Bau 25.05.2001, 17:29 Uhr

Schiefer Turm gerettet

Mehr als zehn Jahre haben die technischen Vorkehrungen zur Stabilisierung des Schiefen Turms von Pisa in Anspruch genommen. Dank der vor allem mit italienischem Know-how gelungenen Sanierung wird das Wahrzeichen der mittelalterlichen Stadt jetzt wieder dem Publikum übergeben.

Niemand möchte ihn ins rechte Lot bringen, den Schiefen Turm von Pisa. Kopflastig in Südrichtung tendierend, so wollen ihn die jährlich aus aller Welt anreisenden Touristen wie gewohnt bestaunen. „Pendente“ und die Synonyme aus anderen hundert Sprachen bilden denn auch den Dauerton, der aus dem alltäglichen Stimmengewirr auf dem Campo dei Miracoli herauszuhören ist. Der direkte Zugang zu dem 1173 begonnenen und auch wegen seiner charakteristischen Bogengänge bekannten Bauwerk bleibt dem Besucher seit Januar 1990 verwehrt. Zu diesem Zeitpunkt bewegte sich der 14 453 t schwere und bis zu 55,65 m hohe Torre di Pisa (nur 54,8 m beträgt die Turmhöhe an der niedrigsten Oberkante) den Gesetzen der Schwerkraft folgend um 1 mm pro Jahr.
So verstellten lange Zeit Maschendrähte und Baumaschinen das Blickfeld. „Hält er, oder fällt er“? , fragte sich die internationale Besucherschar alltäglich. Hellhörig geworden war Ende der 80er Jahre auch die italienische Regierung, als ein mittelalterlicher Kirchturm in Pavia ohne Vorwarnung kollabierte. Um dem von dem Bildhauer und Architekten Bonanno Pisano entworfenen Bauwerk das gleiche Schicksal zu ersparen, wurde 1990 ein entsprechendes Finanzierungsgesetz verabschiedet und ein interdisziplinärer Ausschuss unter der Führung von Prof. Michele Jamiolkowski (Universität Turin) zur Rettung des Schiefen Turms ins Leben gerufen.
Schief war der Turm nahezu schon immer, denn bereits ein Jahrhundert nach dem Baubeginn war infolge der ungünstigen Bodenverhältnisse eine Seitenneigung von 1,35 Grad entstanden. Bis zu seiner Fertigstellung (im Jahre 1370 wurde über dem siebten Stockwerk eine Glockenhaube hinzugefügt) unter dem Architekten Andrea Pisano hatten die Arbeiten wegen der auftretenden Rotations- und Kippbewegungen mehrmals unterbrochen werden müssen. Schuld daran ist die starke Verformbarkeit des Bodens, der aus einer 10 m dicken Oberschicht aus Sand und Lehm sowie einer 30 m dicken wasserführenden Unterschicht aus feinkörnigem Ton besteht. Diese Konstellation hat zu einer Vertiefung in Form einer Mulde und einer ausgeprägten Kantenpressung an der Südseite geführt.
Die stärkste Neigung hatte der Schiefe Turm im Jahre 1993 erreicht, als mehr als 5 Grad gemessen wurden. Indes: „Umkippen wird der am Fundament 19,6 m breite Koloss mit Sicherheit nicht,“ so jetzt Baustellenleiter Paolo Heiniger am stabilisierten Baudenkmal. Der gebürtige Italiener schweizerischer Vorfahren: „Dank der in den letzten Jahren getroffenen Maßnahmen hat der Turm ein stabiles Gleichgewicht erreicht.“ Die Gefahr eines Umkippens oder eines strukturellen Zusammenbruchs bestehe nicht mehr. Anlass für diese Zuversicht bietet zunächst einmal die Tatsache, dass man die auf der Nordseite angebrachten Bleigewichte von mehr als 850 t bereits vor einigen Monaten entfernt hat. Als sichtbarer Eingriff blieben bis eine Woche nach Ostern zwei in gleicher Richtung gespannte Drahtseile, die jedoch keine Stützfunktion, sondern lediglich Sicherungsaufgaben wahrnahmen. Zunächst noch verbleiben werden die einer riesigen Panflöte ähnelnden 41 Rohrfassungen, die im 20-Grad -Winkel bis in 4,5 m Tiefe unter die Fundamente führen und über einen speziell angefertigten Schneckenbohrer in regelmäßigen Abständen lehmiges Erdreich ans Tageslicht befördern. Sie bilden das Herzstück der am Schiefen Turm angewandten Arbeitsmethode.
Die Idee der „kontrollierten Subsidenz“ stammt aus den sechziger Jahren und trägt die Unterschrift des italienischen Bauingenieurs F. Terracina. Um den gefährlichen Überhang des Bauwerkes zu reduzieren, wurde das Fundament auf der Gegenseite der theoretischen Fallinie schrittweise untergraben und damit Hohlraum (ausgehoben wurden 37 m3 Erdreich) für die gewünschte Gegenreaktion geschaffen. Weiterentwickelt wurde das Konzept im Laufe der Jahre von mexikanischen Ingenieuren, die ein ähnliches Problem an einer Kathedrale in Mexico City zu lösen hatten.
Um ein gesteuertes Rückführen des Schiefen Turms von Pisa in Nordrichtung zu erreichen, wurde mit Bohrreichweiten von 18 m bis 20 m Länge gearbeitet. Ihre bewusst halbkreisförmig an den Turmradius angepasste Länge (Heiniger: „Sie endet auf halber Strecke zwischen Turmmitte und Außenmauer“) und die gleichmäßig alternierende Bohrfrequenz haben den gewünschten Erfolg gebracht. Die Lotabweichung am Turmboden hat sich von 4,47 m auf 4,12 m verringert und der untere Rundgang (Catino) auf der Nordseite um mehr als 9 cm gesenkt. Paolo Henniger Anfang des Jahres: “ Wir sind unserer Zielgröße von 10% Neigungsverringerung so signifikant näher gekommen, dass wir uns bereits mit dem heutigen Stand begnügen könnten“.
Um die Gefahr eines strukturellen Zusammenbruchs einzudämmen, wurde der Turm auf zwei Stockwerken mit 15 mm dicken, kunststoffummantelten Stahlseilen umspannt. Das Metallkorsett ist inzwischen durch 4 mm dicke, optisch weniger auffällige Stahlbänder ersetzt worden. Als problematisch erwies sich vor allem die Zusammensetzung des Hohlzylinders, dessen aus Marmorstein gefertigtes Mauerwerk aus einer 20 cm dicken Innenwand und einer 30 cm dicken Außenwand besteht. Die Zwischenräume wurden von den Erbauern mit Materialien unterschiedlicher Herkunft und Konsistenz (Steinsplitt, Mörtel, Kiesel, Erdreich und Bauabfälle) aufgefüllt und mussten deshalb durch Injektion mit einer Zementmischung gefestigt werden. Außerdem mussten infolge des Kompressionsdrucks zersplitterte Mauerteile ersetzt werden.
Die erzielten Erfolge geben dem Baukonsortium „Consorzio Progetto Torre di Pisa“ und den am Sanierungsprojekt beteiligten Wissenschaftlern (über 160 Berichte und Gutachten) jedenfalls recht. Dass die bisher investierten 50 Mio. DM gut ausgebenes Geld sind, weiß auch die für den Tourismus zuständige Kommunalrätin Bianca Maria Storchi zu schätzen: „Die Schließung des Torre Pendente bedeutet für den Eigentümer (katholische Kirche) zwar einen Einnahmenausfall von 12 000 DM pro Tag. Doch trotz dieser Einschränkung sind die in der Stadt registrierten Besucherzahlen in den letzten zehn Jahren kontinuierlich gestiegen“ .
Dass das Wahrzeichen der mittelalterlichen Universitätsstadt der Welt erhalten bleibt, soll sich offiziell am 17. Juni bewahrheiten. An diesem Tag wird auch die über acht Stockwerke und 294 Stufen verlaufende Wendeltreppe dem Publikum zugänglich gemacht. Der Turm präsentiert sich in der Neigung, die er vor 300 Jahren hatte. Für wie lange ? „Mindestens weitere 300 Jahre,“ versichert Prof. Jamiolkowski. HARALD JUNG

