22.01.2025, 08:00 Uhr

Wie PFAS aus dem Pizzakarton das Immunsystem schwächen

Die Ewigkeitschemikalien PFAS, die im Pizzakarton und in Papierverpackungen stecken, schwächen die Immunabwehr – vor allem bei Kindern. Infektionen häufen sich.

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Gefahr aus dem Pizzakarton: Die Ewigkeitschemikalien PFAS, die auch im Pizzakarton oder in Papierverpackungen stecken, beeinträchtigen die Infektabwehr. Weil die Wirkung von Chemikalien aufs Immunsystem in der EU nicht regulär geprüft wird, wurde das erst spät erkannt.

Foto: PantherMedia / stenkovlad

Journalisten haben sie „Ewigkeitschemikalien“ getauft: die PFAS, eine Gruppe von mehr als 10.000 Kohlenwasserstoffmolekülen, die per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen. Denn viele unter ihnen überdauern lange, teils etliche Jahre in der Umwelt und im menschlichen Körper. Das Kernproblem für den Menschen ist aber ein anderes: PFAS schwächen das Immunsystem. Sie setzen den Impfschutz bei Kindern herab. Infektionen werden häufiger.

Die Langlebigkeit und Giftigkeit sind die Hauptgründe, weshalb fünf verschiedene EU-Mitgliedstaaten Anfang 2023 einen Vorschlag zu einer umfassenden Regulierung sämtlicher PFAS gemacht haben. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass eine derart gewaltige Stoffgruppe auf einen Schlag beschränkt werden soll. Die Europäische Chemikalienagentur (Echa) wird den Vorstoß voraussichtlich bis 2027 bewerten.

Immuntoxische Effekte im Rahmen der EU-Verordnung Reach nicht systematisch geprüft

Vor gut zehn Jahren haben Forschende um den Umweltmediziner Philippe Grandjean von der University of Southern Denmark in Odense eher zufällig das Impfproblem mit den PFAS entdeckt. Ihnen fiel auf, dass die Gehalte an Perfluoroctansäure (PFOA) und Perfluoroctansulfonsäure (PFOS) mit weniger Antikörpern nach einer Impfung bei Kindern einhergingen. Den Behörden war bis dahin nichts dergleichen aufgefallen. Im Rahmen der EU-Chemikalienverordnung Reach werden immuntoxische Effekte nämlich nicht systematisch abgeprüft, wie Maria Uhl, Toxikologin vom österreichischen Umweltbundesamt in Wien berichtet.

Effekte auf die Körperabwehr von Neugeborenen und Kindern können bislang auch nur in Studien zutage treten, die mehr als eine Generation überspannen und deshalb lange dauern. Dafür werden rund 500 trächtige Ratten oder Mäuse der fraglichen Chemikalie ausgesetzt und dann die Vitalität des Nachwuchses untersucht. Diese aufwendigen Tierversuche sind nur bei Chemikalien, von denen jährlich mehr als 10 t hergestellt werden und bei denen es einen entsprechenden Verdacht auf ein Risiko gibt, gerechtfertigt, stellt Uhl klar.

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PFAS stecken in Bekleidung, Musikinstrumenten und im Pizzakarton

So wusste die Menschheit lange nichts – derweil die Sparte der per- und polyfluorierten Alkylverbindungen über die letzten 50 Jahre wuchs und wuchs. Die Organisation ChemSec bezifferte den Markt für PFAS 2022 auf 28 Mrd. $. Bekleidung, Musikinstrumente, Papierverpackungen, Skiwachs, Pflanzenschutzmittel – in einer unüberschaubaren und unbekannten Fülle an Produkten gelangen PFAS an den Menschen. Nicht einmal ihre Zahl ist genau bekannt. Schätzungen belaufen sich auf rund 10.000 Substanzen. Verwendet werden sie oft, weil sie sowohl wasser- als auch fettabweisend sind. Deshalb stecken sie beispielsweise auch im Pizzakarton. Bisher sind erst einige PFAS, darunter PFOA und PFOS, in der EU verboten oder ihre Verwendung eingeschränkt.

Doch diese beiden sind beileibe nicht die Einzigen, die die Immunabwehr unterdrücken. In einer im vergangenen Jahr publizierten Studie berichtet Uhl, dass PFOA und PFOS verglichen mit sechs weiteren PFAS eher am unteren Ende der Skala für Immunschädigung stehen. Namentlich PFDA (Perfluordecansäure), PFNA (Perfluornonansäure) und PFHxA (Perfluorhexansäure) wirkten stärker. „Das ist besonders problematisch, weil solche PFAS als Ersatzstoffe für die regulierten beiden eingesetzt wurden“, erklärt Uhl. Sie werden dann im schlechtesten Fall durch noch toxischere Substanzen ersetzt. Während die Gehalte der verbotenen Vertreter sinken, steigen vielfach die Gehalte anderer PFAS im Blut, Urin und in der Umwelt.

