Leben im Untergrund 14.12.2024, 21:14 Uhr

Rätsel Derinkuyu: Eine unterirdische Stadt für 20.000 Menschen

Tauchen Sie ein in die Geschichte von Derinkuyu, der größten unterirdischen Stadt der Welt. Wie konnten die Menschen in der Antike solch ein durchdachtes Bauwerk errichten?

Derinkuyu

In der unterirdischen Stadt lebten einst bis zu 20.000 Menschen. Heute kann die Stadt im Untergrund besichtigt werden.

Foto: PantherMedia / natamc

Tief unter den Felsformationen Kappadokiens in der Türkei verbirgt sich ein architektonisches Wunderwerk: Die unterirdische Stadt Derinkuyu, eine jahrtausendealte Zivilisation, die bis zu 20.000 Menschen Unterschlupf bot. Mit ihren 18 Ebenen, die bis zu 85 Meter in die Tiefe reichen, ist sie die größte entdeckte unterirdische Stadt der Welt. Wir blicken auf dieses komplexe Netzwerk aus Tunneln, Wohnräumen und Lagern.

Die verborgene Welt unter Kappadokien

Die Region Kappadokien ist weltweit für ihre surrealen Felsformationen bekannt. Feenkamine und vulkanische Türmchen prägen die Landschaft, die seit Jahrhunderten Besucher und Abenteurer fasziniert. Doch diese oberirdische Schönheit ist nur die halbe Wahrheit. Unter der zerklüfteten Oberfläche erstreckt sich ein unsichtbares Labyrinth, das einst Zuflucht und Heimat für ganze Bevölkerungsgruppen war.

Die Vulkane Erciyes Dağı südlich von Kayseri, Hasan Dağı südöstlich von Aksaray, Melendiz Dağı nahe Niğde sowie einige kleinere Vulkane bedeckten die Region Kappadokien über einen Zeitraum von etwa 10 Millionen Jahren bis in die Frühgeschichte mit Tuffstein. Durch Erosion entstanden aus dieser Schicht die charakteristischen Gesteinsformationen, für die die Gegend bekannt ist.  Im Tuffstein verborgen sind zahlreiche Gänge und riesige Städte – eine der bekanntesten ist Derinkuyu. Die Stadt wurde über Jahrtausende hinweg genutzt und mehrfach erweitert.

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Kappadokien

Blick in die raue Landschaft von Kappadokien, die von zahlreichen Gängen und ganzen unterirdischen Städten durchlöchert ist.

Foto: PantherMedia / DovidPro (YAYMicro)

Zufällige Wiederentdeckung

Die moderne Welt hatte Derinkuyu lange vergessen, bis ein kurioser Vorfall im Jahr 1963 das Geheimnis dieser Stadt erneut ans Licht brachte. Ein Einheimischer verlor immer wieder seine Hühner, die spurlos verschwanden. Bei Renovierungsarbeiten in seinem Haus entdeckte er eine Spalte im Boden. Diese führte zu einem dunklen Tunnel – der Eingang zu einem riesigen unterirdischen Netzwerk.

Die daraufhin gestarteten Ausgrabungen legten eine ganze Welt unter der Erde frei. Mehr als 600 Eingänge, viele davon in Privathäusern, wurden gefunden. Dahinter verbargen sich Wohnräume, Vorratskammern, Viehställe, Weinkeller, Schulen und eine Kapelle. Diese unterirdische Zivilisation hatte eine beeindruckende Infrastruktur, die das Überleben ihrer Bewohner ermöglichte.

Die oberen Etagen dienten überwiegend als Ställe und Lagerräume, in denen eine konstante Temperatur von etwa zehn Grad Celsius herrschte. In die Felswände waren Vorratsbehälter für verschiedene Lebensmittel eingearbeitet, ebenso wie Vertiefungen für Gefäße zur Lagerung von Flüssigkeiten. In den tiefer gelegenen Ebenen befanden sich Wohn- und Wirtschaftsräume, wobei Möbel wie Sitzbänke, Tische und Schlafstätten direkt aus dem Fels gehauen waren.

Bauweise und Ursprung

Derinkuyu ist nicht nur ein architektonisches Meisterwerk, sondern auch ein Beispiel für die geschickte Nutzung lokaler Gegebenheiten. Die Region Kappadokien besteht aus Tuffgestein, einem weichen, vulkanischen Material, das sich leicht bearbeiten lässt. Andrea De Giorgi, Professor für klassische Studien an der Florida State University, erklärt: „Die Geomorphologie der Region begünstigt das Ausheben unterirdischer Räume.“ Mit einfachen Werkzeugen wie Schaufeln und Spitzhacken konnten die Erbauer die Stadt errichten.

