich diese innovative Verknüpfung von Mensch und Maschine in der Praxis bewährt?

Bei einer Operation mit noac werden Beine und Oberkörper bis zu 100% entlastet. Die automatische Steuerung folgt der Körperbewegung und ist handsfree. Das bedeutet, dass zu keinem Zeitpunkt sterile Instrumente aus der Hand gelegt werden müssen. Das Haltesystem von noac haben wir patentieren lassen. Für den Operierenden fühlt es sich an, als würde er bequem und aufrecht auf einem Stuhl sitzen – obwohl er gerade in verdrehter Haltung über dem Patienten arbeitet. noac ist die neue Freiheit im OP und startet die neue Ära der Hybridchirurgie.

In der Praxis hat sich die Verknüpfung von Mensch und Maschine durch noac bewährt, indem sie die Ergonomie während chirurgischer Eingriffe erheblich verbessert. Chirurgen können effizienter arbeiten, da sie weniger von körperlichen Beschwerden beeinträchtigt werden. Dies trägt nicht nur zur Gesundheit und Arbeitszufriedenheit der Chirurgen bei, sondern minimiert auch das Risiko von Behandlungsfehlern und erhöht die Patientensicherheit insgesamt.

Wie flexibel ist der noac in Bezug auf unterschiedliche Körpermaße und chirurgische Positionen? Wie stellt sich das Gerät auf die individuellen Bedürfnisse der Chirurg*innen ein?

noac ist darauf ausgelegt, sich sensorgesteuert an unterschiedliche Körpermaße und chirurgische Positionen anzupassen, um den individuellen Bedürfnissen der Chirurgen gerecht zu werden. Außerdem deckt noac 95 Prozent der offen chirurgisch und minimal-invasiven OP-Situationen ab und ist damit maximal flexibel einsetzbar.

Wie beurteilen Sie den aktuellen Trend zu robotergestützter Chirurgie, und inwiefern sehen Sie noac in diesem Kontext als wegweisende Innovation?

Der Trend geht in Richtung robotergestützte Chirurgie, hier sind wir aber noch lange nicht so weit, das volle Potenzial zu nutzen – größtenteils sind Operationen noch wirkliche Handarbeit. Hochtechnologische Ansätze wie Robotik stehen auf den Wunschlisten vieler Kliniken, in der Realität können OP-Roboter nur in 5 Prozent der OP-Settings eingesetzt werden. Viele der bestehenden Lösungen sind zudem eher Instrumentensteuerungssysteme als wirkliche Robotik-Lösungen. Für Kliniken ist die Implementierung solcher Innovationen aus verschiedenen Gründen mit Hürden verbunden: Teilweise bemühen sich Anbieter erst noch um eine Zulassung als Medizinprodukt, andere sind mit hohen Anschaffungskosten und laufenden Kosten verbunden oder haben einen begrenzten Einsatzbereich. Mit noac bieten wir eine echte Lösung, die bereits als Medizinprodukt zertifiziert, in ersten Kliniken erfolgreich im Einsatz ist und sich für Kliniken auch finanziell schnell amortisiert. Darüber hinaus bietet sie vor allem den Chirurg:innen und Patient*innen mehr Sicherheit. Ein mit noac vergleichbares Produkt gibt es weltweit nicht.

Welche konkreten OP-Situationen kann noac abdecken, und gibt es spezielle medizinische Fachbereiche, in denen das Gerät besonders effektiv ist?

noac ist ein Surgeon Support System und wurde explizit für den multidisziplinären OP-Einsatz entwickelt: Er deckt 95 Prozent der OP-Situationen ab. Die meisten abdominalen oder thorakalen Eingriffe im Stehen, aber auch Laparoskopien oder Wirbelsäulenchirurgie erfordern ein deutliches Vorbeugen vom Chirurgen über den Situs, um eine gerade Sicht auf die Pathologie oder den operativen Zugang zu haben, häufig in Verbindung mit einer Verdrehung zur Seite. Genau hier ist noac besonders effektiv.