Vor allem bei Kindern unterdrücken Chemikalien aus der Gruppe der PFAS die Immunabwehr. Die Folge: mehr Infekte.

Foto: PantherMedia / Annems

PFAS verminderten Impfschutz gegen Röteln, Tetanus und Diphtherie

Vor über zehn Jahren gab es zunächst Zweifel, ob der verminderte Impfschutz bei Kindern ein Artefakt sei. Doch mittlerweile ist die Datenlage eindeutig: Zuletzt fasste eine Metaanalyse 14 Studien zusammen, die allesamt die Belastung mit fünf PFAS mit der Zahl der Antikörper nach Impfung in Beziehung setzten. Bei den Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Röteln schwanden die Antikörper, je mehr PFAS im Blut waren. Bei Röteln zeigte sich der Effekt in allen Altersgruppen, nicht nur bei Kindern.

„Auch wenn wir mehr Daten bei Kindern haben und ihr Immunsystem empfindlicher ist, weil es noch reift, treten die Effekte auf das Immunsystem auch bei Erwachsenen auf“, sagt Gunda Herberth, Umweltimmunologin am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. „Es ist definitiv nicht so, dass nur das Immunsystem von Kindern durch PFAS gestört wird.“

Neue Methode zum Test von Immunzellen ohne Tierversuche

Herberth hat eine neue Methode entwickelt, um die Wirkung der PFAS auf isolierte menschliche Immunzellen direkt im Labor zu testen – ganz ohne Tierversuche. „Solche Untersuchungen wurden bisher noch nicht gemacht“, sagt sie. 20 Stunden lang ließ sie einen Mix aus sechs unterschiedlichen PFAS in Zusammensetzungen und Mengen, wie sie in der Umwelt allgegenwärtig sind, auf die Zellen einwirken. Die PFAS dämpften signifikant die Aktivität der T-Zellen. Die stärksten Effekte beobachtete Herberth bei Mischungen der Ewigkeitschemikalien verglichen mit den Reinsubstanzen. Die schädlichen Wirkungen summieren sich wahrscheinlich auf, leitet sie daraus ab. Das wäre der Normalfall in der Toxikologie.

Gerade T-Zellen sind wichtig, um die Körperabwehr gegen Krankheitserreger zu aktivieren. Sie sorgen auch für die Produktion von Antikörpern, sodass es nicht verwundert, wenn durch PFAS geschwächte T-Zellen weniger Impfschutz bereitstellen. Dabei sind sie auch dafür verantwortlich, Krebszellen zu erkennen und zu beseitigen. „Es gibt die Sorge, dass PFAS deshalb indirekt Krebserkrankungen begünstigen könnten. Momentan stehen Belege dazu noch aus“, kommentiert die Epidemiologin Berit Granum vom Norwegian Institute of Public Health in Oslo.

Belastung von Kindern mit PFAS schon im Mutterleib

Infolge der PFAS bildeten die T-Zellen in Herberths Experimenten zudem weniger Botenstoffe, mit denen sie weitere Immunzellen herbeirufen. Empfindlich reagierte auch eine andere Kategorie von Immunzellen: Die MAIT-Zellen, die in den Schleimhäuten sitzen und dort die erste effektive Abwehr gegen eindringende Krankheitserreger übernehmen. PFAS könnten auf diese Weise anfälliger für Infekte machen.

Dazu passend weisen erste Studien nach, dass Kinder, die im Mutterleib hohen PFAS-Gehalten ausgesetzt sind, in den ersten Lebensjahren mehr Atemwegs- und Darminfekte erleiden, die sie sogar ins Krankenhaus bringen. Eine Verdoppelung der PFOS-Belastung ließ das Risiko um 54 % steigen. Bei PFOA war es ein Plus von 27 %. „Wenn das Level an PFAS höher ist, gibt es ein erhöhtes Risiko für Infektionen“, fasst Granum zusammen.

Auch beim Stillen gehen PFAS mit der Muttermilch auf das Kind über

Die Menschheit hat es vor allem dem dänische Umweltmediziner Philippe Grandjean von der University of Southern Denmark in Odense zu verdanken, dass die PFAS-Immunschwäche nun als Fakt, nicht mehr als Artefakt diskutiert wird. Seine Untersuchungen haben klargemacht, dass vor allem die PFAS-Belastung im Mutterleib dem Immunsystem der Kinder schadet. Ab der fünften Schwangerschaftswoche reift die Körperabwehr nach und nach aus. Und Grandjean war es auch, der nachwies, dass ein erheblicher Teil der PFAS beim Stillen mit der Muttermilch aus der Mutter in das Kind verfrachtet wird. Die Belastung der Bevölkerung mit den Ewigkeitschemikalien steigt gewöhnlich mit dem Alter sukzessive an. Das Stillen aber markiert einen Cut. Ein erheblicher Teil der langlebigen Schadstoffe wechselt dann von der Mutter in das Kind.

