EU-Chemikalienverordnung bietet selbst umstrittenen Substanzen eine Chance
2011 beginnt die Zulassung für besonders besorgniserregende Chemikalien. Firmen, die diese Stoffe nutzen, müssen belegen, dass sie diese immer sicher anwenden oder dass deren Nutzen für die Gesellschaft höher einzuschätzen ist als deren Nachteile – eine Chance, auch umstrittene Chemikalien weiter verwenden zu können.
„Wer zulassungspflichtige Stoffe weiter verwenden will, muss dies bei der EU-Chemikalienagentur Echa beantragen“, erklärte Elmar Böhlen Ende Oktober auf der Konferenz „Das A in Reach“ von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Die BAuA, die die Informationsplattform Reach HelpDesk der Bundesbehörden betreut, hat Details zur Zulassung vorgestellt (das „A“ steht für Authorisation, also Zulassung). Die BAuA ruft Unternehmen auf, sich aktiv am Zulassungsverfahren zu beteiligen und eigene Daten zu liefern. „Es ist auch wichtig, Reach-Dossiers genau zu prüfen“, ergänzte Volker Soballa von der Chemiefirma Evonik Degussa.
Ein Beispiel: Frankreich wollte 2008 Cyclododecan in die Kandidatenliste aufnehmen – diese Aufnahme ist der erste Schritt auf dem Weg zur Zulassung. Französische Behörden hatten dargelegt, dass die Substanz, die bei der Herstellung von Polyamiden genutzt wird, giftig und langlebig sei und sich in der Natur anreichere. Für solche PBT-Stoffe (persistent, bioakkumulativ, toxisch) ist das Zulassungsverfahren gedacht.
„Das Dossier enthielt aber Fehler und falsche Schlussfolgerungen“, erinnerte sich Soballa. Die Stoffmobilität im Boden wurde um den Faktor 10 zu hoch angegeben. Die Behörden hatten zudem computersimulierte Daten als Grundlage genommen, obwohl Studien zeigen, dass Cyclododecan weder für Algen noch für Fische giftig ist. Nach einem entsprechenden Hinweis von Evonik Degussa wurde der Stoff zurückgezogen. Soballa appelliert: „Kämpfen Sie um ihre Stoffe – kein Stoff sollte ungerechtfertigt auf der Kandidatenliste stehen.“
Die Kandidatenliste ist keine Verbotsliste. Aber sie beinhaltet eine Informationspflicht für den Handel: Konsumenten haben das Recht zu erfahren, ob Teddy, Teppich oder T-Shirt einen oder mehrere dieser Stoffe enthält. Aber anhand der Liste bestimmt die Echa die Stoffe für das Zulassungsverfahren.
Beim ersten Mal hatte die Echa sechs Stoffe gewählt: den Brandverzögerer Hexabromocyclododecan, den Duftstoff Moschusxylol, die Weichmacher Diethylhexylphthalat, Benzylbutylphthalat und Dibutylphthalat sowie Diaminodiphenylmethan. Die EU-Kommission ist damit einverstanden. Bis Anfang 2011 müssen Rat und EU-Parlament zustimmen. Dann laufen die Auslauffristen: 3,5 bis 4,5 Jahre können diese Stoffe weiter eingesetzt werden. Zulassungsanträge müssen 1,5 Jahre vor der jeweiligen Frist bei der Echa eingegangen sein.
Hersteller und Anwender können Zulassungsanträge stellen. Sie werden von zwei Echa-Ausschüssen bewertet. Die beantragten Ausnahmen können zudem auf der Echa-Webseite von jedermann kommentiert werden – auch von Herstellern von Ersatzstoffen. Ziel ist, dass die EU-Kommission auf einer breiten Informationsbasis entscheiden kann.
Firmen können auf zwei Wegen für eine Zulassung streiten. Sie können belegen, dass sie das Risiko für Mensch und Umwelt angemessen beherrschen dies eignet sich für Stoffe, die nur in der Wirtschaft eingesetzt werden. Oder sie können etwa in einer Kosten-Nutzen-Analyse zeigen, dass die Vorteile der weiteren Nutzung deren Nachteile überwiegen.
Solche sozioökonomischen Beurteilungen bieten der Chemieindustrie eine große Chance, glaubt die BAuA. Firmen können mögliche Produktivitätsverluste genauso einbringen wie die Folgen für Beschäftigte. Vernünftige sozioökonomische Beurteilungen können aber aufwendig sein, so Olaf Wirth vom Institut für Ökologie und Politik (Ökopol). Während etwa eine Chemiefirma das Verwendungsverbot eines Stoffes möglicherweise gut verkraften kann, können die Auswirkungen in der Lieferkette gravierend sein. RALPH AHRENS
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