Doch wer genau Derinkuyu gebaut hat, bleibt ein Rätsel. Viele Forschende schreiben die ersten Ebenen den Hethitern zu, die um 1200 v. Chr. in der Region lebten. Sie nutzten die unterirdischen Strukturen vermutlich als Schutz vor Angreifern. Spätere Erweiterungen werden den Phrygern zugeschrieben, die für ihre fortschrittlichen Baukünste bekannt waren. Diese Meister der Eisenzeit entwickelten ausgeklügelte unterirdische Systeme, die als Vorbild für viele andere Anlagen dienten.

Derinkuyu

Die einzelnen Räume sind mit langen Gängen verbunden, es soll sogar unterirdische Verbindungen zu anderen Städten geben.

Foto: PantherMedia / igor_stramyk (YAYMicro)

Eine Festung unter der Erde

Die Hauptfunktion von Derinkuyu war der Schutz vor Bedrohungen. In einer Region, die immer wieder von Invasionen heimgesucht wurde, bot die Stadt ihren Bewohnern Sicherheit. Die engen, niedrigen Gänge waren strategisch geplant. Eindringlinge mussten sich gebückt bewegen und waren so in einer ungünstigen Position.

Die unterirdische Stadt konnte durch sogenannte „Rollsteintüren“ verschlossen werden, die optisch Mühlsteinen ähneln. Bei Gefahr wurden sie von innen vor die Eingänge gerollt und bildeten ein nahezu unüberwindbares Hindernis von außen. Kleine Löcher in diesen Türen erlaubten es den Verteidigern, Angreifer zu beobachten oder anzugreifen, ohne selbst in Gefahr zu geraten.

Leben in der Tiefe

Das Leben in Derinkuyu war sicherlich einfach, aber gut organisiert. Es gab Lagerräume für Trockenfutter und Brunnen für die Wasserversorgung. Ein ausgeklügeltes Belüftungssystem sorgte dafür, dass selbst die tiefsten Ebenen mit frischer Luft versorgt wurden. Die Bewohner konnten monatelang unter der Erde bleiben, ohne die Oberfläche betreten zu müssen.

Aus der ersten unterirdischen Ebene sollen über 15.000 Schächte nach oben geführt haben. In den tiefer gelegenen Etagen sind es zwar weniger, doch die Luftzirkulation funktioniert bis heute bis in das achte Stockwerk hinab. Die Schächte, mit einer Tiefe von 70 bis 85 Metern, dienten nicht nur der Belüftung, sondern auch dem Wassertransport. Bis kurz vor der Entdeckung schöpfte die Bevölkerung von Derinkuyu ihr Wasser aus diesen Brunnen, ohne die Existenz des darunterliegenden Höhlensystems zu ahnen.

Auch soziale Strukturen wurden aufrechterhalten. Es gab Schulen für Kinder und religiöse Stätten für Gebete und Zeremonien.  Verschiedene Räume auf unterschiedlichen Stockwerken dienten vermutlich als Kirchen. Dazu zählt auch die sogenannte „Kleeblatt-Kirche“ im siebten Stockwerk, die kreuzförmig angelegt ist. Ihre Abmessungen betragen 25 Meter in der Länge, zehn Meter in der Breite und drei Meter in der Höhe.

Nutzung durch die Jahrhunderte

Derinkuyu wurde über Jahrtausende hinweg genutzt und immer wieder an die Bedürfnisse der jeweiligen Bewohner angepasst. Während der byzantinischen Ära erreichte die Stadt ihre größte Bevölkerung. Bis zu 20.000 Menschen lebten zeitweise gleichzeitig in den unterirdischen Räumen. Besonders in Zeiten religiöser Verfolgung und kriegerischer Konflikte bot die Stadt einen sicheren Zufluchtsort.

Im 20. Jahrhundert wurde Derinkuyu schließlich verlassen. Die kappadokischen Griechen, die die Stadt noch nutzten, flohen während des griechisch-türkischen Krieges nach Griechenland. Zurück blieb ein faszinierendes Zeugnis vergangener Zivilisationen.

Derinkuyu heute

Heute ist Derinkuyu eine der Hauptattraktionen in Kappadokien. Für einen kleinen Eintrittspreis können Besucher die engen Gänge und beeindruckenden Räume erkunden. Die schwarzen Rußspuren an den Wänden zeugen von den zahllosen Fackeln, die einst die Dunkelheit erhellten.

In ganz Kappadokien sind fast 40 unterirdische Städte bekannt, von denen allerdings nur ein kleiner Teil der Öffentlichkeit zugängig gemacht wurde. Weitere bisher unentdeckte Städte werden vermutet. Sie sollen ursprünglich durch kilometerlange Gänge untereinander verbunden gewesen sein, allerdings konnte noch keiner dieser Gänge nachgewiesen werden. Möglicherweise ist im Tuffstein eine noch größere Stadt als Derinkuy mit dem Namen Özkonak verborgen. Forschende vermuten 19 Stockwerke und Platz für 60.000 Einwohner.

 

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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