Das sorgt für ein Dilemma: „Muttermilch stellt eine ungeheuer wertvolle Nahrungsquelle für Säuglinge dar“, sagt Uhl. „Sie schützt aktiv vor Infektionen, weil sie viele Stoffe enthält, die anti-infektiös wirken, wie weiße Blutkörperchen, Immunglobuline und Wachstumsfaktoren.“ Stillen in den ersten sechs Monaten sei deshalb im Einklang mit der Weltgesundheitsorganisation unbedingt zu empfehlen. Doch der Schadstoffgehalt der Muttermilch müsse untersucht werden, als Handhabe, um gegebenenfalls Chemikalien zu beschränken oder zu verbieten, argumentiert Uhl. Und Frauen, die höher mit PFAS belastet sind, was im Umfeld von Fluorpolymerfabriken der Fall sein kann, empfiehlt sie eine umfassende umweltmedizinische Beratung.

Das Blut von knapp 2000 Jugendlichen wurde im Rahmen des EU-Projekts HBM4EU auf PFAS untersucht. Rund ein Viertel der Personen in West- und Nordeuropa hat von vier PFAS mehr im Blut, als die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde (Efsa) für unbedenklich erachtet.

Foto: PantherMedia / fotoquique

EU-Projekt untersuchte knapp 2000 Jugendliche auf PFAS

Wie relevant die Debatte ist, wird auch mit Blick auf die Belastungen der Bevölkerung deutlich. Im EU-Projekt HBM4EU wurden knapp 2000 Jugendliche auf ihre PFAS-Spiegel untersucht. Rund ein Viertel der Personen in West- und Nordeuropa hat von vier PFAS mehr im Blut, als die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde (Efsa) für unbedenklich erachtet. Sie hat für vier PFAS ein tägliches Aufnahmelimit von 4,4 ng/kg Körpergewicht festgelegt. Ausschlaggebend für diesen ausgesprochen niedrigen Grenzwert war im Übrigen die Schwächung des Immunsystems – von Neugeborenen, deren Mütter mit PFAS belastet waren.

„Erkrankungen, die mit einem fehlgeleiteten oder geschwächten Immunsystem zu tun haben, nehmen immer weiter zu: Krebs, Allergien, Multiple Sklerose und viele andere“, sagt Herberth. „Wir müssen uns dringend fragen, welchen Anteil Schadstoffe daran haben.“ Zumal PFAS nicht die einzigen Schadstoffe sind, die das Immunsystem dämpfen. Bisphenol A macht dies vermutlich ebenso. Nur deshalb senkte die Efsa 2023 das tägliche Limit um den Faktor 100.000 ab. Und alte Chemikalien, die lange verboten sind, aber immer noch in der Umwelt zirkulieren, etwa PCB, fahren die Körperabwehr ebenfalls herunter. „Tests auf Immuntoxizität sind dringend notwendig“, sagt Herberth. Auf EU-Ebene arbeiten Forschende und die Regulatoren mit hoher Priorität daran, weiß Uhl.

Tipps zur Reduzierung der PFAS-Belastung

Für Verbraucherinnen und Verbraucher gibt es unterdessen immerhin einige pauschale Tipps, um ihre eigene PFAS-Belastung zu reduzieren. Eine wichtige Quelle kann das Trinkwasser sein. Ist es höher belastet, kann es im Einzelfall ratsam sein, auf Mineralwasser umzusteigen. Problematisch ist daneben vor allem der Hausstaub, an den PFAS sich binden und den wir beim Essen und Einatmen aufnehmen. Philippe Grandjean rät daher, regelmäßig zu saugen und feucht zu wischen, um die Belastung zu reduzieren.

Und dann hilft noch ein einfacher Rat beim Einkaufen von Lebensmitteln: Je weniger Verpackung, desto unwahrscheinlicher wird es, dass PFAS aus Kontaktmaterialien ins Essen übergehen. Unverpackt ist deshalb sicherer.

Ein Beitrag von:

  • Susanne Donner

    Susanne Donner ist studierte Chemikerin und schreibt als Wirtschaftsjournalistin über Technik- und Medizinthemen u. a. für die Wirtschaftswoche, GEO, FAZ und ingenieur.de.

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