Digital-TV und die fehlenden Sekunden
Vorbei die Zeiten, da die Fernsehuhren überall gleich tickten und die Tore noch zur gleichen Zeit fielen. Heute bringen es nicht nur die verschiedenen Übertragungsarten und -wege auf unterschiedliche Laufzeiten, auch die verschiedenen Fernsehgeräte selbst sind unterschiedlich schnell. Faustregel: je besser das Bild, desto größer die Verzögerung.
Es ist immer das Gleiche – wenn im Fußball die Tore fallen oder bei der Silvesterfeier alle gespannt auf die Sekundenzeiger in den Fernsehern starren, gibt es immer öfter heftige Diskrepanzen: Bis 15 s können schon mal zwischen Ereignis und Erscheinen auf dem Bildschirm verstreichen. Live wird plötzlich dehnbar. Dumm nur, dass jede Übertragungsart zu unterschiedlichen Verzögerungen führt – und zu unterschiedlichen Neujahrsprostern oder Torjublern. Synchron kommen die Bilder schon lange nicht mehr auf die Schirme.
„Jeder Verbreitungsweg hat – bedingt durch andere Codierverfahren – unterschiedliche Signallaufzeiten. Wenn dann noch verschiedene Codier- und Modulationstechniken hintereinandergeschaltet sind, kommen die Fernsehbilder zwangsläufig zu unterschiedlichen Zeiten bei den Zuschauern an. Auch die Empfangsgeräte selbst sind nicht alle gleich schnell – manche brauchen zur Berechnung der endgültigen Bilder etwas länger. So schnell wie das analoge terrestrische Fernsehen wird keine digitale terrestrische Übertragungsart sein können“, erklärt Alexander Bereczky, Produktionsdirektor des ZDF. „Das Fernsehen sendet schließlich keine Normalzeit.“
„Es sind viele Komponenten, die zu unterschiedlichen Verzögerungen führen“, sagt Rainer Schäfer, Geschäftsfeldleiter Fernsehen beim Institut für Rundfunktechnik (IRT) in München. „Bei der reinen analogen Übertragung sind sie vernachlässigbar, doch kommt es bereits bei einer Satellitenstrecke mit Up- und Downlink zu einer Verzögerung von einer Viertel Sekunde.“
Dabei geht die Zuführung zu den terrestrischen Sendeanlagen für DVB-T heute kaum noch über Satellit, sondern über Hochgeschwindigkeitsnetze, also Glasfaserleitungen. Zeitaufwendig sind die vor der Übertragung anfallenden Rechenoperationen in den Fernsehsendern. So werden die Signale bereits an der Quelle, sprich im Studio, codiert. Aus dem ursprünglichen Studiosignal mit 270 Mbit/s für das Bild und 1,4 Mbit/s für den Ton werden für das Standardfernsehen, sprich für PAL-Qualität, zusammen 2,5 Mbit/s bis 4 Mbit/s. „Da sich dann für DVB-T bis zu vier Programme einen Fernsehkanal teilen müssen, bekommt jede Sendung unterschiedliche Datenraten zugebilligt“, so Schäfer. Bei einem schnellen Fußballspiel werden eben mehr Daten benötigt als bei einem gemütlichen Zeichentrickfilm. „Durch dieses sogenannte statische Multiplexing kann es zu Verzögerungen von 2,5 s bis 4 s kommen“, so Schäfer. Die heutigen Codier- und Decodiertechniken sind freilich schneller, doch werden die erst allmählich in die Sender eingebaut.
In Stuttgart und Leipzig/Halle wird die Terrestrik durch RTL noch stärker gefordert – mit dem Codierverfahren MPEG-4. Damit lassen sich sechs PAL-Programme in einem TV-Kanal übertragen. Diese deutlich effizientere Codiertechnik und ein noch komplexeres Multiplexing bringen aber auch mehr Zeitverzögerung – 3 s bis 6 s nennen Experten.
Große Unterschiede gibt es auch beim Kabel. Noch immer spielt da die analoge Technik eine wichtige Rolle. Da die Broadcaster kaum noch solche Signale abgeben, müssen sie für die Satelliten- und Kabelübertragung erst neu generiert werden. „Für das ZDF-Hauptprogramm geschieht das in Betzdorf mit einem PALplus-Encoder. Zusammen mit der Satellitenlaufzeit kommt man da auf 600 ms“, erklärt Bernhard Gronerad von der ZDF-Programmverbreitung.
Dabei brauchen alle Signale für den Weg in den geostationären Orbit und zurück rund 0,25 s – um mit Lichtgeschwindigkeit die Strecke von zweimal 36 000 km zu überwinden. Noch werden vom Satelliten drei Übertragungsarten bedient – analog, digitales Standard- und hochauflösendes Fernsehen. Am 30. April 2012 soll sich das ändern – analog wird dann auch auf dem Satellitenweg abgeschaltet. Was bleibt, ist kapazitätssparende, aber rechenintensivere und bildqualitätsschonende Digitaltechnik.
„Wenn dann das Signal von der digitalen in die analoge Welt gewandelt werden muss, weil alle Kabelnetzbetreiber noch auf Jahre hinaus mindestens zwölf bis 16 PAL-Programme liefern müssen, kommt das analoge Bild noch etwas später als das digitale beim Zuschauer an“, meinte Fred Hübner, Geschäftsführer der GSS Grundig Sat Systems und Vorsitzender des Vorstands der AG SAT, am Rande eines Fachpressegesprächs des ZVEI Fachverbandes Satellit & Kabel in Rostock. Übrigens wurde so auch deutlich, dass aus industrieller Sicht gar nichts gegen eine Re-Analogisierung einzuwenden sei – schließlich verspricht das Festhalten an alter Empfangstechnik neue Umsätze bei der dann erforderlichen hybriden Zuführung bis in die Haushalte.
Cisco Systems, ebenfalls einer der bekannten Kopfstellenausrüster, geht für digitales Standardfernsehen von Ende-zu-Ende-Laufzeiten von 2,5 s aus. „Bei konstanten Bitraten“, erklärt Tahar Hida, Systemingenieur des Unternehmens. „Mit statistischem Multiplex, also variablen Bit-
raten, sind es etwa 4 s.“ Stolz fügt er hinzu: „Bei H.264 für HDTV sind wir aber etwas schneller – und unterscheiden uns da auch vom Wettbewerb.“ Die Decoder in den Fernsehern und Settop-Boxen brauchen heute laut Loewe zwischen 100 ms und 200 ms, etwa gleich für MPEG-2 und H.264 (MPEG-4). „Doch das hängt von der Anwendung ab. Eine bewegungskompensierte Framerate-Umrechnung (Conversion) braucht etwas länger“, erklärt Uwe Bach, Leiter Technologie und Konzeptentwicklung bei Loewe. „Auf der Gesamtstrecke von Kamera bis Empfänger kann der Unterschied zwischen SD- und HD-Wiedergabe durchaus bis 3 s ausmachen.“
Dabei bleibt eine Verzögerung unberücksichtigt – die der Aufnahme. Auch die Kamera nebst der nachfolgenden Signalverarbeitung braucht ihre Zeit – ebenso wie der Transport der Signale über die Kontinente und Weltmeere hinweg. Nur sind diese Verzögerungen in der Regel für alle gleich. RAINER BÜCKEN
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