Chirurgie in das 21. Jahrhundert holen

Können Sie uns Einblicke in zukünftige Entwicklungen oder Anwendungen von noac geben? Wie sehen Sie die Zukunft der robotergestützten Chirurgie und den Beitrag, den Ihr Produkt dazu leisten kann?

noac wurde nicht nur gemeinsam mit Chirurg*innen entwickelt, wir arbeiten auch aktuell im kontinuierlichen Austausch mit den Anwender*innen und stehen dazu mehrmals in der Woche auch selbst im OP. So gewährleisten wir, wirklich jedes Detail für die weitere Entwicklung von noac in Zukunft mit einbeziehen zu können. Unser Ziel ist es, die Chirurgie in das 21. Jahrhundert zu holen und allen Kliniken die Möglichkeit zu geben, mit der aktuellsten State-of-the Art Technologie zu operieren. Denn exorobotisch-assistierte Chirurgie kann nicht nur das Leben von Patient*innen retten und Behandlungsfehler maßgeblich reduzieren, sondern auch gesundheitliche Folgeschäden und damit ein frühzeitiges Berufsaus für Operierende verhindern. Hier herrscht aktuell wirklich ein großes Problem, für das wir gemeinsam mit den Betroffenen eine Lösung entwickelt haben. 4 Patente sind bereits erteilt und 32 weitere, eigenständige Patente sind bestätigt und in der Erteilung. Mit dieser komplett neu entwickelten Technologie wollen wir endlich das Potenzial der technologischen Entwicklung auch zielgerichtet an den OP-Tisch bringen.

Ist noac ausschließlich für Chirurg*innen konzipiert, oder können auch andere medizinische Fachkräfte von diesem sensorgesteuerten ExoRobot profitieren? Wie sieht die Anpassungsfähigkeit des Geräts hinsichtlich verschiedener medizinischer Disziplinen aus?

Der Exorobot noac ist für Operateure aller Fachdisziplinen entwickelt worden. Er deckt 95 Prozent der Op-Settings ab – offen chirurgisch wie minimal-invasiv.

Wie war die Zusammenarbeit mit dem Team aus Ingenieuren und Maschinenbauern während der Entwicklung von noac? Welche entscheidende Rolle spielten ihre Fachkenntnisse bei der Realisierung dieses sensorgesteuerten ExoRobots für die medizinische Anwendung?

Die Zusammenarbeit in einem Team, das Expertise aus unterschiedlichen Fachrichtungen mit eingebracht hat, war für die Entwicklung von noac absolut essenziell. Außerdem haben alle von Beginn an an einer gemeinsamen Vision partizipiert, an das Produkt und vor allem den Impact geglaubt. Unser erster Anlaufpunkt für die medizinischen Details waren hierbei natürlich unsere Experten aus dem OP: Dazu zählt Martin Schuhmann, Prof. Dr. Neurochirugie und leitender Oberarzt. Auch Felix Neunhöffer, PD Dr. Kinderintensivmediziner, Kardiologe und Oberarzt hat seine Expertise mit eingebracht. Neben den beiden Ärzten aus unserem Team brachten auch Chirurgen der verschiedensten Fachdisziplinen und Kliniken ihre Anforderungen ein, ich und meine Kollegin Claudia Sodha setzten die Anforderungen im OP in die Spezifikationen um. noac wurde auf Grund des Needs seitens der Chirurgie entwickelt, daher stand von Anfang an außer Frage, dass wir genau diese Anwender für die Entwicklung von noac benötigen, um ein Produkt realisieren zu können, dass genau deren Bedürfnisse gerecht wird. Um unser Ziel zu erreichen, war es natürlich notwendig, dass alle Experten in engem Maße zusammenarbeiten, sich absprechen und vor allem die jeweiligen Herausforderungen und Bedürfnisse aus den unterschiedlichen Disziplinen verstehen. Alle Prototypenstände wurden an universitären Kliniken getestet.

Ein Beitrag von:

  • Alexandra Ilina

    Redakteurin beim VDI-Verlag. Nach einem Journalistik-Studium an der TU-Dortmund und Volontariat ist sie seit mehreren Jahren als Social Media Managerin, Redakteurin und Buchautorin unterwegs.  Sie schreibt über Karriere und Technik.

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