Viele Rettungsideen

Die Alternativen

Es gab viele Ideen, den Schiefen Turm von Pisa der Nachwelt zu erhalten, so die von Prof. Giovanni Ioppolo in Rom vorgeschlagene stückweise Demontage und Wiedererrichtung an der gleichen Stelle. Dies wurde ebenso verworfen wie die vom Stuttgarter Ingenieurbüro Leonhardt, Andrä und Partner sowie die von der Gebäudehebungs GmbH aus Dortmund in die Diskussion gebrachten Alternativen (Bodenkompression mit Stahlbeton/Anhebung durch computergesteuerte Hydraulikpressen). Abgelehnt aus bauhistorischen und ästhetischen Gründen wurde zudem der Vorschlag, das oberste Stockwerk abzutragen und eine Stabilisierung durch die dadurch entstehende Schwerpunktverschiebung zu erreichen. H.J.

Die lange Geschichte des Wahrzeichens von Pisa

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Seit 1911 wird der Turm überwacht

1173 Baubeginn nach Entwurf des Bildhauers u. Architekten Bonanno Pisano.
1272 Fortsetzung unter Leitung des Architekten Giovanni Di Simone.
1370 Fertigstellung unter der Leitung des Architekten Andrea Pisano.
1838 Anlegung einer waschbeckenförmigen Rundgangs (Catino) in Sockelhöhe.
1911 Beginn einer systematischen Überwachung mit geodätischen Methoden.
1990 Schließung und Bildung eines internationalen Rettungskomitees.
1991 Beauftragung des Baukonsortiums „Consorzio Progetto Torre di Pisa“.
1992 Umspannung des Mauerwerkes mit 18 Stahlseilen auf dem 1. Stockwerk.
1993 Größter Neigungswinkels erreicht, Verstärkung des Sockels mit Stahlbeton.
1993 Graduelle Beschwerung mit Bleigewichten (100 t).
1995 Gewichtserhöhung um weitere 270 t.
1999 Exkavationsmaßnahmen an Nordseite unter Drahtseilabsicherung.
2000 Stufenweise Entfernung der Bleigewichte.
2001 Abschluss der Bohrarbeiten, Wiedereröffnung des Schiefen Turms. H.J.

 

Ein Beitrag von:

  • Harald Jung

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