Explosion in Leverkusen: „Risiken an allen Ecken und Enden in Deutschland“
Nach dem verheerenden Brand im Chempark in Leverkusen stellt sich die Frage: Wie sicher sind solche Anlagen? Störfall-Experte Christian Jochum gibt im Interview Antworten, die nachdenklich stimmen.
Die Bilanz nach der Explosion im Chempark in Leverkusen ist furchtbar: 31 Verletzte, fünf Tote, mehrere Vermisste. Und eine ganze Region war über Stunden in Angst und Schrecken versetzt. (Hier alle Infos zur Explosion in Leverkusen)
Wie konnte es zu dem Unfall kommen? Und wie sicher sind solche Anlagen, die oft inmitten dicht bebauter Wohnsiedlungen stehen? Christian Jochum ist einer der weltweit führenden Störfall-Experten, war über Jahrzehnte Leiter der Kommission für Anlagensicherheit. Im Interview gibt er Antworten, die durchaus nachdenklich machen.
ingenieur.de: Ein Blick auf Google Maps zeigt: Der Explosionsort im Chempark Leverkusen liegt unmittelbar an zwei wichtigen Autobahnen, an einem Klärwerk und weniger als einen Kilometer von der nächsten Wohnsiedlung entfernt. Ist das nicht völlig leichtsinnig?
Christian Jochum: Das ist ein ganz heißes Eisen für Chemieansiedlungen. Gerade in Deutschland waren typischerweise zuerst die Chemieanlagen da und dann kam erst die Wohnbebauung und die Infrastruktur. Grundsätzlich muss zwischen Standorten, die wie der Chempark der Störfallverordnung unterliegen, und Wohnsiedlungen sowie wichtigen Verkehrswegen ein Sicherheitsabstand gewährleistet sein. Bei einem normalen Tanklager gelten 200 Meter als ausreichender Sicherheitsabstand, in Leverkusen haben wir es aber mit gefährlichen Produktionsabfällen in den brennbaren Lösungsmitteln zu tun, da muss der Sicherheitsabstand angepasst werden. Meines Wissens hat das der Chempark in Zusammenarbeit mit der Stadt Leverkusen vor einigen Jahren gemacht. Wenn nun aber die Autobahn innerhalb dieses Sicherheitsabstandes liegt, heißt das nicht, dass sie stillgelegt werden muss. Da kann die zuständige Behörde sagen: Die ist so wichtig, dass wir dieses Zivilisationsrisiko in Kauf nehmen und die Autobahn im Notfall sperren. So ist es ja nach dem Unglück am Montag auch passiert. Die Vorschrift zu den Abständen zwischen Chemieanlagen und empfindlicher Bebauung stammt aus dem Jahr 2000 und deckte schon damals vorhandene Gegebenheiten nicht ab.
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Chemieanlagen sind tickende Zeitbomben
Das ist also eine tickende Zeitbombe, mit der wir als Gesellschaft leben müssen?
Ja. Das sind Risiken, die wir in Deutschland an allen Ecken und Enden haben. Das ist ein Problem. Die EU hat mit der 2000 umgesetzten Richtlinie auch die bestehenden Probleme angesprochen, aber das hat keinen rechtlichen Biss. Das wird Jahrzehnte dauern, bis es zu Entzerrungen in den riskanten Gebieten kommt. Einzige Möglichkeit: Wenn ein Chemiebetrieb seine Betriebsgenehmigung aus irgendeinem Grund ändern lassen muss, dann kann die Behörde fordern, dass der Betrieb weitergehende Sicherheitsmaßnahmen ergreift. Bis dahin muss man im Bewusstsein des Risikos im Falle eines Falles Maßnahmen vorhalten, so wie das am Dienstag meines Erachtens recht gut gelungen ist.
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Im Chempark hatte es eine Explosion in einem Tanklager gegeben. Da werden schnell Erinnerungen an die Katastrophe von Buncefield in Großbritannien wach: 2005 hatte es dort in einer Anlage eine gewaltige Explosion gegeben. Als damaliger Leiter der Kommission für Anlagensicherheit haben Sie an der Aufarbeitung mitgewirkt. Was ist damals passiert?
Buncefield war ein klassisches Mineralöl-Lager. Dort hatte man Tanks massiv überfüllt, dadurch ist Benzin in riesigen Mengen ausgetreten. In der Folge kam es zu einer heftigen Explosion und danach zu verheerenden Bränden.
