Energiewirtschaft 12.06.2013, 09:49 Uhr

Chemieanlagen könnten als Stromspeicher und Puffer dienen

In Deutschland stehen elf Anlagen für die Chlor-Alkali-Elektrolyse; sie haben einen enormen Energiehunger. Bisher fährt die Chemie ihre Anlagen mit einer kontinuierlichen Auslastung. Künftig wird mehr Flexibilität auch seitens der industriellen Verbraucher nötig sein, um die Schwankungen durch den Ökostrom ausgleichen zu können. Die Preisdifferenz zwischen Spitzen- und Schwachlast ist zurzeit allerdings kein Anreiz dafür.

Im Chemiepark Merl betreibt der PVC-Hersteller Vestolit eine der größten Membranelektrolysen Europas. Solche Anlagen lassen sich kurzfristig hoch- und runterfahren und könnten damit als Energiepuffer dienen.

Im Chemiepark Merl betreibt der PVC-Hersteller Vestolit eine der größten Membranelektrolysen Europas. Solche Anlagen lassen sich kurzfristig hoch- und runterfahren und könnten damit als Energiepuffer dienen.

Foto: ChemSite

Der PVC-Hersteller Vestolit betreibt im Chemiepark Marl eine der größten Membranelektrolysen Europas: Sole wird hier zu Chlor, Natronlauge und Wasserstoff verarbeitet. Jährlicher Strombedarf: etwa 800 Mio. kWh. „Unsere Anlage ist ständig zu etwa 90 % ausgelastet“, sagt Geschäftsführer Michael Träger.

Ein typischer Fall, weiß Träger, der bis Ende 2012 auch Vorsitzender des Verbands der chlorchemischen Industrie in Europa, Euro Chlor, war. „Wir haben vor einigen Jahren mal über Demand-Side-Management (DSM) nachgedacht. Einige Wettbewerber hatten sich bereits ein bisschen mehr freie Kapazität geschaffen, um die hochpreisigen Mittagstarife zu vermeiden und in der Nacht und am Wochenende mehr zu produzieren. Aber dieses Spiel funktioniert nicht mehr: Jetzt gibt es keine Hochlastzeiten, die tagsüber teuer sind.“

Dennoch ist Flexibilisierung den Marlern eine Überlegung wert. Die öffentliche Debatte über Energiespeicher habe einen Anstoß gegeben und die Netzentgeltbefreiung für die Elektrolyse die Voraussetzung dafür geschaffen. Seit Anfang des Jahres gibt es zudem die Möglichkeit, mit dem Netzbetreiber eine Abschaltungsvergütung zu vereinbaren, wenn das Unternehmen bereit ist, bei Engpässen seine Elektrolyseure ganz oder teils vom Netz zu nehmen.

Aluminiumofen darf nur eine Stunde stillstehen

Im Zusammenschluss mit einem Aluminiumhersteller ließ Vestolit untersuchen, welchen Beitrag die stromintensiven Industriezweige zur Netzstabilität leisten können. „Die Alu- wie auch die Chemieelektrolyse sind modular aufgebaut“, sagt Träger. „In einem Modell wird zum Beispiel getestet, was passiert, wenn die Aluminiumelektrolyse zu 50 % abgeschaltet wird und unsere vier Blöcke schrittweise hinterher.“

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Nach Angaben von Träger müssten die Aluminiumhersteller eine vollständig abgeschaltete Anlage nach spätestens einer Stunde wieder hochfahren. Sonst seien die Öfen irreversibel geschädigt. „Wir jedoch könnten beliebig lange stehen“, erläutert er.

Bei Stromüberangebot dagegen könne die Chlor-Alkali-Elektrolyse mit maximaler Auslastung gefahren werden. „Nur weil wir jetzt grünen Strom haben, wird die Nachfrage nach unseren Produkten nicht steigen. Der Ansatz ist deshalb: Wir stellen nicht mehr her, sondern wir fahren die Produktion je nach Stromangebot hoch und zurück“, betont Träger. 2011 hat das Energiewirtschaftliche Institut (EWI) der Uni Köln im Vestolit-Auftrag untersucht, wie hoch das Potenzial aller deutschen Chlor-Alkali-Elektrolysen für das Demand-Side-Management insgesamt ist.

Chlor-Alkali-Elektrolyse eignet sich als Energeriepuffer

In verschiedenen Zukunftsszenarien rechnet das EWI mit einer verschiebbaren Energiemenge von etwa 5 TWh/a in der gesamten Industrie, an der die Elektrolysen 15 % bis 18 % Anteil haben. Die Erschließung sei zudem kurzfristig möglich und – im Vergleich etwa zu Pumpspeicherkraftwerken – effizienter: „Statt den Strom umzuwandeln, wird er in anderen Stunden abgerufen. So werden bis zu 0,5 TWh Umwandlungsverluste in Speicheranlagen vermieden.“

Das vorhandene Potenzial ließe sich ohne große technische Schwierigkeiten verdoppeln, führt Träger aus: Falls sein Unternehmen ein fünftes Modul und zusätzliche Tanks für die Zwischenprodukte anschafft – dann allein zum Zweck, Stromspitzen abzufangen.

Der Zubau in einem Chemiepark würde weder Umweltschützer noch Anwohner auf den Plan rufen, argumentiert er. Und im Gegensatz zum Power-to-Gas-Konzept, das gerade in diversen Pilotprojekten getestet wird, verfüge die industrielle Elektrolyse über eine bewährte Technologie und Infrastruktur.

Elektrolyse lässt sich in Sekunden abschalten und hochfahren

Bei dem hohen Strombedarf müsste der Preisunterschied Investitionsanreiz genug sein. Der sei jedoch weiter am Schrumpfen, sagt Patrick Hochloff vom Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik (Iwes). „Erst wieder um das Jahr 2020 werden wir steigende Preisdifferenzen erleben“, glaubt er.

Träger wirbt für eine politische Lösung: „Man sollte uns so behandeln wie ein Back-up-Kraftwerk. Es muss ein Kapazitätsmarkt entstehen, wo der Betreiber einer solchen Anlage dafür bezahlt wird, dass er die Anlage bereithält.“

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Eine Elektrolyse könne man bei Stromknappheit sowohl im Bruchteil von Sekunden abschalten als auch über mehrere Tage herunterregeln. Dadurch sinken die vorzuhaltende Primärregelleistung sowie der Bedarf an Regelreserve deutlich: Weniger Kraftwerke müssten gebaut werden.

„Sollten Back-up-Kraftwerke notwendig sein, wäre es wünschenswert, dass diese im Rahmen eines wettbewerblichen Mechanismus bereitgestellt werden“, meint Joachim Bertsch, einer der Autoren der EWI-Studie. „Für diesen Mechanismus sollten alle geeigneten Technologien zugelassen werden. Dies beinhaltet auch DSM-Prozesse.“ Voraussetzung sei: Die vorgehaltene Kapazität, die auch anderen Zwecken dient, muss im Bedarfsfall sicher dem Strommarkt zur Verfügung stehen.

Strom in Chemieprodukte verwandeln

Strom in Chemieprodukte zu verwandeln (Power-to-Chemicals), sieht Andreas Friedrich vom DLR-Institut für Technische Thermodynamik als eine der möglichen Lösungen für die Probleme der Energiewende. „Sicherlich nicht die Lösung per se und keine Lösung für die nächsten Jahre: Das wird interessant, wenn der Anteil der Erneuerbaren weiter steigt“, so der Spezialist für Regenerativen Wasserstoff im Forschungsverbund Erneuerbare Energien. Technisch spreche wenig dagegen.

Doch der Mehraufwand müsste sich lohnen, sollten sich die Produktionsprozesse künftig nach der Wettervorhersage statt nach dem Kundenbedarf richten, meint Friedrich: „Man muss Speicherkapazitäten schaffen und die Produktion flexibel gestalten, zum Beispiel die Beschäftigten auch dann bezahlen, wenn die Produktion aufgrund einer Windflaute heruntergedrosselt wird. Mindestens das muss abgegolten werden. Dann wäre es sicherlich eine interessante Option für die chemische Industrie, um nebenher noch Einnahmen zu generieren.“

Wahrscheinlich liefe das wieder auf ein Umlagesystem hinaus: „Die offene Frage ist noch, welcher Weg die geringsten Zusatzkosten für die Allgemeinheit verursacht.“

Ein Beitrag von:

  • Matilda Jordanova-Duda

    Matilda Jordanova-Duda ist freie Autorin für Print, Radio und Onlinemedien. Ihre Themenschwerpunkte sind Existenzgründung und Mittelstand, Energiewende und Industrie 4.0. sowie Bildung und Migration.

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