Bewusstsein bei Betreibern schärfen
Buncefield gilt als größte Feuerkatastrophe Europas in Friedenszeiten. Was hat man bei der Aufarbeitung aus dem Unglück gelernt?
Wir haben die Abläufe und die Konsequenzen analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Sicherheitsmaßnahmen dort mit denen in Deutschland vergleichbar waren. Die Unterschiede liegen eher in der Umsetzung. Wir haben damals keine Anhaltspunkte dafür gefunden, dass Sicherheitsvorschriften geändert werden müssen, aber wir haben den Bedarf gesehen, das Bewusstsein bei Betreibern deutlich zu schärfen, dass es eben auch zu solch schweren Unfällen kommen kann. Damals war die vorherrschende Meinung, dass vornehmlich nur Brände einzelner Tanks zu befürchten sind. Deshalb stehen Tanks in sogenannten Tanktassen, die austretende brennbare Flüssigkeiten auffangen und ein Feuer so begrenzen sollen. In Buncefield haben wir gelernt, dass es aber eben manchmal auch zu schweren Explosionen kommen kann, die umliegende Tanks beschädigt und es dann zu einem extrem großen Brandgeschehen kommt.
Könnte das in Leverkusen ähnlich abgelaufen sein?
Was genau dort passiert ist, kann ich nicht sagen. Grundsätzlich ist es so, dass leicht entzündliche Flüssigkeiten immer ein Explosionsrisiko haben. In Leverkusen hat es offenbar zuerst eine Explosion gegeben, dann einen Brand. Man kann also vermuten, dass nach der Explosion dort auch weitere Tanks beschädigt wurden, die dann gebrannt haben. Die schwierige Frage ist jetzt: Was war in dem Rauch enthalten? Da spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle: Wie viel Sauerstoff war dabei? Hat der Brand bei sehr hohen Temperaturen stattgefunden? Man wird jetzt Rußproben analysieren und wahrscheinlich erst rückwirkend sagen können, was genau sich in diesem Brandgeschehen entwickelt hat und wie schädlich das war, wenn man es zum Beispiel eingeatmet hat.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe?
Gibt es beim Bau solcher Anlagen eine konkrete Risiko-Wahrscheinlichkeit, die unterschritten werden muss?
Das ist ein ganz großes Thema in der Community in Deutschland. Ich würde sagen: der gesamte Rest der Welt hat so etwas, Deutschland leider nicht. In den meisten anderen Ländern geht man probabilistisch an die Sache. Wie zum Beispiel beim Bau, wo jedes Bauteil nur eine bestimmte Versagenswahrscheinlichkeit haben darf. Hierzulande geht man den deterministischen Weg. Das heißt, man setzt für ein Risiko sozusagen die Wahrscheinlichkeit 1 und plant Maßnahmen, um dieses Risiko zu verhindern. Man kennt also nur Schwarz und Weiß.
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Warum geht Deutschland denn einen anderen Weg als der Rest der Welt?
Als das Thema in den 90er Jahren aufkam, hat die Industrie sich massiv dagegen gewehrt. Man wollte nicht, dass alles von einer bestimmten Zahl abhängt, anhand derer ein Genehmigungsbeamter entscheidet. Damals gab es massive Kritik vonseiten der Umweltverbände. Interessanterweise hat sich das später genau umgekehrt. In den 2000ern hat die Industrie gemerkt, dass es funktioniert, denn im Zuge der Globalisierung mussten die Unternehmen das im Ausland ja umsetzen. Jetzt ist allerdings die Position der Umweltorganisationen, dass ein solches Verfahren zu leicht manipulierbar ist. Bei der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten gibt es große Spielräume, die unter Umständen eben auch ausgenutzt werden können. Ich persönlich würde mir aber wünschen, dass man das probabilistische Prinzip zumindest als Ergänzung einführt. Das würde die Sicherheit erheblich erhöhen.
Wer trägt die Verantwortung für die Explosion in Leverkusen?
Noch laufen die Analysen, doch die Frage steht schon im Raum: Wer trägt die Verantwortung? Explosionsgefährdete Anlagen unterliegen laut der Betriebssicherheitsverordnung einer regelmäßigen Prüfung. In Deutschland gilt, dass der Betreiber grundsätzlich für die Sicherheit seiner technischen Anlagen verantwortlich ist. Mehr über die Verantwortung für explosionsgefährdete Anlagen lesen Sie hier.
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